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Postkoloniale Ansätze und Entwicklungskonzepte : Räumliche

1. Einleitung

1.2 Theoretische Zugänge

1.2.3 Postkoloniale Ansätze und Entwicklungskonzepte : Räumliche

Um Akteuren und Institutionen keine (systemische) Handlungslogik ex-post zuzuschreiben,95 sind ihre Entscheidungen und Handlungen als soziale Praxis in einem diskursiven Kontext zu verstehen. Diskursanalytische Zugänge üben wie-derholt Kritik an strukturalistischen Ansätzen und mahnen einen Perspektiven-wechsel ein, der sozioökonomische Phänomene in ihrer diskursiven Dimension berücksichtigt.96 Dadurch kann das eurozentrische, ahistorisch-deterministische Rationalitätspostulat neoklassischer und modernisierungstheoretischer Modelle97 sinnvoll von einer integrierten Perspektive auf das Ökonomische abgelöst werden.

Narrative sind folglich nicht an einer a priori vorgegebenen Rationalität zu mes-sen, sondern nach ihren unterschiedlichen Konstrukten, Interesmes-sen, Interpretatio-nen, Deutungen und den daraus abgeleiteten Schlüssen und Handlungsprämissen

92 Dhogson, World-System, 35. Nolte, Welt, 61. Adamczyk, Stellung, 83f.

93 Massey, Spatial Division, 7,11,23.

94 Baltzarek, Zentralistische und föderalistische Aspekte.

95 Hárs u.a., Zentren peripher, 2.

96 Cabrera, Historia, 55, 59–63. Sarasin, Geschichtswissenschaft, 20f.

97 Siehe dazu : Hudson, History, 209f.

zu befragen. Ökonomische Diskurse lassen sich somit als gestaltendes Element von Zentrum-Peripherie-Beziehungen lesen, die Aufschlüsse über Entstehung bzw. Reproduktion räumlicher Hierarchien geben : Mithilfe des Instrumentariums der Diskursanalyse kann die Auswirkung von sozioökonomischen Interessen, wirt-schaftspolitischen Paradigmen und Entwicklungskonzepten auf zwischenräumli-che Austauschprozesse untersucht werden.

Von besonderem Interesse sind theoretische Überlegungen der postkolonialen Studien, die sich in den vergangenen Jahren von einer Kolonialismustheorie zu einer kulturwissenschaftlich und diskursanalytisch grundierten Macht- und Kul-turtheorie entwickelt haben.98 Aufbauend auf dem Verständnis von Kolonialismus als „sendungsideologische[n] Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen“,99 wurde in der Dichotomie von Dominanz und Subalternität – den kolonisierenden Zivili sierten und den kolonisierten Barbaren – der grundlegende Mechanismus für koloniale Herrschaft geortet.100 Dabei wurden die subalternen Gruppen diskursiv

„möglichst nahe an die Natur“ herangerückt, um die Beherrschung zu rechtferti-gen.101

Aus diesem diskursiv konstruierten Verhältnis wurden Zivilisierungsmissio-nen abgeleitet, die die Anpassung der als subaltern kodierten Bevölkerungsgrup-pen an eine als höherwertig postulierte kulturelle Ordnung proklamierten, in der Praxis jedoch koloniale Herrschaft rechtfertigen sollten. Zivilisierungsmissionen können institutionell vom Staat (empire building, wirtschaftliche und geostrate-gische Interessen) oder von religiösen oder kulturellen Eliten (Ausweitung von Glaubensgemeinschaften, Aufbau von Schulen und Betrieben, Verbreitung von Kulturtechniken, medizinische und wirtschaftliche „Entwicklungshilfe“) getragen werden. Diese Gruppen sind zwar verschieden, aber nicht völlig inkompatibel – z. B. Militär und Bürokratie einerseits, Lehrer, Prediger, Mediziner und Ingenieure andererseits.102

Dieses Modell wurde in weiterer Folge auf Gesellschaften und Räume über-tragen, die eine etwaige koloniale Herrschaft bereits überwunden oder aber nie erlebt hatten. Besonders einflussreich war hierbei das von Edward Said entwickelte Orientalismustheorem, das den „Orient“ als eine durch den Diskurs west- und zentraleuropäischer Autoren geschaffene, pejorative Kategorie dekonstruierte.

98 Feichtinger/Prutsch/Csáky, Habsburg postcolonial.

99 Osterhammel, Kolonialismus, 21.

100 Fanon, Haut, 63, 68.

101 Nolte, Welt, 72.

102 Schröder, Mission, 18, 20, 22, 28.

Terminologisch sprach Said von Orientalismus als „Western style for dominating, restructuring and having authority over the Orient“103 und bezeichnete den diskur-siven Prozess als Orientalisierung bzw. othering.104

Dieses Diktum hat sich fortan als allgemeine Leitkategorie für die Konstruktion einer hierarchischen räumlichen Ordnung auch jenseits des von Said in den Blick genommenen eurasischen Grenzraums durchgesetzt : Kulturelle Differenz zwi-schen verschiedenen Gesellschaften wurde als essenzialistisches und damit sowohl unveränderbares als auch hierarchisches Verhältnis gedeutet. Wurde diese kulturell grundierte politische und soziale Ordnung auch räumlich verortet, im Stil einer imaginierten hegemonialen Kulturgeografie, wird der Begriff des mental mapping verwendet. Ganz in diesem Sinn belegte die bereits erwähnte Arbeit von Larry Wolff analoge Wahrnehmungen zu Osteuropa,105 während die Studien von Hubert Orłowski zum deutschen Polendiskurs in der Neuzeit106 und von Gerhard Pfeisin-ger zur habsburgischen Policeywissenschaft des 18. Jahrhunderts107 Beziehungen zwischen Zivilisierungs- und Kolonialdiskursen einerseits und sozioökonomischen Entwicklungsprozessen andererseits orteten. Auch das Konzept der „Rückständig-keit“ lässt sich somit als Teil von Zivilisierungsmissionen betrachten : Der kon-struierten Minderwertigkeit von Gruppen entsprach deren Transformation im Sinne eines normativ verstandenen Kulturbegriffs. Somit lassen sich Kolonial- und Zivilisierungsdiskurse in Bezug zu Zentrum-Peripherie-Beziehungen setzen, „als Praxis jener Fremdherrschaft […], die kulturelle Differenz als Rechtfertigungsstra-tegie für politische und sozioökonomische Ungleichheit operationalisiert“.108

Auch wenn diese Arbeiten das Orientalisierungstheorem nicht explizit verwen-den, verweist insbesondere Larry Wolff auf die Affinitäten zwischen Orient- und Osteuropadiskurs.109 Dementsprechend wird im Folgenden der Begriff der Orien-talisierung verwendet, um jenen Prozess der diskursiven Konstruktion räumlicher und sozialer Hierarchien auf der Grundlage als unveränderbar und essenzialistisch gedachter kultureller Differenzen zu bezeichnen. Im Hintergrund dieses Diskurses steht dabei jeweils das Metanarrativ, das Unterschiede und Machtgefälle entlang einer imaginierten Ost-West-Achse zu ordnen versucht. Dabei wird das Orienta-lismustheorem nicht nur in räumlicher Hinsicht, sondern auch hinsichtlich seiner inhaltlichen Ausprägung abgeändert.

103 Said, Orientalism, 3.

104 Ebenda, 49–73.

105 Said, Orientalism. Wolff, Inventing Eastern Europe.

106 Orłowski, Polnische Wirtschaft, 141.

107 Pfeisinger, Arbeitsdisziplin und frühe Industrialisierung, 164.

108 Ruthner, K.u.K. Kolonialismus, 113.

109 Wolff, Inventing Eastern Europe, 7.

So sind neben der Kongruenz von räumlicher und kultureller Dichotomie insbesondere in plurikulturellen Imperien komplex verwobene Netzwerke an sozio-kulturellen und ökonomischen Differenzen auszumachen. Dieses von Ste-fan Simonek als „Mikro- oder Binnenkolonialismen“ bezeichnete Wechselspiel von Dominanz und Unterordnung wird in Galizien an der Doppelfunktion der galizisch-polnischen Eliten deutlich : Diese treten als von den habsburgischen Zentren und deren dominanten Führungsschichten – wie Deutschböhmen und den deutschsprachigen Eliten der übrigen Erblande – Beherrschte und gleichzeitig als „Kolonisierende“ gegenüber Ruthenen bzw. Ukrainern und Juden in Erschei-nung.110 Für den gesamtpolnischen Kontext verwiesen Maria Janion und Janusz Korek auf analoge Befunde.111 Die imaginierten Trennlinien zwischen Unterwer-fung und Dominanz verlaufen somit sowohl zwischen nationalen bzw. ethnischen Konstrukten innerhalb eines Raumes als auch zwischen verschiedenen regionalen, d. h. räumlichen Zuschreibungen : Polen, Ruthenen und Juden waren mit wech-selseitigen Dominanz- und Subalternitätsverhältnissen untereinander konfrontiert, zugleich konnten sie auf eine gemeinsame galizische Regionalidentität gegenüber anderen Kronländern und dem imperialen Zentrum Wien rekurrieren. Vereinzelt gab es aber auch Allianzen zwischen einer peripheren Gruppe und dem Zentrum gegen eine andere innerhalb der Region verankerte Gruppe. Regionale, nationale und imperiale Raum- und Identitätskonzepte überlappen und widersprechen sich somit wechselweise.112 Zugleich sind die vielfältigen sozialen Bruchlinien hinsicht-lich der ökonomischen Interessenlagen und Konstellationen zu beachten, die sich als ethnische bzw. kulturelle Arbeitsteilungen113 bezeichnen lassen und sich auf vielfältige Art und Weise mit den räumlichen Hierarchien verbinden.