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3. Benchmarking 4. Evaluation

1.3 Zur Qualitätsentwicklung und Selbstevaluation in der Heimerziehung

1.3.1 Qualität in der Heimerziehung: Ursprünge und Traditionen

Qualitätsmanagement, Qualitätssicherung, Qualitätsentwicklung und Evaluation waren in traditionellen alltäglichen Handlungskontexten der Erziehung als Begriffe noch nicht existent und als Funktionen noch wenig bewusste Momente des Handelns. Der Sinn der Tätigkeit war immer gegenwärtig in hochgradig normierten Standardsituationen, die ihre Legitimation aus einer geglaubten objektiven Ordnung heraus begründeten und die ihren Sinn so in unhinterfragten, ebenfalls aus vorgegeben geglaubter Ordnung begründeten ritualisierten Handlungen erfuhr (Bönisch 1997, S. 69-96; Weber-Kellermann 1977, S. 73ff). Die Klöster des christlichen Europa waren hier vielleicht die am meisten prägenden Vorbilder dieser noch absolute Wahrheiten beanspruchenden mittelalterlichen Kultur.

Die arbeitsteilige Sorge von Mutter und Vater für und um ihr Kind war in traditionellen Alltagsstrukturen über routinierte Alltagsabläufe quasi institutionalisiert. Doch schon immer mussten Eltern auch das einzelne Kind in seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen sehen. Nie ging Erziehung in der Tradition, in reinem Routinehandeln auf, so wenig auch das Kind etwa in der mittelalterlichen Kultur Kind im heutigen Verständnis war (Arie`s 1977).

Mit der Neuzeit und spätestens mit dem Zeitalter der Aufklärung wurden Routinen des Aufwachsens immer brüchiger, Erziehung als Vorgang bewusster. Die vielen Erziehungsratgeber und Handbücher schon seit dem 19. Jahrhundert und neuerdings in inflationärer Zahl sprechen dafür, dass die Erziehungsaufgabe für die Eltern mit der Industrialisierung eine Komplexität erreicht hat, die Expertenrat immer nötiger erscheinen lässt. Dies soll hier nur vorausgeschickt werden, um andererseits die notorische Abstinenz mancher Felder der Heimerziehung gegenüber Pädagogik in ihrem Anachronismus wahrzunehmen, die dann umso mehr überrascht, als die besonderen Erziehungs- schwierigkeiten mit Heimkindern zunehmend beklagt werden (Winkler 1991, S. 67-69). Dies bedarf der Erklärung, will man nicht auf moralische Urteile ausweichen.

Die Institutionalisierung von Erziehung in Heimen kam während des Mittelalters und noch lange danach viele Jahrhunderte mit der einfachen Orientierung an der Familienerziehungstradition und Adaptionen klösterlichen Lebens aus. Dies geschah zumindest so lange, als man Erziehung noch weitgehend nicht als dialogischen Prozess mit dem „Zögling“ als zu achtendem Subjekt im modernen Verständnis praktizierte, sondern Charakterformung und Anleitung zu moralischem Verhalten durch direkte Einflussnahme einer Gehorsamkeitspädagogik anstrebte. Dieses Erziehungsverständnis war noch bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Heimen üblich. Obgleich sich schon früh

„vereinzelt auch andere Ansichten fanden“, wie die Empörung über das Erziehungsverhalten der Mönche gegenüber den Knaben im Kloster zeigt:

„Was prügelt ihr sie ständig? Und wenn sie nun heranwachsen, was für Menschen sind es dann? (…) Ihr (...) engt sie überall mit Schreckmitteln, Drohungen und Schlägen derart ein, dass sie überhaupt nicht zur Freiheit kommen können.“

Dieser Satz wurde schon im zwölften Jahrhundert von Anselm von Canterbury gegenüber einem seiner Äbte ausgesprochen (Röper 1974, S. 35). Er nahm damit schon den Kerngedanken von Kants klassischer Frage „Wie erziehe ich das Kind zur Freiheit bei dem Zwange“ vorweg (Kant 1977, S. 711.)

Doch es sollte nach Anselms Kritik noch mehr als 700 Jahre dauern und nach Kants Frage noch weit über 150 Jahre, bis die gesellschaftliche Entwicklung die schon seit Jahrhunderten mehr oder weniger gesellschaftlich randständige autoritäre Heimerziehungskultur zu einer tiefgreifenden Reform zwang (Arbeitsgruppe Heimreform 2000).

Und auch Helfen war lange Zeit kein Vorgang zwischen Subjekten, sondern ein überwiegend materieller Vorgang, so lange Helfen sich überwiegend auf bloße materielle Armut oder Krankheit bezog (Wendt 1985).

Soziale Arbeit hatte in der Tradition ihr Vorbild in habitualisierten helfenden Handlungen des Alltags und ihre ethische Orientierung im Evangelium und im Ethos des jeweiligen gesellschaftlichen Ortes bis weit in das zwanzigste Jahrhundert. Hier reichte das Ethos des Helfens, also eine Gesinnungsmoral, weil es um die Umsetzung eines überschaubaren Vorgangs (materielle Unterstützung) ging. Die Wirkung des Helfens lag in der Annahme durch den Hilfebedürftigen und bei Gott. Wirkung war letztlich auf Gnade gestützt und so das Handeln der Helfenden oft mehr rituell als ursächlich bedeutsam. Die Tat des Gottesfürchtigen wurde angenommen, die Tat des Sünders misslang. Der Erfolg der „Werke der Barmherzigkeit“, so Thomas von Aquin, lag bei Gott. Soweit soll ein Blick auf die Zeit vor der Renaissance genügen. Diese mittelalterliche Hilfeethik hatte allerdings eine lange Auslaufzeit bis in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts (zu Thomas von Aquin:

Engelke 1998, S. 29-40; zur weiteren Theoriegeschichte S. 41-127).

Die mit der Industrialisierung aufkommende systematisch geplante Herstellung von Waren ließ dann auch die Vorstellung des bewussten Herstellens von Zustandsänderungen bei Menschen aufkommen. Diese Vorstellung entstand in der Renaissance und kam zur vollen Blüte im 18. und 19. Jahrhundert mit Rousseau, um einen Namen zu nennen, der für den Beginn einer neuen Pädagogik, aber auch eines neuen Menschenbildes steht (Tenorth 1988, S.

73-176). Erst das zwanzigste Jahrhundert setzte diese Entwicklung für alle Menschen um mit

dem, was man Sozialstaat nennt. Die Menschen waren zunehmend nicht mehr in eine sich selbst weitgehend autark regulierende Lebenspraxis eingebunden.

Wir können uns hier wenigstens ansatzweise deutlich machen, dass das religiöse Paradigma Sozialer Arbeit und die weitgehende Eingebundenheit in die Alltagskultur des ganzen Hauses oder des Klosters spätestens mit dem Zeitalter der Industrialisierung langsam zu Ende ging und mit der organisierten Heimerziehung und Armenfürsorge, beginnend im Spätmittelalter, so etwas wie Organisationsentwicklung, Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in er-sten Anfängen bewusst entstand. Zunehmend geschah eine funktionale gesellschaftliche Differenzierung von Hilfe und Erziehung, die sich nicht mehr im gesellschaftlichen Nahraum der Großfamilien legitimieren konnte, sondern neue Systeme der Kontrolle hervorbrachte.

Vorläufer der Qualitätssicherung finden sich auch in den Handwerksordnungen der Zünfte, die verbindliche Normierungen hervorbrachten, wobei hier eine Person, der Meister, für die Qualität einstand und dies mit einer starken persönlichen Identifikation verbunden war, einem ungeschriebenen Pflichtethos, das uns in seiner Absolutheit heute eher fremd ist (Tenorth 1988, S. 94ff). Die Konkurrenz der Handwerker wurde durch die Zünfte reguliert; und so konnte Qualität kaum über Konkurrenzprinzipien kontrolliert werden, der Meister kontrollierte sich praktisch selbst, orientiert an den Normierungen durch die Zünfte.

Auch die Qualität der Heime konnte sich bis heute kaum über Konkurrenz regeln. Im Gegenteil: Das billige Heim konnte sich oft trotz schlechter Leistung behaupten, weil der Kunde das unmündige Kind und die „versagenden“ Eltern waren und zum Teil noch sind.

Heimerzieher hatten bis weit ins zwanzigste Jahrhundert kaum eine Ausbildung. Und so gab es auch hier chronische Selbststeuerungsprobleme, die immer wieder in Skandalen Ausdruck fanden, die bis in die heutige Zeit nachwirken und Aufarbeitung benötigen.

Dass es auch bei den Aufsichtspersonen für die Heime schon früh zu – wenn man so will – Qualitätssicherungsmaßnahmen kam, wird aus folgendem Zitat im Blick auf das frühe achtzehnte Jahrhundert deutlich:

„Die Strafe galt vornehmlich als Mittel zur Erziehung und Beaufsichtigung der Kinder. Es muss seinen Grund gehabt haben, dass hinsichtlich des Strafmasses fast alle Instruktionen und Ordnungen zur Milde aufforderten. Dennoch enthalten nahezu alle Waisenhauschroniken Berichte über Missgriffe der Erzieher und des Gesindes gerade in diesem Punkt (Röper 1976, S. 120 ff).

Diese kleinen exkursiven Blicke in die Geschichte sollen deutlich machen, dass wir noch einmal die Frage nach dem Grund des Imports von Qualitätsentwicklung sehr grundlegend und in historischem Horizont stellen müssen. Vor allem ist es unsere Aufgabe, den

behaupteten oder wahrgenommenen Neuigkeitscharakter grundsätzlich infrage zu stellen.

Qualitätsentwicklung ist in der Heimerziehung nicht neu, aber lange Zeit beschränkt auf Verbesserungen der hygienischen Verhältnisse, der Ernährung, der Wohnraumgröße, der Gruppengröße, auf die Anzahl der Erzieher pro Gruppe und auf die Abwehr skandalisierbarer Missstände, wie Röper aufzeigt (siehe auch Arbeitsgruppe Heimreform 2000, S. 289 ff). Die Strukturqualität stand damals im Mittelpunkt der Frage nach Verbesserungen, und die Verantwortung dafür lag alleine beim Leiter der Einrichtung, der kaum kontrolliert wurde.

Eine funktionierende staatliche Heimaufsicht wurde erst in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eingerichtet (Arbeitsgruppe Heimreform 2000, S. 195ff).

Die eigentliche Frage des Alltags kreiste jedoch noch lange bis ins letzte Jahrhundert um die Frage nach der Besserung der Seele des einzelnen Kindes. Man kämpfte mit den Mächten des ontologisierten Schlechten und Bösen und legte den Fokus der Änderungsarbeit auf den Klienten, weniger auf die äußeren Umstände, auf den Erzieher, so wenig man auch den Pfarrer für die Sünden der Gläubigen verantwortlich machte und macht. Erzieher und Pfarrer hatten vor allem Mittlerrollen einer als absolut gedachten göttlichen Ordnung.

Die Prozessbeschreibung der Besserung und Erziehung lag über Jahrhunderte immer schon vor und wurde durch die Klöster vorgeprägt:

(1) Das Ziel der erzieherischen Arbeit war vorgegeben durch das Idealbild des Heiligen und des klösterlichen Lebens: Keuschheit, Armut, Gehorsam und der benediktinischen Regel: Beten und Arbeiten. Das Steuerungsprogramm war ausgearbeitet operationalisiert in einer präzisen Sündenkasuistik.

(2) Die Stationen des Hilfeprozesses waren durch den Katechismus vorgegeben:

Gewissenserforschung, Schuldbekenntnis, Reue und Buße waren die Stationen der Besserung. Wenn man so will, beinhalten diese präzisen Prozeduren schon eine sehr ausgearbeitete Selbstevaluation mit einer Vorgabe des Sollzustandes (die reine Seele), Kriterien der Abweichung (präziser Sündenkatalog), Gewissenserforschung (Feststellung der Soll-Ist-Abweichung) und Intervention nach vorgegebenen Bußkatalogen. Allerdings war der einzelne Mensch, die Person, weniger sein Lebensumfeld der Ort der Veränderung.

(3) Beten und Arbeiten, eingerahmt in eine minutiöse Zeitstruktur, waren die wesentlichen Inhalte des Lebens und wurden in den Klöstern des Abendlandes zu den kulturellen Grundpfeilern der Alltagskultur.

(4) Gehorsam und ein Strafkatalog für das Alltagsverhalten ersetzten zeitaufwändige dialogische Erziehung.

(5) Wahrnehmbare, gelebte Armut und Einfachheit (6) Gottes- und Nächstenliebe als höchste Gebote

Die Tradition sagte den Erziehern und den Zöglingen, was sie tun sollten, wie sie sein sollten.

Veränderungen fanden nur sehr langsam und über lange Zeiträume unmerklich statt, sodass sie nicht im Wahrnehmungshorizont des Einzelnen auftauchten. Dass die Heimerziehung durch die Kirchen getragen und meist von Priestern und Ordensleuten beaufsichtigt und geleitet wurde, erklärt z.T. die geringe Orientierung an allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen und das lange Festhalten an einem durch das Mittelalter geprägten Menschenbild bis in die jüngere Zeit, da die Kirchen als Institutionen aus Gründen ihrer stabilisierenden gesellschaftlichen Funktion immer schon eher zur Nachhut der gesellschaftlichen Entwicklung zählten (vgl. Luhmann 1977, S. 290ff).

Qualitätsentwicklung in der Heimerziehung fand so chronisch verzögert gegenüber der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung statt, nicht nur wegen ihrer früheren kirchlichen Bindung, sondern auch weil die Institution Heim als traditionell moralerzieherisch und randständig konstruierte Anstalt zu den Kräften der Gesellschaft zählte, die spätestens seit dem 18. Jahrhundert, möglicherweise aber schon immer zur Nachhut der gesellschaftlichen Entwicklung gehörten. Institutionen sind auch strukturell bedingt konservierend (Goffmann 1973, S. 13ff). Allerdings muss die Heimerziehung im historischen Kontext gesehen werden.

Was hier über die bis in das letzte Jahrhundert geltenden Erziehungsvorstellungen und Methoden der Heime gesagt wurde, galt mit gewissen Abstrichen für die damaligen Gesellschaften generell.

Und wenn so das Gesagte auch für andere Felder Sozialer Arbeit zutreffen mag, so gilt es gewiss am stärksten für die Heimerziehung, die nicht umsonst eine in der Sozialen Arbeit beispiellose Entwicklungsbeschleunigung durch die sogenannte Heimrevolte in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu verzeichnen hatte, die der Reformunfähigkeit dieser Institution geschuldet war (Arbeitsgruppe Heimreform 2000). Es stand also nicht nur eine religiös motivierte moralische Kasuistik einer Veränderung im Wege, sondern auch und vielleicht noch mehr unverstandene Mechanismen so genannter Totaler Institutionen, wie sie Goffmann beispielhaft beschrieben hat (Goffmann 1973, S. 13-124). Das durch die radikale Reform dieser Institution neue Selbstbewusstsein hat zunächst zu einem Freiheitsgefühl geführt, das sich in Ausläufern bis heute gegen neue Vorgaben wehrt. Auch professionelle Methoden bedeuten in deren Horizont eine neue Einschränkung und im kollektiven Gedächtnis erscheinen diese vielleicht als Rückfall in Strukturen der Macht.