• Keine Ergebnisse gefunden

Wir gehen hier zunächst auf die Problematik von methodischer Evaluation generell ein.

Die klassische Methodenkritik, die oft um die alte Frage nach der Prioritätensetzung auf Persönlichkeit oder Methode kreist (Tenorth 1988) und neuerdings um die Frage nach der Prioritätensetzung auf Alltag oder Methode (Grunwald & Thiersch 2001, S. 1136), kann zu einem bewussteren Umgang mit dem Begriff der Selbstevaluation führen bzw. auch die Grenzen der Methode aufzeigen.

Versuchen wir, Selbstevaluation in ihrer Grundfunktion im alltäglichen Leben zu begreifen, sie auf ihre einfachsten Elemente zurückzuführen und zu fragen, ob wir die methodischen Aspekte der oben schon vorgestellten Definition dort wiederfinden bzw. in welcher Form.

Wir bewerten immer schon „irgendwie“ die Qualität einer Sache oder eines Sachverhaltes.

Selbstevaluation in einem alltäglichen Sinne zielt zentral, wenn nicht auf Verbesserung, so doch zunächst zumindest auf die Feststellung und Bewertung von Qualität ab. Im Alltag geschieht dies ständig, wir sind uns aber in der Regel weder der Kriterien und Indikatoren noch der möglichen Subjektivität oder geringen Verallgemeinerbarkeit derselben explizit bewusst. Dies ist im Alltag auch nicht nötig: Unsere Entscheidungs- und Bewertungsgrundlagen sind in der Regel, solange es nur um eine Tätigkeit für uns selbst geht, subjektiv bestimmt, und unsere Bewertungen geschehen oft nicht einmal reflexiv, sondern gehen habitualisiert von unseren Empfindungen zu einer Sache aus. Deutlich wird dies auch zum Beispiel in alltagsnahen Berufsvollzügen im traditionellen Handwerk: Zu jedem Arbeitsvollzug gehört dort ein Bewertungsvorgang, der immer schon habituell eingeübt ist, sodass er ohne reflexives Bewusstsein abläuft. Bewusst wird der Vorgang nur im Prozess des Anlernens von Lehrlingen, bei der Fehleranalyse oder durch die Bewertung der Arbeit durch Kunden.

In sozialen Beziehungen und Sozialer Arbeit in traditionellen Gesellschaften ist dies grundsätzlich nicht anders. Je stärker die Tradition, desto schwächer die Reflexion. Ein internalisiertes Alltagsethos ist aber spätestens seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts immer weniger als alleiniges Steuerungsmedium ausreichend, besonders bedingt durch die gesellschaftliche Entwicklung zur Individualisierung (hierzu Beck 1986). Die Referenz des Man macht das so ist in der Neuzeit zunehmend abgelöst worden von der Frage Was will ich?

– „Wie ist es für mich?“ ist spontan wohl der erste Modus der Frage nach der Qualität einer Sache, gerade wenn es um die Qualität sozialer Sachverhalte geht.

Erst auf einer ethisch allgemeinen und methodisch reflektierten Stufe, die man im Beruf professionell nennt, fragen wir danach, wie eine Sache oder ein Sachverhalt an sich und für sich selbst zu bewerten ist. Wir fragen, wie er seiner situativen und allgemeinen Bestimmung nach eigentlich sein soll, bis hin zur philosophisch-phänomenologischen Frage, was das Wesen eines Phänomens ist, etwa was unter einem „guten Leben“ allgemein zu verstehen sei.

Erst hier taucht eine objektiv-abstrakte Ebene der Betrachtung auf und kommen Bewertungsmaßstäbe im Sinne eines Ideales, einer Norm oder eines allgemeinen Prinzips in den Blick. Dies sind Bewertungsmaßstäbe, die eine objektivierte Referenz eines möglichen Konsenses einführen, diesen selbst aber noch nicht ersetzen können, weil er noch praktisch ausgehandelt werden muss (Thiersch 1995, S. 11ff.; Brumlik 1992, 204ff). Bei aller normativen Reflexion bleiben so aber subjektive Differenzen, bedingt durch die immer noch bestehenden unterschiedlichen Subjektperspektiven, bedingt durch unterschiedliche Persönlichkeitsstile bzw. Charaktere und Entwicklungsniveaus der Menschen. Diese können wegen der notwendigen zeitlichen Begrenztheit sprachlicher Diskurse prinzipiell nur kontrafaktisch gewürdigt werden (Habermas 1983, S.127ff).

Die subjektiven Bewertungsdifferenzen finden sich auch in einem Diskurs, der klassisch durch die Philosophische Ethik geführt wurde, und bekanntlich gibt es bis heute keine letztbegründete Antwort zur Frage, was denn das „gute Leben“ im Allgemeinen sei, an dem man die Qualitäten des einzelnen Lebens dann orientieren bzw. ableiten könne (Thiersch 1987, S. 15-34). Doch Wert- und Normfragen werden wieder diskutiert, auch als Tugendethik. Neuerdings hat Micha Brumlik Tugenden wie Gerechtigkeit, Mut, Maß, Hoffnung, Glaube und Liebe wieder in ihrer Gesamtheit (allerdings ohne die Klugheit) entdeckt, die lange Zeit gegenüber dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit als dem Kardinalwert Sozialer Arbeit etwas in den Hintergrund gerückt waren. Die Präferenz für Gerechtigkeit war vor dem Hintergrund der Armut als zentraler Ursache von Benachteiligung verständlich. Eine Stärkung der Personenkompetenz dürfte aber mit Zuteilungsgerechtigkeit alleine nicht zu machen sein, und so sind Tugenden wie etwa Mut, Maß und Hoffnung nach Brumlik durchaus wieder in den ethischen Horizont Sozialer Arbeit zu stellen, für die Profession und als Erziehungs- und Bildungsziel für Klienten (Brumlik 2002, 115 ff). Sofern die alte Tugendlehre überhaupt noch thematisiert wurde, wurde sie es seit den 60er Jahren eher als für die Sozialarbeit problematische „bürgerliche“ Tugenden (zur Berufsethik:

Eisenmann 2006, S. 208ff). Dass es sich hier nicht nur um eine akademische Diskussion

handelt, kann man an dem Titel, aber auch am überzeugenden Gebrauch des Begriffes Hoffnung in einem neueren Methodenbuch über sozialpädagogische Familienhilfe erkennen:

„Wo keine Hoffnung ist, da muss man sie erfinden“ (Conen 2004).

Die Fragen des richtigen und guten Lebens wurden in der Tradition fast ausschließlich von der Religion, aber auch von der Allgemeinen Pädagogik (etwa Bollnow 2001, 2009) und heute in der Praxis der Sozialen Arbeit nicht selten psychologisch beantwortet, was Hans Thiersch als „eine Verkürzung von Selbstbestimmung, die sich nur als psychische Selbstaufklärung praktiziert“ bezeichnet (Thiersch 1987, S. 25). Die eigentlich zuständige Teildisziplin, die praktische Philosophie, blieb im Raum der alten universitären Pädagogik, kommt aber mit Tugendreflexionen wie denen von Brumlik oder mit der Rezeption von Nietzsches Moralkritik durch Christian Niemeyer wieder in die Soziale Arbeit zurück (Niemeyer 2007). Ob die Soziale Arbeit und deren Selbstbewertung ohne Referenz auf diesen Wissensbestand der Philosophischen Ethik auskommt, gerade angesichts der sich in den Vordergrund stellenden ökonomischen Fragen, diese Frage stellt sich immer mehr (Müller 1987, S. 35-58).

Die Möglichkeit der Selbstevaluation ist so nicht nur eine Frage nach der angemessenen und richtigen methodischen Implementation, sondern auch nach den Wertreferenzen des Berufs.

Aber die Wertedimension sollte nicht reduziert werden etwa auf persönliche politische und fiskalisch-ökonomische Optionen oder auf ethische Implikationen therapeutischer Zusatzausbildungen, sondern geschult sein an den Maßstäben philosophischer Ethik, deren Wissensbestände nach wie vor als Reflexionsfolie für ethische Fragen erste Wahl sein sollten.

Die geschriebene Berufsethik muss durch Reflexionsschulung vermittelt werden. Christian Niemeyer etwa fordert eine Schulung der Sozialpädagogik an den ethischen Reflexionen Friedrich Nietzsches (Niemeyer 2007).

Selbstevaluation lebt einerseits methodisch von Anleihen aus der wissenschaftlichen Evaluation und deren Standards. Sie ist aber phänomenologisch schon immer menschlicher Praxis immanent als mindestens implizites Bewertungsverhalten menschlichen Handelns.

Selbstevaluation als methodisches Programm ist angewiesen auf explizite Bewertungskriterien und ein diese begründendes Bewertungswissen, das nicht schon ohne Weiteres zum Berufswissen der letzten Jahrzehnte gehört. Über die Frage nach der Gerechtigkeit hinaus sollte sie (etwa mit Micha Brumlik) auch die Frage nach dem guten Leben stellen, will sie eine historisch bedingte Vernachlässigung ethischer Fragen überwinden (Thiersch 1987).

Wenn man vom Standpunkt des Alltagsethos ausgeht, können im Blick auf methodische Bewertungen zwei Fragen gestellt werden:

1. Bewerten wir nicht schon immer unser Tun in einem ganzheitlichen Sinne intuitiv und erfassen gerade dadurch alle wichtigen Kriterien für eine sinnorientierte und kontextorientierte Bewertung?

2. Führt nicht die Methodisierung, für die ja auch die methodische Selbstevaluation steht, notwendig zu einer reduzierten Betrachtung der Alltagswirklichkeit und letztlich zu einer Art reduktionistisch erfolgsorientierter Sozialtechnologie? Wird hierdurch nicht die Ökonomisierung und Expertokratisierung, denen die Profession traditionell nicht nur unbegründet auch kritisch abwehrend gegenübersteht, gerade wieder befördert (Müller 1996; Wilken 2000, S. 11ff)?

Die in den Fragen formulierte Kritik gegen Methode greift zu kurz, wie wir in den folgenden Ausführungen über Maßstäbe von Qualität zu zeigen versuchen. Soziale Arbeit ist eben nicht nur dem Alltagsethos verpflichtet, sondern auch einer voraussetzungsreichen Berufsethik, die einen Begriff von professioneller Qualität und Methode benötigt.

Der klassische Maßstab von Praxis fand sich im Ethos, das im Alltag unhinterfragt galt, aber auf berufsethische Fragen wegen ihrer Besonderheiten nur bedingt oder keine Antwort wusste. Nicht umsonst bemühten sich die klassischen Pioniere der Sozialen Arbeit, wie etwa Alice Salomon, um ein Berufsethos, weil schon sie feststellte, dass mit dem Alltagsethos alleine kein Beruf zu machen ist, schon gar nicht ein Beruf, der sich anschickt, eine Methodenlehre zu etablieren, die durch ihre Interventionsmöglichkeiten spezifische ethisch relevante Probleme impliziert und induziert. Wegen ihrer begrenzten Typisierbarkeit sollten praktische Fragen der Sozialen Arbeit nicht alleine methodisch, sondern immer auch ethisch beantwortet werden. Es war lange Zeit nicht selbstverständlich, dass das Professionswissen eine Berufsethik mitführt, wie dies neuerdings wieder verstärkt gefordert wird und auch zu finden ist (Thiersch 1986 und 1995; Heiner 2007, S. 169-184; Bernasconi 2007, S. 189ff und 262ff).

Berufsethik war immer wieder problematisch geworden durch unreflektierte ideologische Referenzen, insbesondere der Religion, und brauchte deshalb eine begriffliche Orientierung an den Spezifika des Berufes. Berufsethik braucht nicht nur eine philosophische Reflexion, sie braucht auch eine methodische Verankerung bzw. einen methodischen Anschluss an die Praxis, will sie nicht in gesinnungsethischen Postulaten stehen bleiben. Es erscheint nicht sinnvoll, Berufsethik und Evaluation etwa als Steuerungsalternativen des Handelns zu sehen.

Die praktischen Wirkungen von Haltungen und Gesinnungen sind vielmehr über ständige Evaluation zu überprüfen.

Maja Heiner zeigt durch ihre Untersuchung zu professionellen Haltungen deutlich auf, wie nötig das Bewusstmachen von persönlichen Grundhaltungen ist, weil diese im Beruf zu bestimmten Arbeitsstrategien werden können (Heiner 2004, S. 84ff). Selbstevaluation kann zur Reflexion dieser beruflichen Haltungen beitragen, etwa in Verbindung mit Supervision, die dann nötige nachhaltige Selbstlernprozesse gestalten kann. Auch so gesehen wäre die Professionalisierung von Selbstevaluation ein notwendiger methodischer Schritt zur Professionalisierung des Berufs überhaupt und nicht eine zusätzliche zeitraubende Methode.

Der Preis des Unterlassens ist mindestens partielle Unprofessionalität – und dies an einer empfindlichen Stelle.