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Wertschöpfungsextensität, niedriger Verarbeitungsgrad

3. Produktionssphären

3.1 Landwirtschaft

3.2.3 Wertschöpfungsextensität, niedriger Verarbeitungsgrad

Die Fragilität des galizischen Sekundärsektors äußert sich nicht nur in der Domi-nanz von Kleinbetrieben, der Unbeständigkeit von Unternehmen bis hin zu Ver-drängungsprozessen sowie dem niedrigen Beschäftigten- und Mechanisierungsgrad.

Wie bereits die Diskrepanz zwischen der Anzahl von Fabriken und der durch sie er-wirtschafteten Wertschöpfung deutlich gemacht hat, kennzeichneten die galizische Ökonomie wertschöpfungsarme Branchen mit einer relativ geringen Verarbeitungs-intensität.88 Diese Tendenz, die stark durch die gutswirtschaftliche Prägung der Re-gion beeinflusst wurde, verstärkte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, was auch das bescheidene Transformationspotenzial der Prosperitätsphase der Jahrhundertwende unterstreicht : Pointiert formuliert handelte es sich um ein Wachstum in die „falsche Richtung“. Dies macht ein Vergleich der Wertschöpfungsanteile der industriellen Branchen in den Jahren 1841 und 1911/13 deutlich (Abbildung 3-3).

Zu berücksichtigen ist, dass hierin jeweils nur die Fabrikindustrie, die 1911/13 69,3 Prozent der Wertschöpfung des sekundären Sektors erwirtschaftete,89 nicht jedoch die Grundstoffindustrie erfasst ist, da für diese im Jahr 1841 keine Wertschöpfungs-berechnung vorliegt. Im Jahr 1911/13 blieb die Rohstoffaufbereitung, angeführt von der Erdöl- und Erdwachsförderung sowie dem Bergbau, mit 79,8 Millionen Kronen deutlich hinter der Wertschöpfung der Fabrikindustrie mit 376,5 Millionen Kronen zurück.90 Weiters gilt es in Betracht zu ziehen, dass die Erdölraffinierung (Kategorie

„Treibstoff und Beleuchtung“) bis zur Jahrhundertmitte heimgewerblich verfasst war und daher im Jahr 1841 nicht statistisch erfasst wurde, was die Verschiebung der prozentuellen Anteile erheblich beeinflusst.91 Daher dürfen die Veränderungen in der Wertschöpfungsstruktur nicht als Rückgänge in absoluten Zahlen aufgefasst, sondern müssen als Ausdruck unterschiedlicher Wert- und Produktionszunahmen verstanden werden. Hatte die Nahrungs- und Genussmittelindustrie 1841 33,4 Pro-zent der industriellen Wertschöpfung Galiziens und der Bukowina erwirtschaftet, so war dieser Anteil bis 1911/13 leicht gestiegen (Abbildung 3-3).

Die vor allem aus der Alkoholerzeugung bestehende Branche war weiterhin mit

88 Die Wertschöpfungskoeffizienten der meisten Industriebranchen Galiziens überschritten keine 0,60%. Kool, Development, 268.

89 Eigene Berechnung nach : Ebenda, 275, 295, 297, 300.

90 Daten nach : Ebenda, 290, 295, 297.

91 Bar u.a., Problem protoindustrializacji, 70.

Abbildung 3-3: Industrielle Wertschöpfung Galiziens nach Branchen 1841 und 1911/13

Quelle: Kool, Development, 268, 295, 298.

0 0,1 0,2 0,3 0,4

1841 1911/13

Ziegeln, Tonprodukte, Glas Metallprodukte Maschinenbau

Chemikalien Textilien Papier und Leder

Holzprodukte Essen, Getränke, Tabak Treibstoff und Beleuchtung Druckerei

Abstand der bedeutendste Gewerbezweig Galiziens, verzeichnete jedoch einen der niedrigsten Wertschöpfungsgrade.92 Das Gewicht der Nahrungsmittelerzeugung war eine Folge der Umstrukturierung der Gutswirtschaften nach 1848, wodurch mit der Landwirtschaft verbundene Gewerbe forciert wurden : Neben Schnaps-brennereien und Bierbrauereien betraf dies Zuckerraffinerien, Getreidemühlen, aber auch Sägewerke.93 Dementsprechend stark war auch die Holzindustrie, die den vierten Platz belegte, allerdings aufgrund der auch hier auftretenden Kon-zentrations- und Verdrängungsprozesse anteilsmäßig stark zurückfiel. Holz wurde vorwiegend in rohem Zustand oder zu einem niedrigen Aufbereitungsgrad expor-tiert.94 Ebenso verlor die Herstellung von Ziegeln, Tonprodukten und Glas, die mit durchschnittlich 0,68 Prozent den zweithöchsten Wertschöpfungsgrad innerhalb der galizischen Industrie aufwies, relativ an Bedeutung.95 Am drastischsten war der Rückgang der Lederwaren- und Papiererzeugung, gefolgt von der Textil- und Bekleidungsindustrie, die mit Abstand den höchsten Wertschöpfungsgrad aller galizischen Industriebranchen erzielten.96 Hier werden die Verdrängungsprozesse der Kleinproduzenten deutlich. Dennoch war die Textilbranche am Vorabend des Ersten Weltkriegs die drittstärkste Branche, was auf die punktuelle Etablierung einer mechanisierten Fabrikproduktion verweist.97 Da sich diese jedoch vornehm-lich auf die Garnherstellung beschränkte, versteckte sich dahinter ein beachtvornehm-liches downgrading.98

Unter den Wachstumsbranchen steht die wertschöpfungsintensive Raffinie-rung von Erdöl an erster Stelle, die 1841 nicht erfasst war und 1911/13 mit knapp

92 Kool, Development, 268.

93 Franaszek, Die wirtschaftspolitische Gesetzgebung, 97. Kramarz, Młyne, 302. Röskau-Rydel, Gali-zien, 109. Chonihsman, Pronyknennja, 48.

94 Eckert, Wälder, 74f. Bujak, Galicya, Bd. II, 30f. Die Holzindustrie hatte mit 0,60 Prozent einen der höchsten Wertschöpfungsgrade der galizischen Industrie. Kool, Development, 268.

95 Kool, Development, 268. Der Durchschnittswert von 0,68 Prozent ergibt sich aus der – ungewich-teten – Errechnung der Quoten für Ziegeln und Tonprodukte (0,60 Prozent) sowie Glas (0,75 Prozent).

96 Durchschnittlich betrug der Wertschöpfungskoeffizient der Textilindustrie 0,72 Prozent, was die starken Unterschiede innerhalb der Branche verdeckt : Während die Leinen- und Baumwollproduk-tion mit 0,34 bzw. 0,40 Prozent am unteren Ende lagen, wiesen Wollerzeugung (0,63 Prozent) und nicht näher genannte „andere“ Zweige (1,51 Prozent) deutlich höhere Werte auf. Auch wenn die Verdrängungsprozesse vor allem die Leinen- und Wollerzeugung erfassten, war der Rückgang des Wertschöpfungsgrads beachtlich. Daten nach : Kool, Development, 268.

97 Andlauer, Die jüdische Bevölkerung, 180f. Chonihsman, Pronyknennja, 168. Tokarski, Ethnic con-flict, 157f.

98 Gąsowska, Przemysł, 347f.

22 Prozent den zweithöchsten Anteil der industriellen Wertschöpfung stellte.99 Hierin spiegelt sich die erfolgreiche Industrialisierung der Branche ab den 1880er Jahren wider.100 Während die Fördermengen von Erdöl infolge technologischer Neuerungen ab den 1880er Jahren rasant stiegen, sodass Galizien im Jahr 1909 mit 5 Prozent Anteil auf Platz drei der weltweiten Ölförderung rangierte,101 blieb die Endaufbereitung in der Region dahinter zunächst weit zurück und erreichte erst in den letzten Vorkriegsjahren mit der Inbetriebnahme neuer Raffinerien 40–50 Prozent – der hohe Anteil für 1911/13 reflektiert somit die jüngste Entwicklung der letzten Vorkriegsjahre.102

Weiters verzeichnete der wertschöpfungsintensive Maschinenbau eine starke Zunahme, die chemische Industrie hingegen nahm nur mäßig zu, wies aber einen niedrigen Wertschöpfungsgrad auf.103 Die Metallindustrie konnte sich bei mini-malen Zuwächsen behaupten. Dahinter versteckt sich die Zurückdrängung der gutswirtschaftlichen Eisenhütten zugunsten von kapitalintensiven Großbetrieben in der Metallverarbeitung und im Maschinenbau. Durch das Verschwinden klein dimensionierter und lokal ausgerichteter Produzenten schrumpfte der Sektor zah-lenmäßig, hingegen stieg der Verarbeitungsgrad. Allerdings konnte die galizische Eisenproduktion den regionalen Bedarf nicht decken.104

Insgesamt nahmen im Lauf des 19. Jahrhunderts in Galiziens Industriestruktur Wertschöpfungsintensität und Verarbeitungsgrad ab. Die Expansion von Branchen mit höherem Wertschöpfungsgrad war im Wesentlichen auf die Erdölraffination und den Maschinenbau beschränkt, während nur die letztere auch die notwendige Stabili-tät und einen höheren Verarbeitungsgrad in der Güterkette aufwies. Umgekehrt stag-nierte eine Reihe wertschöpfungsintensiver Branchen oder musste relative Einbußen hinnehmen – wie die Textil- und Bekleidungsindustrie, die Herstellung von Ziegeln, Ton- und Glaswaren sowie die Holz-, Papier- und Ledererzeugung. Die wertschöp-fungsspezifische Branchenstruktur findet mit Einschränkungen auch im

99 Die Berechnung Kools (Development, 295), weist die Wertschöpfung der Erdölraffinerien mit 79,3 Millionen Kronen aus, während Burzyński (Robotnicy w przemyśle ciężkim, 20) mit Rekurs auf zeitgenössische Quellen nur 32 Millionen veranschlagt.

100 Bar u.a., Problem protoindustrializacji, 71, 81f. Madurowicz-Urbańska, Les relations, 76. Burzyński, Robotnicy w przemyśle ciężkim, 19.

101 Bar u.a., Problem protoindustrializacji, 68f. Burzyński, Robotnicy w przemyśle ciężkim, 26. Kap-peler, Geschichte der Ukraine, 158.

102 Landau/Tomaszewski, Wirtschaftsgeschichte Polens, 73. Burzyński, Robotnicy w przemyśle ciężkim, 27. Kula, Historia gospodarcza Polski, 75. Chonihsman, Pronyknennja, 78f. Bujak, Gali-cya, Bd. II, 146f., 149. Kargol, Izba, 27.

103 Wertschöpfungskoeffizienten der industriellen Branchen für 1841 : Kool, Development, 268.

104 Chonihsman, Pronyknennja, 162f. Bujak, Rozwój gospodarczy, 357. Szczepański, Przemysł żelazny, 4f. Baltzarek, Zentralistische und föderalistische Aspekte, 89.

muster der Beschäftigung ihre Entsprechung, wie die Daten für die Jahre 1902 und 1910 belegen (Abbildung 3-4). Da die dieser Statistik zugrunde liegenden Branchen-kategorien etwas von jenen bei der Wertschöpfungsstruktur verwendeten abweichen, werden manche Branchen bei der Analyse kombiniert betrachtet. Demnach zählten die auch bei der Wertschöpfung führenden Branchen der Lebensmittelindustrie und der Mineralindustrie (Erdölgewinnung, Ziegel, Ton und Glas) zu den wichtigsten Arbeitgebern in Galiziens Industrie. Die Metallindustrie war gegenüber ihrem Anteil bei der Wertschöpfung deutlich überrepräsentiert und verzeichnete zwischen 1902 und 1910 mit Abstand den stärksten Beschäftigtenzuwachs.

Umgekehrt war die Textilindustrie im Vergleich mit der Wertschöpfung nicht nur unterrepräsentiert, sondern wies zwischen 1902 und 1910 sogar einen leichten Beschäftigungsrückgang auf, was in deutlichem Widerspruch zu den Berechnungen Tokarskis105 steht, der für die gleiche Phase einen prozentuellen Anstieg der schäftigten in dieser Branche ortete. Auch andere Daten belegen einen höheren Be-schäftigungsstand für 1910 (8.269) und weisen einen deutlichen Zuwachs seit 1885 aus (3.398). Parallel dazu sank die Zahl der Betriebe von 943 auf 56, d. h. es stieg die Konzentration der Branche.106 Aus diesen scheinbar widersprüchlichen Daten lässt sich jedenfalls herauslesen, dass die Verdrängung der heimgewerblichen Textilerzeu-gung zumindest teilweise durch den Aufbau fabrikindustrieller Strukturen kompen-siert werden konnte. Da die Branche jedoch bei der Wertschöpfung einen relativen, bei der Beschäftigung einen absoluten Bedeutungsverlust zu verzeichnen hatte, lässt sich von einer partiellen Deindustrialisierung der Branche sprechen.

Insgesamt wies Galizien eine unvorteilhafte Position im Vergleich mit der im internationalen Kontext insgesamt semiperipheren industriellen Wertschöpfungs-struktur Cisleithaniens auf, die bedeutend höhere Anteile bei der Textil- und Be-kleidungserzeugung (24 Prozent), der Metallindustrie (20 Prozent) und der chemi-schen Industrie (10 Prozent) aufwies. Zwar lag Galizien beim relativen Rückgang der Textil- und Bekleidungsindustrie und der Ausweitung der Nahrungsmittel-industrie im Trend der westlichen Reichshälfte. Allerdings war die Zunahme der Nahrungsmittelbranche in Galizien weit stärker, die Zunahmen im Metall- und Chemiesektor ungleich schwächer.107 Die Tendenzen der Wertschöpfung finden in der Betriebs- und Beschäftigtenstruktur ihre Entsprechung. Bei der Gewerbezäh-lung von 1902 hielt Galizien nur in der Baumaterialien-, Holz- und Nahrungsmit-telbranche relevante Anteile an den cisleithanischen Industriebetrieben. Bei der Beschäftigtenstruktur nach Branchen ergibt sich auch gegenüber dem Königreich

105 Tokarski, Ethnic conflict, 157f.

106 Missalowa u.a., Przemysł włókienniczy, 231, 263, 265f. Franaszek, Poland, 407.

107 Lauss, Wachstum, 7.

Polen bei der Textilindustrie und beim preußischen Teilungsgebiet hinsichtlich der Metallindustrie ein deutlicher Nachteil.108

Abbildung 3-4 : Beschäftigtenstruktur der galizischen Industrie 1902 und 1910 nach absoluten Zahlen

Quelle : Chomać, Aneks, 104.

Somit hatte Galizien bei kaum einem der Leitsektoren des 19. und frühen 20.

Jahrhunderts einen relevanten Anteil – weder an der Eisen- und Stahlerzeugung noch an der ab der Jahrhundertwende neu auftretenden chemischen und elektri-schen Industrie. Die Steinkohleförderung war zwar in Galizien verbreitet, konnte aber trotz Mechanisierung und Produktionswachstum die Binnennachfrage nicht decken. Als Impuls für Industrialisierungsprozesse spielte sie ohnehin kaum eine Rolle, da die Mechanisierung der Betriebe gering war.109 Umgekehrt war die Textil-erzeugung, der Leitsektor zwischen dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in Galizien bedeutsam, unterlag aber anders als in den böhmischen Ländern, Nieder-österreich oder Russisch-Polen beachtlichen Deindustrialisierungstendenzen.110 Die Verdrängung der heim- und kleingewerblichen Strukturen überwog letztlich die Industrialisierungstendenzen kapitalintensiver Rohstoffe wie Erdöl sowie in der chemischen Industrie als auch bei der Metall- und Maschinenherstellung.

108 Chomać, Aneks, 106. Otruba, Quantitative, strukturelle und regionale Dynamik, 156.

109 Długoborski, Górnictwo i hutnictwo, 130. Burzyński, Robotnicy w przemyśle ciężkim, 22–24.

110 Matis, Österreichs Wirtschaft, 420. Good, Aufstieg 51f. Turnock, Economy of East Central Eu-rope, 71, 75.

0 4000 8000 12000 16000 20000

1902 1910

Metallindustrie Mineralindustrie Chemische Industrie Holzindustrie Papier und Druck Textil- und Bekleidungsindustrie Lederindustrie Lebensmittelindustrie

In den vorangegangenen Abschnitten ist Galiziens wirtschaftliche Lage von ver-schiedenen Seiten beleuchtet worden, um eine Einschätzung nicht nur im zeitli-chen Verlauf, sondern auch im überregionalen Vergleich zu gewinnen. Die dabei sichtbar gewordenen Peripherisierungsprozesse – etwa das geringe Ausmaß von Urbanisierung, Wohlstand und Produktivität, die anhaltend agrarisch geprägte Produktions- und Beschäftigungsstruktur, die unvorteilhafte Branchenzusammen-setzung des Sekundärsektors bis hin zur Deindustrialisierung – sollen im Folgen-den systematisch im Zusammenhang mit Austauschprozessen erörtert werFolgen-den.

Anhand des Waren- und Güteraustausches, der Flüsse von Kapital, Investitionen und Steuergeldern, der Wanderströme von Arbeitskräften sowie von Technologie-transfers wird der Einfluss von integrativen Faktoren auf Galiziens ökonomische Position in der überregionalen Arbeitsteilung herausgearbeitet.

4.1 Handel : Waren- und Güterströme

4.1.1 Zölle, Mauten, Verbote : Die wechselnde Durchlässigkeit ökonomischer Grenzen 4.1.1.1 Innere Grenzen – der habsburgische Binnenmarkt

Die Grenzen, die die Reichweite und das Ausmaß von ökonomischen Austausch-prozessen regulieren, sind selektiv durchlässig. Zudem unterschieden sie sich in ihrer Art sowie Funktionsweise und unterlagen einem zeitlichen Wandel.1 Zoll- und Mautbestimmungen an den Staatsgrenzen und innerhalb des staatlichen Ter-ritoriums bestimmten die Kosten des Warenverkehrs und regulierten somit das Ausmaß von Import und Export. Die Instrumentarien, die dem Staat dabei zur Verfügung standen, reichten von Veränderungen der Zollsätze über Handelsver-bote für einzelne Produkte oder Gütergruppen bis zu einer gänzlichen Freigabe von Warenströmen und der Aufhebung von Zollsätzen.

Mit der Annexion Galiziens im Lauf des Jahres 1772 wurde eine neue politische und wirtschaftliche Grenze gezogen, „wo nie zuvor eine war“.2 Gleichzeitig fielen die bislang bestehenden Staatsgrenzen im Süden und Westen weg. Damit setzte ein Prozess ein, in dessen Verlauf Galizien aus seinen bisherigen Handelsverflechtungen sukzessive herausgelöst wurde : In den unmittelbaren Jahren nach der Ersten Teilung Polen-Litauens blieben Galiziens Grenzen in alle Richtungen relativ durchlässig :

1 Zu der unterschiedlichen Funktion von Grenzen siehe : Haslinger, Grenze als Strukturprinzip, 13f.

2 Pacholkiv, Entstehung, 169.

Dies lag zunächst auch daran, dass die endgültige Festlegung des Grenzverlaufes aufgrund der Uneinigkeit zwischen den drei Teilungsmächten bis 1776 andauerte.3 Die Handelspolitik war zunächst von Kontinuität gekennzeichnet : Die bestehenden polnisch-litauischen Zollsätze wurden beibehalten und an der neu gezogenen pol-nisch-galizischen Grenze angewendet. Um dem neu in Besitz genommenen Territo-rium die wichtigen Einnahmen aus dem lukrativen Transithandel zu sichern, wurde allerdings der Durchfuhrzoll bereits 1773 auf die Hälfte gesenkt.4

Die Diskussionen der habsburgischen Zentral- und Provinzbehörden in den 1770er Jahren demonstrieren die Unsicherheit sowie die verschiedenen Interes-senlagen hinsichtlich des zoll- und handelspolitischen Status’ Galiziens. Noch ein Jahr vor der Grenzziehung 1776 wurde ein Handelsvertrag mit Polen geschlossen, der nicht nur den Handelsinteressen der Habsburgermonarchie entgegenkam, son-dern durch begünstigte Zölle bei Ein-, Aus- und Durchfuhr die Handelskontakte zwischen Galizien und der geschwächten Adelsrepublik aufrechterhalten sollte.5

Gleichzeitig erschwerte die im gleichen Jahr etablierte Zollunion den Waren-austausch zwischen den Erblanden und Galizien. Die Aufhebung der Binnen-zölle und -mauten zwischen den böhmischen sowie österreichischen Provinzen (mit Ausnahme Tirols, der Vorlande und Adriaküste, angeführt von den Freihäfen Triest und Fiume) ging zwar mit einer Aufhebung der Importverbote einher. Zu-gleich wurden jedoch die Einfuhrzölle stark erhöht, was auch für Warenlieferun-gen aus Galizien galt.6

Anstelle der von einigen Beamten geforderten Eingliederung Galiziens in die Zollunion wurden in den Zolltarifen 1776 und 1778 Zollsenkungen vorgenom-men, die den Handel zwischen den Erblanden sowie der ungarischen Länder mit der nördlichen Provinz fördern und den Schmuggel ausländischer Waren unter-binden sollten. Darüber hinaus wurden Zollerleichterungen für einzelne Waren bis 1784 beschlossen. 1779 erfuhr die Zoll- und Mautgrenze mit der Schaffung der Freihandelsstadt Brody eine räumliche Veränderung.7

Erst die preußische Hochzollpolitik führte 1784 zur Integration Galiziens in die Zollunion : Die bis dahin niedrigen Einfuhrzölle Galiziens, die einen Sog für

3 Ebenda, 172.

4 Ebenda, 171–173. Beer, Zollpolitik, 299. Grossmann, Handelspolitik, 44f.

5 Grossmann, Handelspolitik, 183, 200. Beer, Die österreichische Handelspolitik unter Maria There-sia, 97. Drozdowski, Traktaty handlowe, 95. Kazusek, Handel, 53f. Sauer, Aspekte der Handelspoli-tik, 252.

6 Ebenda, 242. Beer, Zollpolitik, 278. Freudenberger, Lost Momentum, 116. Grossmann, Handelspo-litik, 209f. Hassinger, Außenhandel, 61. Komlosy, Grenze, 44–46.

7 Grossmann, Handelspolitik, 221f., 224, 252, 254. Kuzmany, Grenze an der Grenze, 121–123. Ders., Brody, 51–53, 55. ÖStA, FHKA NHK Kamerale Ö Akten Fasz. 7 G, Nr. 210, V.356, IV.257.

ausländische Fertigwaren bewirkten, aber keine Kompensation durch den Export galizischer Produkte auf der Weichsel zur Folge hatten, sollten durch hohe Schutz-zölle und der Erschließung neuer Absatzmärkte für die galizischen Produkte in den Erblanden abgelöst werden.8

Ab diesem Zeitpunkt war Galizien Teil des westlichen Zoll- und Handelsge-bietes der Habsburgermonarchie. Da über die Grenzregion am nordöstlichen Rand des Staates umfangreiche Außenzollgrenzen sowie ein beachtliches Stück der Zwi-schenzolllinie zu Ungarn verliefen, hatten handels- und zollpolitische Veränderun-gen unmittelbare AuswirkunVeränderun-gen. Dabei konnten es sich sowohl um innere als um äußere Grenzverschiebungen handeln. So förderte die Aufhebung der Zwischen-zolllinie zu Ungarn per 1. Oktober 1850 den handelspolitischen Interaktionsrah-men Galiziens innerhalb der Habsburgermonarchie, während die Aufnahme der Lombardei, Venedigs und Tirols (1825/26) in die Zollunion für Galizien weniger bedeutsam gewesen war.9

Allerdings hatten zollpolitische Erleichterungen den Warenaustausch zwischen den beiden Reichshälften bereits vor 1850 gefördert, weshalb die Aufhebung der Zolllinie in ihrer Wirkung nicht überschätzt werden darf. So wurden zwischen 1786 und 1793 die ungarischen Importzölle auf erbländische und galizische In-dustriewaren aufgehoben und 1828 die Exportzölle beim Transport aller Güter aus den westlichen in die ungarischen Provinzen auf 5/12 Prozent gesenkt. Auch die erbländischen Importzölle sanken für eine Reihe von Gütern, stiegen allerdings für Getreide und Wein wieder. Ein Jahrzehnt später wurden Branntwein, Roheisen und Eisenwaren in beide Richtungen von allen Gebühren befreit.10

Eine neuerliche Veränderung ergab sich mit dem Ausgleich von 1867. Die Umgestaltung der Monarchie in zwei staatsrechtliche, per Personalunion (mit Elementen einer Realunion) verbundene Teile hatte eine auf jeweils zehn Jahre abgeschlossene Zollunion zwischen beiden Reichshälften zur Folge. Die Verhand-lungen über die Verlängerung des wirtschaftlichen Bündnisses waren ab der Jahr-hundertwende durch zunehmende Spannungen und unterschiedliche Interessenla-gen gekennzeichnet, allerdings blieben etwaige Blockaden und Handelshemmnisse von geringer Bedeutung.11 1878 wurden weitere interne Zollenklaven integriert

8 Grossmann, Handelspolitik, 374f. Grodziski, Historia, 57.

9 Gross, Industrielle Revolution, 210. Pacholkiv, Entstehung, 187. Raptis, Kaufleute, 42. Weiss, Ver-hältnis, 110. CDIAL, f.146-op.80-spr.266 (in weiterer Folge : 146–80–266), Fol. 139.

10 Beer, Die österreichische Handelspolitik unter Maria Theresia, 23f. Ders., Handelspolitik im 19.

Jahrhundert, 35, 45. Huertas, Economic Growth, 19f. HHStA, KA, Nachlass Zinzendorf, Hand-schriften Bd. 120, Fol. 225. CDIAL,146–80–251, Nr. 9892, Fol. 69. CDIAL, 146–80–259, Z. 33067, Fol. 240. CDIAL, 146–80–260, Z. 235, Fol. 62.

11 Brusatti, Die wirtschaftlichen Folgen, 308f.

– neben den Freihäfen Triest, Fiume, Buccari, Porto Ré und Carlopago betraf dies Dalmatien und die galizische Freihandelsstadt Brody. Auch das neu okkupierte Bosnien-Herzegowina wurde in dieses erweiterte Zollgebiet einbezogen.12

4.1.1.2 Galizien als Teil des habsburgischen Außenhandelssystems Folgte die Herausbildung des habsburgischen Binnenmarktes einem relativ line-aren Entgrenzungsprozess, so war die Durchlässigkeit der Außengrenzen nicht nur deutlich geringer, sondern auch stärkeren Schwankungen unterworfen, auf die konjunkturelle Momente ebenso wirkten wie geo- und wirtschaftspolitische Einflüsse. Parallel zur Inkorporierung Galiziens in die Zollunion wurden 1784 die ein Jahrzehnt zuvor abgeschafften Im- und Exportverbote wieder eingeführt.

Dieses protektionistische Prohibitivsystem wurde 1787/88 erneut verschärft und durch weitere Importzollerhöhungen ergänzt. Die als „isolationistisch“ beschrie-bene Zoll- und Handelspolitik war von merkantilistischen Überlegungen geprägt und zielte auf die Förderung der Protoindustrialisierung ab.13

Zwar wurden zwischen 1810 und 1825 einige Waren von den Verboten ausge-nommen, diese jedoch durch die Einführung von Prohibitivzöllen 1818 und 1824 kompensiert. Zudem brachte der Handelsvertrag zwischen der Habsburgermon-archie und dem Russischen Reich 1818 zwar eine Zollsenkung, aber die neuen Zolltarife des Russischen Reichs (1821/22) und des Königreichs Polen (1823) führten zahlreiche Importverbote ein. Letzteres hatte bereits zuvor zusätzlich seine Einfuhr- und Transitzölle erhöht, weshalb der Handel zwischen den polnisch-li-tauischen Teilungsgebieten auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gering blieb.14

Mit der erneuten Aufhebung der Ein- und Ausfuhrverbote in der Habsbur-germonarchie 1828/30 und ihrer Ersetzung durch Zollsätze wurde zwar ein erster Schritt in Richtung Liberalisierung des Außenhandels getan, dieser jedoch durch selektive Importzollerhöhungen gleichzeitig wieder konterkariert. Auch der 1837 erlassene und 1839 in Kraft tretende neue Zollsatz führte zu keiner nennenswerten Liberalisierung des Außenhandels.15

12 Matis, Österreichs Wirtschaft, 376f.

13 Beer, Die österreichische Handelspolitik unter Maria Theresia, 116–119. Sauer, Aspekte der Han-delspolitik, 241f.

14 CDIAL, 146–8–250, Fol.  78–81. Beer, Handelspolitik im 19. Jahrhundert, 436f. Freudenberger, Lost Momentum, 125. Franaszek, Economic effects, 27f. Jezierski/Leszczyńska, Historia gospodar-cza Polski, 146. Pacholkiv, Entstehung, 187. Rutkowski, Historia gospodargospodar-cza, 406.

15 CDIAL, 146–80–252, Nr.  4460, Fol.  3–4 ; Nr.  8642, Fol.  14 ; 146–80–254, Fol.  203–206. Beer, Handelspolitik im 19. Jahrhundert, 14f.

Erst als sich das neoabsolutistische Regime nach 1849 um die Aufnahme in den 1834 gegründeten Deutschen Zollverein bemühte, kam es 1852 und 1854 zur voll-ständigen Ablöse des Verbotssystems durch Prohibitivzölle.16 Tatsächlich liberali-siert, wenn auch räumlich begrenzt, wurde der Außenhandel durch den 1853 zwi-schen der Habsburgermonarchie und Preußen abgeschlossenen Handelsvertrag, dem nacheinander alle Mitgliedsstaaten des Zollvereins beitraten. Zwar wurden

Erst als sich das neoabsolutistische Regime nach 1849 um die Aufnahme in den 1834 gegründeten Deutschen Zollverein bemühte, kam es 1852 und 1854 zur voll-ständigen Ablöse des Verbotssystems durch Prohibitivzölle.16 Tatsächlich liberali-siert, wenn auch räumlich begrenzt, wurde der Außenhandel durch den 1853 zwi-schen der Habsburgermonarchie und Preußen abgeschlossenen Handelsvertrag, dem nacheinander alle Mitgliedsstaaten des Zollvereins beitraten. Zwar wurden