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Zu Theorieformen und Theorieebenen:

2.6 Wirklichkeit der Evaluation in der Heimerziehung und der Jugendhilfe

2.6.2. Evaluation in der Praxis

2.6.2.4 Das englische Evaluationssystem „LaC“

Wie EVAS ist „Looking after Children“ (LaC) ein Einrichtungen übergreifendes Evaluationskonzept, dass jedoch noch größer und geplant auf die Fläche eines ganzen Landes, nämlich England, angelegt ist. Mit einbezogen in die Evaluation ist die Jugendhilfe der Kommunen. Das Projekt „beinhaltet ein komplettes System zu Planung, Entscheidungsreflexion und Selbstevaluation, sowohl fall- als auch maßnahmebezogen“

(Gabriel 2001, S. 71).

Forschung, Praxis und Politik arbeiten hier eng zusammen, und auch hier geht das Projekt über EVAS weit hinaus. EVAS ist primär ein Projekt eines Forschungsinstituts geblieben und auch ohne erkennbare eigene Ambition der Theorieentwicklung. LaC ist demgegenüber mehr als ein Evaluationssystem. Es ist auch ein Forschungsansatz mit eigener Theorieentwicklungsambition, mit dem Einbezug des Fallmanagements als Basisprozess und des Jugendamtes als federführender Behörde. LaC schließt an das Fallmanagement des Jugendamtes an und evaluiert systematisch unter Einbezug aller Beteiligten die Entwicklung junger Menschen unter folgenden Kategorien:

• Gesundheit (health)

• Erziehung und Ausbildung (education)

• Identität (identity)

• Familie und soziale Beziehungen (family and social relationships)

• Soziale Präsentation (social presentation)

• Entwicklung von Emotion und Verhalten (emotional and behavioural development)

• Fähigkeiten zur Selbstsorge (self-care skills) (Gabriel 2001, S. 80).

Diese Kategorien wurden ausführlich theoretisch begründet und operationalisiert. Die Erhebungsformen wurden thematisch spezifiziert, und es wurden auch die Jugendlichen selbst befragt. In Deutschland gibt es keine vergleichbar große Studie, vor allem nicht im Blick auf die Breite und Tiefe der Forschung, die die Betroffenen und die Professionellen als sich selbst Evaluierende einbezieht (Gabriel 2001, S. 69ff).

Es geht um ein umfassendes Konzept mit den Aspekten Theoriebildung, Forschung, Fremd- und Selbstevaluation, Jugendhilfeplanung und Qualitätsentwicklung. Für das Evaluationssystem wurde eigens eine Computersoftware entwickelt für Nutzer in der Praxis der Jugendhilfe. Auch Jugendhilfeplanung ist hier angeschlossen und kann Daten unter verschiedenen Fragestellungen abrufen (Gabriel 2001, S. 71ff).

Zu b) Beschreibung des eigenen Selbstverständnisses

Von zentraler Bedeutung für das LaC-Konzept ist nicht nur die Frage, „ob individuelle Entwicklungen stattfinden oder nicht stattfinden und in welchem Ausmaß, sondern warum sie stattfinden oder nicht stattfinden. Das LaC-Konzept hat sich deshalb ausführlich über den pädagogischen Ansatz der Jugendhilfe im Vergleich zur Familienerziehung Gedanken gemacht und den Begriff der Verantwortung der Familie auf die Jugendhilfe übertragen.

Thomas Gabriel fasst den Kern der Argumentation, die auch eindeutig mit einer normativ-ethischen Ambition formuliert ist, so zusammen:

• „Die Jugendhilfe hat sich ihrer elterlichen Verantwortung für die jungen Menschen gewahr zu sein. Sie muss dazu auf dem Stand gegenwärtigen Wissens berücksichtigen, welche Maßnahmen und konkrete Handlungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine positive Wirkung auf die Biografien junger Menschen in der Jugendhilfe ausüben. Sie hat sich, ausgehend von einer Analyse elterlicher Aufgaben und Verantwortungen, die mit der ‚Normalsozialisation‘ in Familien verbunden sind, um eine weitgehend äquivalente Ausgestaltung der Verantwortung (anhand konkreter Aufgaben) zu bemühen.

• Die partnerschaftliche Kooperation mit den Herkunftsfamilien der jungen Menschen in der Jugendhilfe ist von essenzieller Bedeutung für den Erfolg der Jugendhilfemaßnahmen und fand deshalb im Evaluationskonzept der LaC-Initiative besondere Berücksichtigung. Sie ist unabhängig von den damit verbundenen Schwierigkeiten anzustreben.“ (Gabriel 2001, S. 75f)

Das Projekt erfasst und beschreibt also nicht nur Wirklichkeit, sondern entwickelt ausgehend von politischem Willen, rechtlichen Prämissen, theoretischen Überlegungen und der Evaluation der Erhebungen Vorstellungen für Innovationen und vermittelt diese den Betroffenen.

Zu c) Analyse des Systems

Das System ist weit mehr als bloße Fremd- und Selbstevaluation. Es versucht alle relevanten Wirkfaktoren des Jugendhilfesystems einzubeziehen und ist auch ein Qualitätsentwicklungsprojekt im Blick auf die gesamte Jugendhilfe Englands. So bezieht das System fünf Erfolgsperspektiven ein (Gabriel 2001, S. 76ff):

(1) Public outcomes (2) Service outcomes (3) Professional outcomes (4) Family outcomes (5) Child outcomes

Allerdings liegt die Priorität des Projektes auf der individuellen Erfolgsperspektive des jungen Menschen, womit ebenfalls eine normative Wahl getroffen wird.

So wie es Gabriel beschrieben hat, stellt es eine ideale Verbindung her zwischen Sozialpolitik, Kommunaler Jugendhilfe, konkreten Maßnahmen wie Heimerziehung sowie Forschung und Evaluation. Theorie-Praxis-Probleme oder Interessengegensätze werden dort als pragmatisch lösbar gesehen und wirken so nicht fundamental störend.

Das System wurde auf der Basis umfangreicher Piloterhebungen und vielfältiger Theoriearbeit entwickelt; es ist langfristig und selbstlernend angelegt.

Zu d) Bewertung der Anschlussfähigkeit für ein Selbstevaluationssystem Heim

Selbstevaluation stellt nur einen Aspekt dieses umfassenden Projektes dar. Man kann lernen, wie Selbstevaluation eingebunden sein kann und ihre begrenzte Reichweite sehen, vor allem die Verzahnungsnotwendigkeit mit Fremdevaluation, Theoriearbeit und wissenschaftsgeleiteter Kategorienbildung und Forschung. Vor allem aber ist mit den inhaltlichen Themen der Evaluation eine wichtige Vorgabe gemacht, an der sich Selbstevaluation quasi curricular orientieren kann, was eine höhere Vergleichbarkeit der Ergebnisse möglich macht.

Allerdings kann auch gerade die normative Orientierung, hier die schon beschriebene verbindliche Festlegung der Entwicklungsdimensionen junger Menschen und der einrichtungsübergreifenden Erhebungsmethodik, kritisch gesehen werden als zu sehr verallgemeinernd, vorschnell komplexitätsreduzierend und zu ergebnisorientiert (Gabriel 2001, S. 109). Die oben schon dargestellten Forschungsergebnisse der ISA-Studie scheinen dies zu bestätigen, wenn immer wieder auf die Gefahr einer zu operativen Festlegung methodischer Arbeit hingewiesen wird. Auch Maja Heiner gibt zu bedenken, dass die selektive Wirkung der Konzentration etwa von EBP-Konzepten auf Outcome-Effekte die Wirklichkeit der Praxis unzulässig einengt und so u. U. gerade nicht die tatsächlichen Wirkungszusammenhänge erfasst (Heiner u. a. 2007, S. 178ff). Im Zusammenhang mit der Diskussion um das Konzept einer evidenzbasierten Sozialen Arbeit werden die kritisierten Punkte an anderer Stelle von Hüttemann zurückgewiesen, indem der Begriff der forschungsbasierten Interventionsentwicklung als Verfahren vorgeschlagen wird, womit für eine wissensgestützte reflexive Praxisentwicklung in Permanenz plädiert wird (Hüttemann &

Sommerfeld 2007, S. 53).

Das englische Konzept ist sicher wesentlich besser auf die Professionalität der Sozialen Arbeit abgestimmt als etwa EVAS, das die Kritik an den EBP-Konzepten schon auf den

ersten Blick zu bestätigen scheint. Gleichwohl ist die Kritik an der methodischen Generalisierung über die Eigenheiten einzelner Praxisfelder hinweg ernst zu nehmen und in der weiteren Untersuchung zu beachten. Gabriel weist in einer späteren Zusammenfassung auf Übertragungsprobleme hin, etwa auf die deutsche Jugendhilfelandschaft, insbesondere wegen des föderal und kommunal strukturierten Jugendhilfesystems. Anderseits nennt er gelungene Übertragungen auf Australien, Kanada und Schottland (Gabriel 2003, S. 139-147).