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Welches Zentrum, wessen Peripherie ?

4. Austauschsphären

4.1 Handel : Waren- und Güterströme

4.1.4 Warenstruktur und Peripherisierung

4.1.4.2 Welches Zentrum, wessen Peripherie ?

Aus den bisherigen Beschreibungen ist Galiziens Peripherisierung deutlich ge-worden, die über den Warenhandel die Produktionssphäre erfasste und sich gra-duell im Lauf des 19. Jahrhunderts verstärkte. Dabei wurde die geografische Di-mension des Austauschmusters bereits deutlich, wonach Galizien gegenüber den böhmischen und österreichischen Zentren der Habsburgermonarchie viel stärker im ökonomischen Sinn peripher war als für die ungarischen Länder. Die folgen-den Diagramme (Abbildung 4-9, Abbildung 4-13, Abbildung 4-14) differenzie-ren dieser Befund nicht nur nach weitedifferenzie-ren Handelspartnern, sondern zeigen auch die Verschiebung im zeitlichen Verlauf. Entgegen der klassischen Annahme ei-nes eindeutigen West-Ost-Gefälles trat Galizien im späten 18. Jahrhundert als

86 Zur Exportkonzentration siehe : Tausch, EU-Erweiterung, 115, 117–119, 122.

87 1784/87 sind dabei auch Häute und Rauchwerk enthalten, berücksichtigt man nur Vieh (außer Pferden und Fohlen) sowie aufbereitetes Fleisch ist der Anstieg von 15,8% ausgehend noch steiler.

88 Eigene Berechnungen nach den Daten in Abbildung 1-8. Berücksichtigt man bei Textilien nur Leinen und Leinenwaren, die im späten 19. Jahrhundert das Gros der Erzeugung stellten, war der Rückgang ausgehend von 20,6% (1784/87) etwas weniger drastisch. Gargas, Tkactwo domowe, 4f.

Fertigwarenexporteur gegenüber dem Heiligen Römischen Reich (ohne Preußen und Sachsen) und – über Danzig – mit England, Frankreich und Holland sowie ihren Überseekolonien auf.89 Gleichzeitig belegt der in der Statistik ausgewiesene Direkthandel das hohe Ausmaß an Industrie- und Gewerbeproduktenimporten aus Frankreich die relative Ausgeglichenheit der Außenhandelsstruktur, während die Austauschbeziehungen mit Holland, den Österreichischen Niederlanden und der Schweiz dem herkömmlichen Zentrum-Peripherie-Muster folgen. Allerdings blieben alle diese Güterströme in ihrer Bedeutung weit hinter den Verflechtungen in Zentraleuropa zurück. Dort wiederum zeichnet sich eine eingeschränkte Bipo-larität entlang der Linien West-Ost und Nord-Süd ab, indem Galizien Richtung Westen eher eine periphere Handelsstruktur aufwies, Richtung Süden hingegen zu einer semiperipheren oder sogar zentralräumlichen Rolle tendierte : Gegenüber Sachsen, mit der für Galizien wichtigen Leipziger Messe, und der erbländischen Zollunion erscheint Galizien als Importeur von Fertigwaren und Exporteur von Rohstoffen, während in die in der Quelle als „Italien“ bezeichneten italienischen Staaten fast ausschließlich Fertigwaren exportiert und in der umgekehrten Rich-tung vor allem Halbfertigwaren bezogen wurden. Beim Seehandel über Triest zeigt sich ein ähnliches Muster, allerdings mit einer markant schwächeren Fertigwa-reneinfuhrquote und ausschließlich Halbfertigwarenexporten. Beide Güterströme hatten für Galizien nur eine geringe Bedeutung.

Gegenüber Ungarn war Galiziens Position ausgeglichen, während nach Polen,90 über Brody sowie in das Osmanische und Russländische Reich vorwiegend Fer-tigwaren exportiert und von dort Rohstoffe bezogen wurden. Die Ausnahmen von diesem handelsgeografischen Muster stellten Siebenbürgen und Tirol da, wo Ga-lizien gefertigte Waren einkaufte und im ersten Fall auch Rohstoffe lieferte. Mit Preußen (das den westlichen Teil Polen-Litauens sowie Schlesien mit dem Mes-sezentrum Breslau beinhaltete) wurden vorwiegend verschiedene Rohstoffe ausge-tauscht und sogar mehr verarbeitete Produkte ausgeführt. Insgesamt ist Galizien im späten 18. Jahrhundert beim Warenaustausch als Semiperipherie einzustufen.

Diese Rolle impliziert eine Peripheriefunktion gegenüber den böhmisch-österrei-chischen Ländern, der Schweiz, Holland, den österreiböhmisch-österrei-chischen Niederlanden und Siebenbürgen, während in Relation zu „Italien“, Polen und Ungarn eine semiperi-phere Position und gegenüber dem Russischen und Osmanischen Reich sogar eine Zentrumsrolle auszumachen ist. Anders ausgedrückt kompensierte Galizien auf den Märkten im Norden, Osten und Südosten jene Nachteile, die ihm im Westen

89 Madurowicz/Podraza, Próba, 98. Bacon, Austrian Economic Policy, 94. Kulczykowski, Andrychow-ski ośrodek płócienniczy, 155f. Siehe dazu genauer Kapitel 5.

90 Vgl. Kazusek, Handel, 55.

und Süden entstanden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei einem Teil von Galiziens Fertigwarenlieferungen de facto um Reexporte von Waren aus den Erblanden, Ungarn oder dem Heiligen Römischen Reich handelte, d.h. die in der Region verbleibende Wertschöpfung war tatsächlich geringer.91

Abbildung 4-10 : Handelsstruktur Galiziens mit Ungarn und Siebenbürgen (1841–1850)

Quelle : Ausweise über den Handel 1841–1850.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb Galiziens Austauschmuster und seine räumliche Charakteristik großteils erhalten. Allerdings führte die Krise der heimgewerblichen Leinenweberei und der Branntweinbrennerei ab den 1830er Jahren zu Verlusten von Exportmärkten in Ungarn.92 Zwischen 1840 und 1850 war der Halbfertig- und Fertigwarenexport nach Ungarn gegenüber der Rohstoffaus-fuhr deutlich geringer, während das hohe Ausmaß an Importen von Gewerbe- und Industrieprodukten nach einem vorübergehenden leichten Rückgang Mitte der 1840er Jahre gegen Ende des Jahrzehnts erneut weiter anstieg (Abbildung 4-10).

91 Brawer, Galizien wie es an Österreich kam, 88f., 92. Bieniarzówna, Handelsbeziehungen, 122. Gul-don/Stępkowski, Żelazo świętokrzyskie, 59.

92 Rutkowski, Historia gospodarcza, 406f.

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1841

Import 1843 1845 1847 1849 1841

Export 1843 1845 1847 1849 Rohstoffe Halbfertigwaren Fertigwaren

Abbildung 4-11 : Güterstruktur des galizischen Handels mit dem Ausland Teil I : 1841–1850

Quelle : Ausweise über den Handel 1841–1850.

Gegenüber dem Ausland nahm hingegen in dieser Zeit die Ausfuhr des Sekun-därsektors deutlich zu, während die Einfuhr in Summe konstant blieb, sich aber stärker von Halbfertig- zu Fertiggütern verschob (Abbildung 4-11). Dies scheint die auch von Rutkowski konstatierten Halbfertig- und Fertigwarenexporte in das Russländische Reich, vor allem in das Königreich Polen, widerzuspiegeln. Zu-gleich ist zu beachten, dass die Aussagekraft dieser drei Diagramme (Abbildung 4-10, Abbildung 4-11 und Abbildung 4-12) nicht die Präzision der Statistiken von 1784/87, 1890/92 und 1913 erreicht. Insbesondere in den Jahren 1854 bis 1872 lassen sich die Güterkategorien der amtlichen Außenhandelsstatistik nur sehr ein-geschränkt in Rohstoffe, Halbfertig- und Fertigwaren unterteilen. Direkte Ver-gleiche dieser Daten mit jenen aus den Handelsstatistiken des späten 18. Jahrhun-derts und den Eisenbahnstatistiken der Jahrhundertwende sind daher unzulässig.

Ebenso müssen die Handelswertanpassungen der Jahre 1858 und 1863 berücksich-tigt werden, weshalb die Veränderung innerhalb der Zeiträume 1854/58, 1859/63 und 1864/72 gesondert betrachtet wird (Abbildung 4-12) : Demnach kam es in der ersten Phase (1854/58) zu einer Zunahme sowohl der Ein- als auch der Ausfuhr von Fertigwaren – was darauf schließen lässt, dass die zunehmende Integration der Gütermärkte infolge des noch relativ schwach ausgeprägten Eisenbahnnetzes

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1841

Import 1843 1845 1847 1849 1841

Export 1843 1845 1847 1849

Rohstoffe Halbfertigwaren Fertigwaren

Abbildung 4-12 : Güterstruktur des galizischen Handels mit dem Ausland Teil II : 1854–1872

Quelle : Ausweise über den Handel 1854–1872.

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1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862 1863 1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872

Import

Rohstoffe Halbfertigwaren Fertigwaren

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1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862 1863 1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872

Export

Rohstoffe Halbfertigwaren Fertigwaren

zu dieser Zeit das Handelsmuster kaum veränderte. Sowohl für die Produzenten im Ausland als auch innerhalb Galiziens ergaben sich im Zuge der Aufgabe des Verbotssystems (1852) und dem Handelsvertrag mit Preußen (1853) neue Ab-satzchancen für ihre Gewerbeprodukte. In der zweiten Phase (1859/63) gingen die Fertigwarenexporte hingegen zurück, während die Importe stagnierten – die Impulse der Außenhandelsliberalisierung für den überregionalen Warenaustausch scheinen durch die Wirtschaftsflaute der 1850er und 1860er Jahre kompensiert worden zu sein. Erst in der Ersten Gründerzeit (1866–72) nahmen insbesondere die Fertigwarenexporte zu, während die Importe sich viel schwächer ausweiteten – was Witold Kulas These von einer „Überschwemmung des galizischen Marktes mit deutschen Industrieartikeln“ für diesen Zeitraum relativiert.93

Die Befunde lassen folgende Schlüsse zu : Einerseits bezog Galizien aus dem Ausland vorwiegend Rohstoffe und lieferte dorthin Fertigwaren in einem für die Region verhältnismäßig großen Ausmaß. Dabei handelte es sich vor allem bei den Industriegüterexporten zum Teil um Waren aus den Erblanden und Ungarn, d.h. die tatsächliche Außenhandelsstruktur Galiziens war etwas weniger vorteil-haft. Insgesamt scheinen die ausländischen Märkte für Galizien noch bis 1872

93 Kula, Historia gospodarcza Polski, 73.

Abbildung 4-13 : Warenstruktur nach Handelspartnern (1890/92)

Quelle : Eigene Berechnung nach Rocznik Statystyki Przemysłu i Handlu Krajowego Z.XVII/II.

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Export Cisleithanien ohne Galizien und Bukowina

Import Export Bukowina

Import Export Transleithanien

Import Export Ausland

Import

Rohstoffe Halbfertigwaren Fertigwaren

eine kompensierende Wirkung gegenüber der zunehmenden Peripherisierung am Inlandsmarkt gehabt zu haben. Daraus folgt, dass die im vorherigen Abschnitt konstatierte umfassende Peripherisierung Galiziens im Güteraustausch nach 1873 ablief, als die Verdichtung des Eisenbahnnetzes, die Mechanisierung der Industrie in den böhmischen und österreichischen Kronländern, die sinkenden Weltmarkt-preise für Agrargüter und die protektionistische Zollpolitik das räumliche und qualitative Muster des Warenhandels nachhaltig veränderten.94

Das Verzeichnis von 1890/92 (Abbildung 4-13) führt mit Ausnahme der Bu-kowina nur die groben Kategorien Cis- und Transleithanien neben dem Ausland an. Galiziens Handelsstruktur gegenüber der Bukowina, die 1787 zollpolitisch und administrativ zu Galizien gezählt hatte, war dabei mit Abstand die vorteilhafteste – der Fertigwarenexport stellte nicht nur mehr als die Hälfte des Warenumsatzes, sondern überwog auch deutlich gegenüber dem Industriegüterimport. Ebenfalls relativ ausgeglichen war die Warenstruktur mit der ungarischen Reichshälfte sowie dem Ausland. Allerdings hatte sich Galiziens Position insbesondere als Exporteur gegenüber Ungarn verschlechtert, während der niedrige Fertigwarenanteil bei der Ausfuhr ins Ausland auf eine Verdrängung galizischer Industriewaren von auslän-dischen Exportmärkten verweist. Das Exportmuster gegenüber Cisleithanien, das der durch Tirol, Salzburg und Dalmatien erweiterten Zollunion entsprach, wies kaum Veränderungen zum späten 18. Jahrhundert aus : Die Einfuhr von Fertigwa-ren verfestigte sich durch den Eisenbahnbau weiter. In Summe zeichnet sich hier bereits die zunehmende Peripherisierung Galiziens sowohl gegenüber der aufstre-benden ungarischen Semiperipherie als auch einer Reihe von anderen europäi-schen Peripherien jenseits der staatlichen Grenzen der Habsburgermonarchie ab.

Im Gegensatz zu der Statistik von 1890/92 sind im Verzeichnis von 1913 erneut die Handelspartner detailliert angeführt (Abbildung 4-14). Erneut zeigt sich die Peripherierolle Galiziens gegenüber den böhmischen und den nördlichen öster-reichischen Ländern besonders stark. Hier lässt sich trotz der nach 1850 erfolgten Verschiebung des ökonomischen Schwerpunkts von der Steiermark und Oberös-terreich zu den böhmischen Ländern von einer starken Kontinuität seit dem späten 18. Jahrhundert sprechen. Gegenüber dem Gros der Handelspartner kam es hin-gegen im Vergleich mit 1787 zu einem deutlichen Bruch des Austauschmusters : Nicht nur westeuropäische Staaten wie die Schweiz, Frankreich, Belgien und die Niederlande wurden zu Fertigwarenlieferanten Galiziens, sondern auch Rumänien, das Deutsche und Russländische Reich sowie Ungarn. In die umgekehrte Rich-tung transportierte Galizien zumeist Rohstoffe, selbst Halbfertigwaren konnten

94 Hoffmann, Grundlagen, 47. Bachinger/Matis, industrielle Entwicklung, 197f., 228. Zu den Welt-marktpreisveränderungen : Ocampo/Parra-Lancourt, Terms of trade.

Abbildung 4-14 : Warenstruktur nach Handelspartnern 1913

Quelle : Eigene Berechnung auf Grundlage von Biegeleisen, Stan ekonomiczny, 346–361.

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Export Import Export Import Export Import Oberösterreich,

Niederösterreich, Tirol, Salzburg

Kärnten, Krain, Istrien, Dalmatien, Kroatien, Slawonien, Bosnien

Böhmische Länder

Rohstoffe Halbfertigwaren Fertigwaren

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Export Import Export Import Export Import Import Import Ungarn Deutsches Reich Schweiz Holland Belgien

Rohstoffe Halbfertigwaren Fertigwaren

sich kaum auf den Märkten dieser Regionen durchsetzen. In den meisten Fällen exportierte Galizien gar nichts, diese Warenströme waren insgesamt von geringer Bedeutung.

Die beiden markanten Ausnahmen von diesem Muster stellen neben Triest, wo Galizien seinen Bedarf an Kolonialwaren wie Kaffee und Tee deckte, die südli-chen österreichissüdli-chen Länder sowie das habsburgisch regierte Hinterland der Adria dar : Krain, Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Aus diesen ebenfalls als innere Peripherien einzustufenden Regionen bezog Galizien vorwiegend Rohstoffe und Nahrungsmittel und exportierte ausschließlich eine Fertigwarenkategorie, nämlich Möbel. Insgesamt bringt die geografische Schwerpunktverlagerung des galizischen Außenhandels Richtung Süden und Westen, vornehmlich innerhalb der Grenzen der Habsburgermonarchie, bereits die Peripherisierung der Region zum Ausdruck : Mit der Verdrängung der heimgewerblichen Produktion, beispielsweise der Lei-nenherstellung, gingen zunehmend jene Absatzmärkte im Osmanischen Reich, Ungarn, Russisch-Polen und dem Russländischen Reich verloren, die bis dahin Ga-liziens periphere Position gegenüber den westlichen Regionen kompensiert hatten.

Die Ursache dafür lag in der Industrialisierung vor allem in den westlichen Regionen der Habsburgermonarchie, aber auch Preußens, Sachsens und ver-einzelt im Königreich Polen. Vermittelt wurden diese über den überregionalen Warenaustausch, der sich mit dem Eisenbahnbau spürbar verstärkte. Insofern ist jenen Historikern zuzustimmen, die Galiziens Funktion innerhalb der Habsbur-germonarchie als Rohstofflieferant und Fertigwarenbezieher beschreiben und die negativen Effekte der Konkurrenz, insbesondere der böhmischen und österrei-chischen Fabrikproduktion, für den galizischen Gewerbe- und Industriesektor betonen.95

Allerdings ist entgegen dieser oft statischen Sichtweise eine zeitliche, räumli-che und branräumli-chenspezifisräumli-che Differenzierung vorzunehmen, wie sie auch bereits Stanisław Grodziski andeutet : So erfuhr der in früheren Zeiträumen wie dem späten 18. Jahrhundert oder den 1830er Jahren vorhandene Konkurrenzdruck auf die galizische Ökonomie96 mit dem Eisenbahnbau der 1850er und 1860er Jahre eine qualitative Veränderung. Ab dann intensivierten sich aufgrund sinkender Transportkosten die Fertigwarenimporte Galiziens enorm und führten zu einer beginnenden Zurückdrängung regionaler Gewerbestrukturen. Entscheidend für die einsetzende Deindustrialisierung war die zunehmende Verdichtung des

Eisen-95 Chonihsman, Pronyknennja, 23. Baltzarek, Zentralistische und föderalistische Aspekte, 71. Bujak, Rozwój gospodarczy, 363. Buszko, Wandel, 14. Kula, Historia gospodarcza Polski, 74f. Rutkowski, Historia gospodarcza, 358.

96 Grodziski, Historia, 36.

bahnnetzes bis auf die lokale Ebene ab den 1880er Jahren sowie der Konzentrati-onserscheinungen und Kartellbildungen im Industriesektor ab dem darauffolgen-den Jahrzehnt. Dadurch wurde Galiziens periphere Position nicht nur gegenüber den böhmischen und österreichischen Märkten, sondern auch gegenüber Ungarn und dem Deutschen Reich gefestigt.97

Insgesamt bedeutete somit die Peripherisierung Galiziens eine Spezialisierung auf die Primärgüterherstellung und die zunehmende Deindustrialisierung der lo-kalen Produktionsstruktur ; zugleich kam es zu einer Entstehung neuer Industrie-betriebe in Nischen.

Dies lässt sich am räumlichen Muster der bereits konstatierten hohen Export-konzentration belegen : Im Jahr 1783 bestand Galiziens Ausfuhrwert in die böh-misch-österreichische Zollunion zu 81 Prozent, ein Jahr später sogar zu 85 Prozent aus Vieh und Fleisch, während 1787 nach Ungarn 62,1 Prozent an Textilien und 20,6 Prozent an Vieh und Fleisch exportiert wurde.98 1913 lässt sich eine parti-elle Diversifizierung dieser Konzentration ausmachen, die sich jedoch durchwegs auf Agrargüter und Rohstoffe beschränkte : Führend war weiters der Vieh- und Fleischexport mit 38 Prozent aller Ausfuhren in die nördlichen österreichischen Kronländer (vorwiegend nach Wien) sowie 44 Prozent in die böhmischen Regi-onen, während weitere Schlüsselgüter der galizischen Ökonomie wie Erdöl, Holz und Mehl geringe bis verschwindende Posten im galizischen Export in diese bei-den Ländergruppen stellten. Bedeutend waren Holz und Erdöl in der Ausfuhr nach Ungarn (33,1 Prozent) und ins Deutsche Reich (60,1 Prozent).99

Hierin wird das downgrading der galizischen Wirtschaft sichtbar, indem ver-arbeitungsärmere Branchen an die Stelle der heimgewerblichen Textilerzeugung traten, deren Ausfuhren vollkommen verschwanden. Dafür dominierten Textilien den Import (österreichische Kronländer : 40,2 Prozent ; Böhmische Länder : 31,9 Prozent ; Ungarn : 30,8 Prozent ; Deutsches Reich : 54,8 Prozent). Umgekehrt be-deutete die Ausweitung der regionalen Viehzucht sowie die zunehmende Liefe-rung von aufbereitetem Fleisch anstelle von Schlachtvieh für Wien und Prag eine Ausweiterung der in der Region verbleibenden Wertschöpfung.100 Im späten 18.

Jahrhundert war das Ausmaß der regionalen Wertschöpfung deutlich geringer

97 Vgl. Chonihsman, Pronyknennja, 130. Kulczykowski, „Deindustrializacja“, 81. Hryniuk, Peasants with Promise, 40–55. Bujak, Rozwój gospodarczy, 363. Buszko, Wandel, 14. Madurowicz-Urbańska, Industrie, 172f. Kool, Development, 95.

98 Eigene Berechnung auf Grundlage von : HHStA, KA, Nachlass Zinzendorf, Handschrift Bd. 118, 321–377, 523–590. ÖStA, Bankale, Nr. 2982, Merkantiltabellen M3.

99 Eigene Berechnungen auf Grundlage von Biegeleisen, Stan ekonomiczny, 346–361. Vgl. Chonihs-man, Pronyknennja, 133–135. Kempner, Handel, 305. Tokarski, Ethnic conflict, 208, 211.

100 Ebenda, 227f., 232. Berger, Landwirtschaft in Galizien, 75. Tremel, Binnenhandel, 372.

wesen, weil die Mehrheit des aus Galizien exportierten Viehs ursprünglich aus der Moldau und Wolhynien stammte.101

Dieser positiven Wirkung der integrierten Agrarmärkte wirkte jedoch der Druck auf Preise und Profite in der Landwirtschaft entgegen, der infolge der sich intensivierenden internationalen Verflechtungsprozesse zunahm. Als Reaktion auf durch Eisenbahn, Dampfschiff und verbesserte Kühlungstechniken leichter, ra-scher und billiger transportierbares Fleisch aus Argentinien und Australien sowie Getreide aus den USA und der russisch regierten Ukraine, wurden 1882 in Öster-reich-Ungarn Agrarschutzzölle eingeführt, die dem Sinken der Weltmarktpreise am Binnenmarkt entgegenwirkten.102 Tatsächlich lagen die Rohstoffpreise in der Habsburgermonarchie um die Jahrhundertwende stets über dem Weltmarktniveau.

Die Agrargüterpreise stiegen Mitte der 1890er Jahre sowie im letzten Jahrfünft vor Weltkriegsausbruch an, und zwar jeweils stärker als für Industrieprodukte, wäh-rend Rohstoffe auch auf den internationalen Märkten ab 1897 wieder zunehmende Preise verzeichneten.103

Konnten durch zollpolitische Maßnahmen auch Galiziens terms of trade am Binnenmarkt in Relation zu den internationalen Märkten leicht verbessert wer-den, so änderte dies nichts an der insgesamt negativen Handelsbilanz sowohl 1890/92 als auch 1913. Der defizitäre Saldo des galizischen Warenaustauschs war gegenüber den österreichisch-ungarischen Regionen am stärksten, während im Handel mit der Schweiz und Deutschland Überschüsse erzielt wurden.104 Hier wird erneut die Wirkung der protektionistischen Zollpolitik deutlich, die Indus-triewarenimporte von jenseits der Staatsgrenzen hemmte und am Binnenmarkt förderte. Zugleich wird deutlich, dass die relative Verbesserung von Galiziens terms of trade das Ungleichgewicht des Austauschmusters von Fertigwarenim-porten versus RohstoffexFertigwarenim-porten nicht kompensieren konnte. Auch darf ein Zu-sammenhang mit den beschränkten Produktivitätssteigerungen im Agrarsektor vermutet werden.

101 HHStA, KA, Nachlass Zinzendorf, Handschrift Bd. 133, 51.

102 Dinklage, Die landwirtschaftliche Entwicklung, 420f. Doppler, Die sozioökonomischen Verhält-nisse, 41. Eddie, Terms of Trade, 310f. Gritsch, Entwicklung der Land- und Forstwirtschaft, 576.

Landau/Tomaszewski, Wirtschaftsgeschichte Polens, 39. Matis, Österreichs Wirtschaft, 123, 376f.

Turnock, Economy of East Central Europe, 63. O’Rourke/Williamson, Globalization, 35, 41–43.

Für Galizien siehe : Szczepanowski, Nędza, 123. Paygert, Podstawy, 218, 237.

103 Otruba, Einführung, 131, 139, 150. Mesch, Arbeiterexistenz, 121, 129, 131. Ocampo/Parra-Lan-court, Terms of trade, 30f.

104 Die Behauptung von Kempner (Handel, 305), wonach Galiziens Handelsbilanz in den 1890er Jahren aktiv gewesen sei und erst nach der Jahrhundertwende ein Passivum aufgewiesen habe, wird durch die vorliegenden Daten nicht gestützt.

Abschließend sei noch auf die wachsende Abhängigkeit sowohl Galiziens als auch der Habsburgermonarchie im späten 19. Jahrhundert verwiesen. Es scheint, dass die zunehmende Verdrängung der österreichisch-ungarischen Fertigwaren vom Weltmarkt bzw. von mehreren innereuropäischen Märkten um die Jahrhun-dertwende durch die Intensivierung der Austauschbeziehungen innerhalb der Staatsgrenzen kompensiert wurde. In diesem Zusammenhang und angesichts der sich abschwächenden Bedeutung Ungarns als Absatzmarkt für Fertigwaren kam der Erschließung Galiziens als Absatz- und Bezugsmarkt eine wesentliche Bedeu-tung zu.105 Gleichzeitig betrafen die Verdrängungstendenzen jenseits der Staats-grenzen den galizischen Außenhandel auch direkt – beispielsweise im Fall des Deutschen Reichs, wirkten sich in Summe aber weit weniger stark aus, da Galizien vor allem Agrargüter und Rohstoffe exportierte.106

Folglich kam Galizien sowohl direkt als auch indirekt durch den Abstieg der Habsburgermonarchie zu einem semiperipheren Wirtschaftsraum unter Druck – neben Begrenzungen auf den Auslandsmärkten war die galizische Ökonomie auch mit der wachsenden Konkurrenz am Binnenmarkt konfrontiert, die sich im Zuge der Verdrängung anderer habsburgischer Produzenten auf internationaler Ebene verstärkte. Insofern lässt sich Galiziens Status in der überregionalen Arbeitsteilung Zentraleuropas um die Jahrhundertwende als multiple Peripherie beschreiben, auch wenn die Austauschbeziehungen innerhalb Österreich-Ungarns dominierten.

4.2 Geldflüsse : Industrie, Finanz und öffentlicher Haushalt