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Zu Theorieformen und Theorieebenen:

2.4 Selbstreflexive Praxis der Heimerziehung

2.4.1 Historische Aspekte der Reflexionskultur in Heimen

Die alte, überwiegend klerikal bestimmte Tradition der Reflexion in der Heimerziehung praktizierte den moralischen Diskurs, orientiert an der Sündenkasuistik, mit dem Ziel eines moralischen Urteils. Dies bezog sich nicht nur auf die damals so genannten Zöglinge, sondern durchaus auch auf die Erzieher. Hierzu ist wichtig: Bis vor 50 Jahren waren achtzig Prozent der Heime in kirchlicher Trägerschaft und beeinflusst von Ordensfrauen und Ordensmännern, die einen großen Teil des Personals stellten und hier auch in der Regel die leitenden Positionen innehatten. (Wendt 1985, S. 70-90; Röper 1974, S. 241ff).

Institution und Organisation der Erziehung waren theoretisch-reflexiv kaum im Blick. Die Gruppennorm, die Abweichung und der Gehorsam oder Ungehorsam des Zöglings bestimmten den pädagogischen Fokus. Die Institution als funktionale Raumdifferenzierung implizierte immer auch schon die Regel. Das Haus, die Räume, die Themen und die Zeiten hatten eine feste Ordnung, die eine unverrückbar gültig erscheinende Orientierung für Zögling und Erzieher darstellte. Die Pädagogik war so überwiegend unhinterfragt normativ vorgegeben. In den Heimen wurde dieses auch in der damaligen Gesellschaft weitgehend gültige Erziehungsmodell besonders perfektioniert durch klösterlich-asketische Strenge, die sich aber von ihrer ursprünglichen spirituellen Intention einer religiösen Praxis gelöst hatte und nicht selten zur bloßen Disziplinierung erstarrt war (Röper 1974, S. 212ff).

Diese auf hierarchische und starre Normen eingeschworene personelle Organisation, eine Erziehergemeinschaft, die nicht vom Subjekt, sondern von der Norm aus dachte, wurde kritisch reflektiert als Totale Institution und in Deutschland in ersten Anläufen in der Weimarer Zeit und dann tiefgehender in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts reformiert (Goffmann 1973, 13ff; Münchmeier 1999, S. 141-151; IGFH 1977, S.

I-XXX; IGfH 2000, S. 28-73).

Es gibt heute zwar noch einige Großheime, die äußerlich den alten Heimen ähneln. Der Lebens- und Erziehungsprozess ist jedoch gänzlich anders gestaltet. Wenn auch heute noch von Machtprozessen in der Heimerziehung die Rede ist, so sind hier die Themen und die Maßstäbe völlig andere. Im Gegenteil dreht sich die Machtbalance manchmal um, wie jeder

Heimerzieher zu berichten weiß und was die Reflexion von Erziehungsprozessen in ihren außerordentlich komplexen Dynamiken nicht leichter macht (siehe hierzu Schwabe 2008).

Schon Janusz Korzcak wusste von der Erziehung des Erziehers durch das Kind zu berichten und spätestens in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde durch die Diskussion um das Helfersyndrom die Dialektik des Erziehungsprozesses, auch mit seiner Komponente Erzieherverhalten, kritisch in den Blick genommen wie wohl selten vorher (als Überblick:

Hast, Schlippert, Schröter, Sobiech & Teuber 2003; Knut u.a. 2006).

So war die Möglichkeit der Reflexion der Arbeit über den Gegenstand bloßer Normabweichung hinaus erst mit dem Abschied von der Totalen Institution und deren immanenter Ethik und Moral gegeben, die das Alltagsleben als weitgehend unreflektiertes Ethos bestimmte. Die letzten 30 Jahre hat eine Entwicklung zu einer sehr ausdifferenzierten Heimerziehung stattgefunden. Einen guten Überblick über die Praxis der neueren Heimerziehung geben Werner Freigang und Klaus Wolf (Freigang & Wolf 2001).

Es hat sich seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Reflexionskultur in der Breite der Heimerziehung durchgesetzt mit u. a. folgenden geforderten, jedoch noch nicht in allen Praxen ausreichend realisierten Standards:

• Reflexion auf den idealen erzieherischen Ort für das einzelne Kind

• Regelmäßige Reflexion von Erziehungszielen und Erziehungsaufgaben, orientiert an den diagnostisch erhobenen Bedürfnissen und Möglichkeiten des Kindes bzw.

Jugendlichen

• Beteiligung und Mitbestimmung der Heimkinder durch dialogische Zielfindungsprozesse

• Reflexion der Hemmnisse und der Auffälligkeiten des Kindes oder Jugendlichen auf der Basis der Erkenntnisse der modernen Psychologie, Soziologie und Pädagogik

• Reflexion des pädagogischen Bezugs zwischen dem Erzieher und dem jungen Menschen

• Reflexion der Gruppendynamik

• Reflexion der Beziehung zur Herkunftsfamilie und der Möglichkeit der Rückführung

• Reflexion des pädagogischen Milieus des Heimes als Erziehungsfeld in seinen intentionalen und funktionalen Wirkfaktoren

• Reflexion des Helfersystems bzw. der Helfersystemdynamik

(zur Praxis: Freigang & Wolf 2001; darin zum theoretischen Diskurs: S. 21-38;

Gabriel & Winkler 2003).

Folgende Entwicklungen dürften zentral sein für den Fortschritt der letzten 30 Jahre:

• Die methodische Betrachtung des Einzelfalls im Kontext von Familie und Gruppen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive,

• ein gruppendynamisches Verständnis für Gruppenprozesse und die Reduktion der Gruppengrößen,

• die bewusste Entwicklung eines pädagogisch-therapeutischen Milieus,

• ausgehend von einer bewussten Wahrnehmung des Alltags in seiner erziehenden Funktion: das systemische Paradigma zur Analyse und zur bewussten Steuerung komplexer Systeme, wie sie die Heimerziehung insgesamt, aber auch ihre Substrukturen darstellen,

• die Akademisierung der Ausbildung und die zunehmende Professionalisierung der Sozialen Arbeit,

• Supervision, Fachberatung, Fortbildung und Evaluation als Unterstützung der Praxis,

• die Entdeckung der Rechte des Kindes in der Heimerziehung.

Die hier aufgeführten Verbesserungen sind in manchen Punkten nur zum Teil in die Praxis umgesetzt. Dennoch sind sie in der Jugendhilfepraxis unwidersprochen verbindliches konzeptionelles Programm, dessen Umsetzung von den Finanzierern und Managern der Leistung, den Jugendämtern, grundsätzlich erwartet und eingefordert wird. Dem steht entgegen, dass die Finanzierung der Heimerziehung in den letzten 10 Jahren den benannten Qualitätsansprüchen nicht folgt. Die Betreuungsschlüssel wurden teilweise wieder verschlechtert, heiminterne psychologische Sonderdienste gestrichen. Supervision wurde weitgehend beibehalten, weil sie allgemein als Qualitätsmerkmal gilt und die Mitarbeiterführung erleichtert. Der Anspruch der Qualitätsentwicklung wird gestellt, aber nicht finanziert. Qualitätsentwicklung geschieht so nicht selten durch Reduktion auf das gewünschte Image sehr formal und minimiert auf die quantitative Dimension.

2.4.2 Entwicklungen und neuere Probleme der Reflexionskultur

Die erkenntnismethodische Reflexion wurde auf sozialwissenschaftlicher Grundlage in der Disziplin in den ersten Jahrzehnten der Akademisierung intensiv und nicht wenig kontrovers geführt, wie oben schon rekonstruiert wurde. Gleichwohl stehen wir vor dem Phänomen eines vielerorts beklagten Mangels an Professionalität in der Praxis, was zwar für die Soziale Arbeit insgesamt gilt, jedoch für die Heimerziehung durch ihre immer schon leichte Skandalisierbarkeit bis heute eine besondere Brisanz bedeutet. Trotz der Differenzierung und Öffnung der Institution hat sie, wenn auch deutlich verändert, immer noch den Charakter eines relativ geschlossenen Systems. Entscheidender ist aber vielleicht, dass Heimerziehung wie kaum ein anderer Bereich Sozialer Arbeit faktisch die Gesamtverantwortung für die Erziehung der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen trägt. Heimerziehung tritt stellvertretend die erzieherische Aufgabe der Eltern an und greift so in die Lebenswelt der Adressaten, alle Lebensvollzüge betreffend, auf jeweils längere Zeit umfassend ein.

Die oben benannten Innovationen der Heimerziehung wurden zu einem großen Teil nicht ursprünglich durch die eigene Profession entwickelt, sie kamen meistenteils von außen. Die

aus gruppentherapeutischen Kontexten. Die Perspektive auf die Organisation, Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung wurde aus der soziologischen Institutionentheorie und der Industrie importiert. Selbst die systemische Familienberatung, die eine Nähe zum traditionellen sozialarbeiterischen Denken hat, ist stark überfremdet worden durch die manchmal zu bruchlose Rezeption der soziologischen Systemtheorie. Der Import von Methoden kann aber leicht scheitern, wenn es weder eine theoretisch noch praktisch ausreichend formulierte und habitualisierte Identität gibt, von der aus Methoden dem eigenen Bedarf angepasst werden können oder/und diese selbst in eigener Praxis weiterentwickelt oder zuallererst entwickelt und systematisch erprobt werden können. Auch wissenschaftlich angeleitete Praxisentwicklung und Praxisforschung läuft über weite Strecken letztlich leer, wenn eine anschlussfähige Kernprofessionalität fehlt (Moser 1995, S. 33-57).

Erst in den letzten 15 Jahren bildet sich langsam eine Kernprofessionalität bzw. eine fachliche Identität heraus, die Mut macht, neben der schon seit den 70er Jahren breit etablierten und bewährten Supervision eine zweite methodenbasierte Reflexionsebene in der Breite einzuführen (siehe hierzu Stimmer 2006, S. 210-222). Die Selbstevaluation bietet die methodische Möglichkeit, nicht nur die Qualitätsentwicklung voranzutreiben, sondern auch Methoden zu testen, zu evaluieren im Sinne einer experimentierenden Evaluation als Selbstevaluation und so auch professionseigene Konzepte passgenau für die spezifischen Arbeitsfelder zu entwickeln (Kähler 2006, S. 3-12; König 2006, S. 13-20).

„Professionelles Handeln verlangt eine kontinuierliche Reflexion der Ziele, Werte und Konsequenzen beruflichen Handelns auf der Basis wissenschaftlichen Wissens, eigener Erfahrungen und kodifizierter beruflicher Standards, die im Diskurs mit Kollegen und außenstehenden Beratern konkretisiert und dabei ständig überprüft werden müssen“ (Heiner 2007 S. 185).

Die Fragilität und Störanfälligkeit der sozialen Beziehungen in der Sozialen Arbeit, sei es als kollegiale Teamarbeitsbeziehung oder als pädagogische Beziehung, bedürfen einer supervisorischen Begleitung und Beratung. Dass dies gut möglich ist, beweist der inzwischen mindestens in der Heimerziehung flächendeckende Einsatz von Supervision.

Nun steht besonders die Jugendhilfe seit mindestens 15 Jahren vor einer neuen Herausforderung, nämlich einer zunehmenden Ökonomisierung der Sozialen Bereiche unserer Gesellschaft. Damit kommt der Beruf in eine Situation, Systeme des Qualitätsmanagements einführen zu müssen, die nicht zwingend an die schon auf den Weg gebrachten Reflexionssysteme und oben genannten professionellen Prinzipien anschließen, sondern die noch fragile, aber sich abzeichnende Professionalität durch nicht passende Importe bis auf das

Fundament beschädigen können (Thiersch 2002, S. 20f). Umso mehr ist ein Blick auf die bestehende Reflexionsstruktur nötig und die Frage zu stellen, ob sie schon Anschlüsse für Selbstevaluation bieten.

2.4.3 Schritte und Orte der Reflexion

Bleiben wir bei der Möglichkeit, die Selbstreflexion in der Heimerziehung nicht nur im Horizont kategorial logisch konstruierten Wissensmanagements darzustellen, wie es im vorigen Abschnitt 2.2 ansatzweise versucht wurde, sondern im Alltag aufzuzeigen als idealtypisches einrichtungsinternes Kommunikationssystem mit Anschluss an die Jugendhilfestruktur der jeweiligen Region. Man kann formulieren: Die Orte, die Methoden und die Personen dafür sind vorhanden, weniger aber die wirksame Mindeststruktur an zielorientierter Kommunikation, die nötig wäre, um das Feld der oben aufgezeigten theoretischen Landkarte wirklich ausreichend zu bestellen. Es scheint so, als ob alle formalen Voraussetzungen zwar gegeben wären, aber die Entwicklung der Sprache der Fachkräfte als professionelle Sprache, der Sprung zu dem nötigen professionellen Habitus und die konsequente Umsetzung der methodisch bereitliegenden Möglichkeiten noch nicht gelingt.

Nicht selten ist die Entwicklung der Professionalität in Einrichtungen als Qualitätsentwicklung eine Gewährleistung „organisierter Selbstberuhigung in unruhigen Zeiten“, wie Merchel Kühl zitiert (Merchel 2005, S. 195).

Hier soll schon in einer Skizze eine idealtypische Praxisreflexionsstruktur und deren Topologie aufgezeigt werden:

Reflexionsprozessschritte, die für eine Selbstevaluation fallbezogen und konzeptbezogen nötig sind und formal auch schon möglich wären bzw. in der Hilfeplansystematik und der Qualitätsentwicklungssystematik des KJHG mindestens implizit vorgesehen sind:

(1) Zielreflexion (2) Kriterienreflexion (3) Aufgabenreflexion (4) Dokumentation

(5) Prozess- und Ergebnisreflexion (6) Qualitäts- und Konzeptreflexion

Orte der Reflexion:

(1) Dienstübergabe

(2) Tages- und Wochendokumentation (3) Dienst- bzw. Teamgespräche (4) Fallbesprechungen

(5) Entwicklungsberichte

(6) Hilfeplangespräche und Erziehungsplangespräche (7) Supervision

(8) Selbstevaluation (9) Qualitätszirkel

Wenn wir über die Möglichkeit reflektieren, im aufgezeigten mehr oder weniger vorhandenen System der Reflexion Selbstevaluation zu etablieren, so müssen wir auch immer wieder die Hindernisse sehen, die mit der Tradition, aber auch mit neueren ökonomischen Vorgaben zu tun haben:

Zeit und Raum sind in der Heimerziehung knapp. Das auf den Alltag hin konstruierte und fixierte System Heimerziehung hat traditionell wenig Raum und Zeit für Reflexion im anspruchsvolleren professionellen Sinne vorgesehen. Wie oben dargestellt, steht die alltagsbezogene Kontrolle der Abweichung von der Norm und die konsequente Reaktion auf das Verhalten der Klienten nach wie vor im Mittelpunkt unter dem Stichwort Krisenintervention, und dafür braucht man im Normalfall keine lange Reflexion, wenn andere Formen eingeübter Reaktionen bereitstehen. Traditionell waren Strafen die Reaktion, heute sind dies pädagogische Maßnahmen, die als Strafen fungieren können, wenn sie nicht reflektiert, sondern reaktiv geschehen. Dieses Erbe ist nicht verschwunden.

Nur reagiert man heute nicht moralisch, sondern medizinisch-psychologisch: Medizinisch-psychologische Diagnostik und Therapie ist nicht selten die Antwort auf Abweichung, die eine pädagogische Antwort nicht zu finden vermag (Winkler 2003, S. 17ff; Müller 1999, S. 397ff). Hier spart man selten Zeit, indem man die Diagnose und Therapie einer anderen Profession überlässt. In manchen Fällen kann dies richtig sein, als unreflektierte Alternative zur alten Moralerziehung bedeutet es aber einen Ausstieg aus einer autonomen Professionalität durch Zuweisung. Heiner setzt deshalb auf einen eigenen diagnostischen Ansatz (Heiner 2004b).

Auch die Diskussion um den Zeitanteil an Reflexion in der sogenannten Fachleistungsstunde der Jugendhilfe zeigt, wie wenig Raum aus betriebswirtschaftlicher Sicht hier der Reflexion zugestanden wird, aber auch, wie schwer sich die Profession mit Argumenten tut. Mangels Gesamtkalkulationsmöglichkeit für den Fall wird aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht von den Gesamtkosten für den Fall her gedacht,

sondern von den Kosten für den Tagessatz, und hieraus ergeben sich enge Spielräume für die Personalschlüssel (Kröger 2003, S. 204ff).

In der Heimerziehung haben wir immer noch chronisch das Problem der zu geringen Personalbemessung, auch im Blick auf eine qualifizierte Elternarbeit, die spätestens seit der im KJHG normierten Rückkehroption unverzichtbar ist, aber nicht die Zeitkontingente erhält, die dafür nötig sind. Die Herstellung eines Beziehungsangebots, Partizipation und Selbstständigkeitserziehung, der Umgang mit Macht, der strukturierte Alltag, eine an den Adressaten orientierte Qualitätsentwicklung und eine für die Jugendhilfe geeignete sozialpädagogische Diagnostik, Hilfeplanung und Evaluation sind weiter Entwicklungsbereiche. Die Entwicklungsarbeit erfordert umfassende sozialpädagogische Kompetenzen, die einerseits Fortbildungen bis hin zu Zusatzausbildungen nötig machen, wenn es um das praktische Einüben geht.

Die Entwicklung einer Reflexionskultur braucht aber auch Reflexionsleitfäden, Konzeptionen, die Kategorien und idealtypische Abläufe des Handelns beschreiben. Dazu ist die Rezeption neuerer Methodenliteratur unumgänglich. Zu diesen Themen sind in den letzten Jahren mit besonderem Bezug auf die Jugendhilfe sehr nützliche Orientierungshilfen zu fast allen Aspekten der Jugendhilfepraxis erschienen (Heiner 2001 und 2004; Wolf 2002; Spiegel 2003, S. 97ff; Schwabe 2003 und 2006, S.260-285;

Schrapper 2004; Ader 2006; Bitzan u.a. 2006; Stork 2007; Hilweg u. Posch 2008).

2.4.4 Zur Ausbildung der Reflexionskompetenz

Ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für eine professionelle Reflexion in der Heimerziehung ist die methodisch defizitäre Ausbildung, die Fallreflexion nach wie vor zu wenig als professionelle Methode lehrt bzw. insbesondere zu wenig Lernkontexte in die Ausbildung integriert. Nur wenige Hochschulen wagen sich hier zu praktischen Übungen schon in der Ausbildung vor. „Das lernt man in der Praxis“, ist die Standardrede seit Jahrzehnten, doch das setzt gute Praxis voraus. Man kann in der Praxis auch schlechte Praxis lernen, wenn diese keine professionelle Reflexionskultur vorweisen kann. Die Ausbildung könnte gerade auch der Ort sein, wo idealtypisch und auf der Höhe der neueren Fachlichkeit Fallreflexion und Methodenreflexion im Blick auf Praxis gelernt wird. Kasuistik als Theorie und Praxis der Fallarbeit in der Ausbildung könnte hier Standards setzen, die nicht erst durch jahrelange Zusatzausbildungen ersetzt werden müssen, mit den bekannten Einseitigkeiten vor allem durch therapeutische Paradigmen (Frommann 2003, S. 231ff).

Evaluation und Selbstevaluation wird an den meisten Hochschulen bislang nur vereinzelt ausreichend professionell gelehrt. Unter ausreichend professionell wird hier verstanden, nicht nur die Methode als Lehrbuchwissen anzubieten, sondern auch am Beispiel realer Kontexte anzuwenden – und dies bedeutet meist, sich den der Praxis geschuldeten Anpassungen der Methode zu stellen. Idealtypisierung kann der erste Schritt sein; sie bleibt als nicht umsetzbar stehen, wenn nicht gezeigt wird, wie und unter welchen Bedingungen es auch gehen muss und wie dies möglich sein kann (siehe hierzu Thiersch 2002, S. 179-190).

2.4.5 Zu einigen Voraussetzungen für Selbstevaluation

Möglich ist selbstreflexive Praxis mit dem Anspruch der Selbstevaluation, wenn Konzepte, Orte, Zeiten und Kompetenzen der Reflexion bewusst und abgestimmt auf die pädagogische Alltagspraxis entwickelt werden.

Wichtig erscheinen als Voraussetzungen für eine selbstreflexive Praxis der Heimerziehung:

1. die verbindliche Ausbildung einer professionellen kasuistischen Reflexionskompetenz schon im Studium

2. die Entwicklung und Pflege von einrichtungsspezifischen Qualitätskriterien und einer entsprechenden Praxiskonzeption

3. die ausreichende Bereitstellung von Orten und Zeiten für regelmäßige Fallreflexion und Konzeptreflexion, die in ihrer Bedeutung gleichwertig neben die direkte Arbeit mit den Klienten gestellt wird

4. ein professionsorientiertes Qualitätsmanagement, das von der Leitung der Einrichtung organisiert und verantwortet wird. Ein professionsorientiertes Qualitätsmanagement führt die Methode der laufenden Evaluation (Selbstevaluation) der implementierten Konzepte mit.

5. Selbstevaluation als eigenständige Methode der Qualitätsentwicklung

6. die systematische Anbindung der Fallreflexion an das vorhandene Qualitätsmanagement zum Zwecke der Auswertung und empirischen Basierung der Qualitätsentwicklung.

Entscheidend für die erfolgreiche Bewältigung der ökonomischen Herausforderung der letzten Jahre bzw. der Abwehr einer berufsfremden Qualitätssicherung dürfte die Umsetzung des in Punkt 4 genannten professionsorientierten Qualitätsmanagements sein. Hier kann man den

Dreh- und Angelpunkt für die Möglichkeit der gezielten Entwicklung einer professionellen Reflexionskultur vermuten.

Wie schon bemerkt, sind die hier genannten Mindeststandards in der Regel in der Heimerziehung selten vollständig gegeben. Somit dürfte die Einführung von Selbstevaluation, die eine selbstreflexive Praxis impliziert, zunächst mit erheblichen Entwicklungshemmnissen zu rechnen haben. Wir halten aber die Herstellung der genannten Voraussetzung für möglich, auch unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen, weil viele Innovationen nicht von ökonomischen Bedingungen abhängen und es gelungene Beispiele hierzu gibt, wenn auch bislang nur in wenigen Einrichtungen.

Wir kommen hier wieder zum Modell der in kleinen Schritten sich selbst entwickelnden experimentierenden Organisation. Harro Dietrich Kähler plädiert für praktisches Üben: „In letzter Konsequenz kann Selbstevaluation nur gelernt werden, wenn Selbstevaluations-Projekte durchgeführt werden und aus ihren Stärken und Schwächen für das nächste Projekt gelernt wird.“ Dies bedeutet aber, das singuläre Projekte nicht ausreichen, sondern von langfristigen Lernschleifen ausgegangen werden muss (Kähler 2006, S. 11).

2.5 Leitung, Beratung, Supervision, Fortbildung und Evaluation als strukturelle