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Ursachen für die ausbleibende Konvergenz II :

2. Standortbestimmung in der longue durée

2.3 Disparität unter dem Mikroskop : Löhne, Lebensstandard und

2.3.4 Ursachen für die ausbleibende Konvergenz II :

Schätzungen über die Berufsstruktur sind für das späte 18. Jahrhundert mit großer Vorsicht anzustellen, da die seit 1773 auch für Galizien durchgeführten Konskrip-tionen eine sehr grobe soziale Gliederung nur für den Großteil der christlichen, männlichen Bevölkerung erhoben. Darüber hinaus ist die Abgrenzung zwischen landwirtschaftlicher und heimgewerblicher Tätigkeit aufgrund saisonaler Beschäf-tigungsformen nicht fassbar. Der Anteil des gewerblichen Erwerbs ist daher höher als es die scheinbare statistische Eindeutigkeit suggeriert.111

Um trotz dieser Einschränkungen glaubwürdige Einschätzungen vorzunehmen, wird nur die erwachsene männliche Bevölkerung der Kategorien „Bauer, Erben, Häusler und Gärtler sowie zu anderen Staatsnothdurften anwendbare“ berücksich-tigt. Allein hierin liegt eine Überschätzung des tatsächlichen landwirtschaftlichen Beschäftigtenstandes, da sich unter Erben auch ein – allerdings nicht quantifi-zierbarer – Anteil an Gewerbetreibenden verbirgt. Die ländlichen Unterschichten Häusler und Gärtler wiederum zählten zu jener Gruppe, die am stärksten in der heimgewerblichen Textilproduktion engagiert war.112 Folglich können die derart berechneten Beschäftigten im Agrarsektor als Maximalwerte betrachtet werden.

Für die jüdische Bevölkerung wurde das laut der Konskription von 1803 nach Familien ermittelte Erwerbsprofil von 14,8 Prozent Beschäftigtenanteil in der Landwirtschaft auf die männliche jüdische Bevölkerung hochgerechnet. Nach die-ser Methode ergab sich ein Beschäftigtenanteil für die Landwirtschaft von durch-schnittlich 84,9 Prozent für die Jahre 1782–1791, wobei der niedrigste Wert 79,9

110 Mark, Galizien unter österreichischer Herrschaft, 108. Tokarski, Ethnic conflict, 51, 55f., 64f., 74, 76–85. Andlauer, Die jüdische Bevölkerung, 43f., 47, 247. Wróbel, Jews of Galicia, 104.

111 Vgl. Deák, Galizien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, 455–457.

112 Kulczykowski, Andrychowski ośrodek płócienniczy, 14f.

Prozent (1784), der höchste 88 Prozent (1789) betrug. Die Verzerrungen durch die ab 1787 zu Galizien zählende Bukowina waren gering : Im Jahr 1803 lag der Anteil der Agrarbevölkerung Galiziens ohne Bukowina bei 84,6 Prozent.113 Berücksich-tigt man nur die christliche, männliche Bevölkerung, so ergibt sich ein Beschäf-tigtenanteil des Agrarsektors von 92,8 Prozent (1776) und 92 Prozent (1785), was allerdings aufgrund zahlreicher gewerblicher Tätigkeiten der Stadt- und Landbe-völkerung als zu hoch gegriffen erscheint.114

Galizien unterschied sich dabei stark von der Berufsstruktur Niederösterreichs und der böhmischen Länder, in denen 1785 etwas mehr als drei Viertel der Be-völkerung in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Geringer war die Differenz zur Beschäftigtenstruktur Krains, des Küstenlands, der Steiermark, Kärntens und Oberösterreichs.115 Bis zur Jahrhundertmitte wuchs die zwischenregionale Diskre-panz eklatant an, sodass Galizien mit 88 Prozent Anteil an Agrarbeschäftigten weit von den Werten der meisten anderen westlichen Provinzen entfernt war, deren Werte zwischen 53 und 78 Prozent lagen. Nur die Steiermark kam in die Nähe des galizischen Werts, Krain und Küstenland übertrafen diesen sogar.116

Diese deutlich gewachsenen Unterschiede beruhten auf der – vor allem in den böhmischen Ländern, Ober- und Niederösterreich im späten 18. Jahrhundert ein-setzenden – Ausweitung der Protoindustrie, woran sich nach 1825 die erste Indus-trialisierungswelle anschloss. Zwar kam es auch in Galizien insbesondere in den 1830er Jahren zu einer Ausweitung des Sekundärsektors – die Zahl der im Gewerbe beschäftigten Männer stieg stärker als die Gesamtbevölkerung. Allerdings ging dieser Anstieg vor allem auf das Konto der lokal orientierten „Polizeigewerbe“,117

113 Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Konskriptionen Galiziens für die Jahre 1782–1791 (HHStA, Nachlass Zinzendorf, Handschrift Band 30b, 490f, 937) und 1803 (HHStA, Nachlass Baldacci, Kartons 3–9). Für die Schätzung der im Agrarsektor beschäftigten jüdischen Bevölke-rung wurden die Kategorien „Ackerbau“ und „Taglöhner“ zusammengezählt. Die Konskriptionen von 1810 (Andre, Abriß, 41) und 1816 (ZNiO, Wykazy polityczne [statystyczne] Królestwa Gali-cyi y Lodomeryi w roku 1817) werden aufgrund zu großer Datenlücken hier nicht berücksichtigt.

114 Eigene Berechnung nach Dickson, Finance and Government, Bd. 1, 46. Laut den Daten Ślusareks (Bevölkerung und Wirtschaft, 75) ergibt sich für die christliche Bevölkerung (1773) eine Agrar-quote von 84 Prozent, was mit der Tendenz der für die gesamte Bevölkerung erstellten Berechnung übereinstimmt.

115 Vergleichswerte nach : Sandgruber, Agrarstatistik, 222 und eigene Berechnungen für 1785 nach Dickson, Finance and Government, Bd. 1, 46, 444f.

116 Sandgruber, Agrarstatistik, 222. Andrea Berger (Landwirtschaft in Galizien, 63) gibt für das Jahr 1846 85 Prozent Agrarbeschäftigte an. Der Anstieg von 84 auf 88 Prozent könnte sich allein aus Datenunsicherheiten und verschiedenen Zähl- und Schätzmethoden ergeben, aber auch den Rückgang heimgewerbliche Tätigkeiten in den 1840er Jahren widerspiegeln.

117 Die Kategorie Polizeigewerbe bezeichnete seit der Gewerbereform von 1754 die auf den lokalen

während die Beschäftigten in den auf überregionale Märkte ausgerichteten „Kom-merzialgewerben“ kaum stärker als die Gesamtbevölkerung zunahmen ; bis 1838 war ihre Zahl sogar rückläufig. Spätestens ab Mitte der 1840er Jahre stagnierte dann der Zuwachs der gewerblichen Bevölkerung, die Gesamtbevölkerung nahm bis zu den demografischen Krisen um die Jahrhundertmitte hingegen noch leicht zu.118

Allerdings beziehen diese Zahlen weder Frauen noch nebenberufliche oder sai-sonale Beschäftigte im Heimgewerbe ein. In der westgalizischen Leinenerzeugung kam es ab Mitte der 1830er Jahre zu ersten Verdrängungserscheinungen, die in den 1840er Jahren ihren Höhepunkt erreichten : Vereinzelt wandten sich in der heim-gewerblichen Textilherstellung engagierte Bauern wieder der Landwirtschaft zu.119 Insofern scheint es sogar zu einer leichten Reagrarisierung der galizischen Sozi-alstruktur gekommen zu sein. In der zweiten Jahrhunderthälfte ging der Anteil der landwirtschaftlichen Beschäftigten Galiziens deutlich zurück, wobei der pro-zentuelle Rückgang zwischen 1850 und 1880 (von 88 auf 79 Prozent) stärker war als zwischen 1880 und 1910 (–5 Prozent). Zwischen 1890 und 1900 verminderte sich der Anteil sogar nur um 0,5 Prozent, was ein starkes Indiz für den langsamen Strukturwandel selbst in den drei Dekaden relativ hoher Wachstumsraten ist.120

Hinter dieser sozio-strukturellen Stagnation versteckt sich jedoch das trotz be-deutender Emigrationsbewegungen rasante Bevölkerungswachstum, das gerade durch die Vererbungslogik bäuerlicher Wirtschaften angekurbelt wurde : Die

Ag-Markt ausgerichteten örtlichen Handwerke und Gewerbe, die anders als die für den überregio-nalen Absatz produzierenden Kommerzialgewerbe bis zur Liberalisierung der Gewerbeordnung 1859 weitgehend den zünftischen Bestimmungen unterlagen und den Magistraten unterstanden.

Für die Kommerzialgewerbe waren hingegen die Landesstellen zuständig. Siehe z. B. Sandgruber, Ökonomie und Politik, 173. Bruckmüller, Sozialgeschichte, 219.

118 Eigene Berechnungen nach Tafeln für Statistik 1828–1848.

119 Kulczykowski, Chłopskie tkactwo bawełniane, 58. Ders., „Deindustrializacja“, 80f. Ders., An-drychowski ośrodek płócienniczy, 26, 147, 158.

120 Sandgruber, Agrarstatistik, 222. Rechnet man mit den von Bolognese-Leuchtenmüller ange-führten Zahlen ergibt sich zwischen 1890 und 1900 eine leichte Zunahme des Anteils der Ag-rarbevölkerung. Wird nur die aktive Erwerbsbevölkerung berücksichtigt, liegt der Anteil bis zur Jahrhundertwende über 80 Prozent und steigt zwischen 1880 und 1900 deutlich an. Eigene Be-rechnung nach Bolognese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, 157f.

bzw. Angaben laut Ebenda, 165. Hingegen ist der von Franciszek Bujak auf Grundlage der land-wirtschaftlichen Betriebszählung von 1902 errechnete Anteil der im Agrarsektor Beschäftigten mit 73 Prozent zu niedrig gegriffen (Bujak, Rozwój gospodarczy, 385, vgl. Franaszek, Produkcja roślinna, 125). Sandgruber (Agrarstatistik, 112f., 222) schätzt infolge der Unvergleichbarkeit der amtlichen Berufsstatistiken der Volkszählungen 1857–1880 den Anteil der Agrarbevölkerung an der Gesamtpopulation, was den Vorteil der Vergleichbarkeit mit früheren Jahren hat, weshalb diese Daten hier verwendet werden.

rarbevölkerung wuchs, wenn auch bedeutend schwächer als die Gesamtpopulation.

Daraus ergab sich eine weitere Vergrößerung des Unterschieds im sozial-beruf-lichen Profil mit den anderen Regionen Österreich-Ungarns : Galizien verfügte konstant über weit mehr Beschäftigte in der Landwirtschaft als im Durchschnitt Cis- und Transleithaniens. 1880 wies sogar die Bukowina weniger Erwerbstätige im Agrarsektor auf. Nur Dalmatien und Kroatien waren 1910 mit 82 Prozent noch stärker agrarisch geprägt. Hingegen folgte nach der Bukowina als nächstes die Steiermark mit 55 Prozent Agrarbeschäftigten, was das Ausmaß der Distanz ver-deutlicht. Auch Transleithanien verzeichnete um die Jahrhundertwende mit einem Rückgang der Agrarquote von 74 auf 64 Prozent einen deutlich dynamischeren Wandel als Galizien. 121

Ebenso vergrößerte sich Galiziens Abstand zu den anderen Regionen des ehe-maligen Polen-Litauens. Besonders rasch war der Strukturwandel in Pomerellen, dem Großfürstentum Posen und dem Königreich Polen, in denen um die Jahrhun-dertwende 50–57 Prozent der Bevölkerung im Agrarsektor arbeiteten. Hingegen lag Galizien mit den westlichen Gubernien des russischen Zarenreiches mit in etwa 73 Prozent landwirtschaftlichen Beschäftigten um 1900 gleichauf.122

Spiegelverkehrt dazu vergrößerte sich der Anteil jener Personen, die in der Ge-werbe- und Industrieproduktion sowie im Dienstleistungssektor tätig waren. Der Anteil der im sekundären Sektor Beschäftigten nahm zwischen 1890 und 1910 von 9,26 auf 9,5 Prozent der galizischen Erwerbstätigen marginal zu. Zwischen 1890 und 1900 gingen die Beschäftigtenzahlen im Sekundärsektor allerdings zu-rück, was auf die Zurückdrängung des Heim- und Kleingewerbes und die schwa-che Industrialisierung zurückzuführen ist. Hingegen stiegen die Erwerbstätigen in Dienstleitungsberufen kontinuierlich an.123

Der Rückgang der Beschäftigten im Sekundärsektor betraf sowohl die Arbei-terInnen der Schwerindustrie als auch HandwerkerInnen und Gewerbetreibende, die das Gros der im Sekundärsektor Beschäftigten ausmachten. Die Zahl der SchwerarbeiterInnen sank nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1873 und stieg erst Mitte der 1890er Jahre wieder an, nahm dann bis 1913 – unterbrochen von konjunkturbedingten Rückgängen in einzelnen Jahren – stärker als die

Beschäftig-121 Good, Modern Economic Growth, 257. Rudolph, East European Peasant Household, 365–368, 378.

122 Jezierski/Leszczyńska, Historia gospodarcza Polski, 158. Landau/Tomaszewski, Wirtschaftsge-schichte Polens, 37.

123 Berger, Landwirtschaft in Galizien, 62. Bujak, Rozwój gospodarczy, 385. Diesen Befund bestätigt auch Bolognese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, 165 : Demnach nahmen die Beschäftigen im Sekundärsektor zwischen 1869 und 1910 von 5 auf 7 Prozent zu, waren aber zwischen 1880 und 1900 rückläufig

tenzahlen des Sekundärsektors insgesamt zu.124 Die Expansion der vornehmlich auf Grundstoffindustrie und Rohstoffextraktion konzentrierten Schwerindustrie ließ im frühen 20. Jahrhundert eine FacharbeiterInnenschicht entstehen, wofür der Rückgang des Analphabetismus zwischen 1890 und 1910 einen wichtigen Im-puls darstellte.125 Trotz der Verschiebungen der Berufsstruktur war die Diskrepanz zu den cisleithanischen Regionen und den polnisch-litauischen Teilungsgebieten stark ausgeprägt.126 Hier wirkten sich die Deindustrialisierungsprozesse aus, die den galizischen Sekundärsektor gerade in der Zeit dynamischen Wachstums er-fassten. Die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den ökonomischen Zen-tren Österreich-Ungarns, aber auch dem Deutschen Reich bremste den industriel-len Strukturwandel. Daher war vor Weltkriegsausbruch der Anteil der galizischen Beschäftigten in Gewerbe und Industrie kaum höher als im späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, allerdings war die Verschiebung von Heim- und Kleingewerbe zur Großindustrie ein wesentlicher qualitativer Unterschied zwischen beiden Zeitabschnitten.

Aus diesen Entwicklungen des galizischen Arbeitsmarkts erklärt sich der starke Anstieg von Nominal- und Reallöhnen der in der Unfallversicherung integrier-ten Beschäftigintegrier-ten in den letzintegrier-ten beiden Vorkriegsjahrzehnintegrier-ten, während der Druck auf die Verdienste von Handwerkern sowie die Dominanz des Agrarsektors die persistente und zum Teil wachsende Divergenz der galizischen Ökonomie zu den meisten österreichisch-ungarischen Regionen erklärt.

Zugleich unterschieden sich die Auswirkung des ökonomischen Transformations-prozesses auf die einzelnen gesellschaftlichen Schichten dem kulturell-ethnischen Hintergrund entsprechend : So waren die polnisch-galizischen Milieus aufgrund ihrer Elitenfunktion seit der Frühen Neuzeit bedeutend stärker sozial differenziert, Aufstiegsprozesse in Beamtenschicht, Unternehmertum und selbstständige Berufe ebenso stark verbreitet wie später ihr Anteil an der IndustriearbeiterInnenschaft.

Umgekehrt waren sie bei den landwirtschaftlichen Beschäftigten unterrepräsentiert (1900 : 77 Prozent). Demgegenüber blieben die Ruthenen auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert stark agrarisch geprägt (1900 : 94 Prozent ; 1910 : 91,5 Pro-zent), auch wenn sich eine schmale ruthenische Intelligenz ausbildete.127

124 Burzyński, Informator statystyczny, 103, 222f. Ders., Robotnicy w przemyśle ciężkim, 37–40. Bus-zko, Wandel, 20. Pietrzak-Pawłowska, Przewrót przemysłowy, 82.

125 Burzyński, Robotnicy w przemyśle ciężkim, 65f. Good, Economic Union, 76.

126 Doppler, Die sozioökonomischen Verhältnisse, 42f. Jezierski/Leszczyńska, Historia gospodarcza Polski, 158. Pietrzak-Pawłowska, Przewrót przemysłowy, 95. Turnock, Economy of East-Central Europe, 77.

127 Doppler, Die sozioökonomischen Verhältnisse, 62, 71–74. Bujak, Rozwój gospodarczy, 387. Berger, Landwirtschaft in Galizien, 63.

Die jüdische Bevölkerung war besonders stark in Dienstleistungsberufen wie der Gutsverwaltung, dem Alkoholverkauf und dem Handel vertreten, während der Sekundärsektor eine untergeordnete Rolle spielte. Der exorbitant niedrige Anteil von Beschäftigten in der Landwirtschaft war um die Jahrhundertwende deutlich höher als in der Erhebung von 1803 und Ergebnis der sich ausweitenden agrari-schen Aktivität von Juden nach der rechtlichen Gleichstellung im Jahr 1867. Diese sozio-berufliche Struktur ist Ergebnis der gutswirtschaftlichen Prägung der ga-lizischen Ökonomie, in der jüdische Akteure infolge der Diskriminierung durch die christliche Mehrheitsgesellschaft und ihrer organisatorischen Kompetenzen eine Schlüsselrolle spielten. Daran änderte sich auch nach 1848 wenig : Obsolet gewordene Gutsverwalter nahmen Beschäftigungen in Handel und Kreditwesen auf, während Schankwirte ihre Tätigkeit unter geänderten rechtlichen Vorausset-zungen fortführten. Nur wenige schafften den Um- und Aufstieg zum neuen Wirt-schafts- oder Bildungsbürgertum, was oft mit einer Assimilation an die polnische Hochkultur verbunden war.128

Hier wird die Bipolarität der galizisch-jüdischen Sozialstruktur deutlich : Ei-ner schmalen Schicht von UnternehmerInnen, Großkaufleuten und Freiberuflern stand das Gros einer zunehmend verarmenden Gruppe von HandwerkerInnen, KleinhändlerInnen und TaglöhnerInnen gegenüber, deren Funktionen ab 1890 und besonders nach der Jahrhundertwende im Zug der fortschreitenden überregionalen Marktintegration zunehmend obsolet wurde. Die in der Statistik aufscheinende Zunahme der Beschäftigten im Sekundär- und Tertiärsektor beinhaltet somit ein beachtliches Ausmaß an materieller Fragilität.129 Der sozioökonomische Wandel erfasste die galizische Gesellschaft aufgrund wirtschaftsräumlicher und sozio-kul-tureller Muster mit markanter Ungleichheit. Soziale Mobilität und Chancen(un) gleichheit waren folglich wichtige Aspekte der kulturell-ethnischen und sich aus diesen formierenden nationalen Identitäten.

128 Andlauer, Die jüdische Bevölkerung, 85, 87, 165–169. Himka, Dimensions, 27–31. Wróbel, Jews of Galicia, 108, 111f., 116–120. Gąsowski, Struktura społeczno-zawodowa, 62, 64. Tokarski, Ethnic conflict, 184, 159. Bujak (Rozwój gospodarczy, 387), Himka (Dimensions, 28), Gąsowski (Struk-tura społeczno-zawodowa, 62, 64) und Tokarski (Ethnic conflict, 148) geben jeweils unterschiedli-che Zahlen für die Berufsstruktur der galizisunterschiedli-chen Juden an, obwohl sie sich auf die gleiunterschiedli-che Quelle stützen. Die Tendenz ist jedoch für alle Werte gleich.

129 Tokarski, Ethnic conflict, 160.

3.1 Landwirtschaft

3.1.1 Pauperisierung und Polarisierung : Soziale Schichtung und Besitzstruktur Wie bereits gezeigt, beeinflusste der Agrarsektor aufgrund seines großen Beitrags zur allgemeinen Wertschöpfung sowie als wichtiges Erwerbsfeld die galizische Wirtschaft besonders stark. Diese agrarische Prägung erklärt sich aus der Persis-tenz jener gutswirtschaftlichen Strukturen, die sich in der polnisch-litauischen Ökonomie der Frühen Neuzeit etabliert hatten. Ersichtlich ist dies an der sozialen Schichtung der ländlichen Gesellschaft Galiziens, die seit dem späten 18. Jahrhun-dert durch ein hohes Ausmaß an sozialen Ungleichgewichten gekennzeichnet war : Einer kleinen Gruppe von zumeist adeligen Großgrundbesitzern, die den Groß-teil von Grundbesitz und Wertschöpfung kontrollierten, stand eine umfangreiche bäuerliche Unterschicht gegenüber, die ihren Lebensunterhalt durch eine Vielfalt an „marginalen Verdienstmöglichkeiten“ decken musste. Dazu zählten Klein- und Kleinstbesitzer wie Gärtler und Häusler ebenso wie landlose Personen, die als Tag-löhner und TagTag-löhnerinnen ihren Lebensunterhalt sicherten. Eine Mittelschicht fehlte weitgehend.1

Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert lässt sich der Anteil der bäuerlichen Unterschichten in Galizien anhand der Konskriptionsdaten bestimmen : Zwischen 1782 und 1786 stellten Gärtler und Häusler demnach mehr als zwei Drittel (70–

71 Prozent) der bäuerlichen, männlich-christlichen Gesellschaft Galiziens ; in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts ging ihr Anteil sukzessive auf etwas über 50 Prozent zurück. Dieser Wert ergibt sich in etwa auch laut der Konskription von 1803 (47 Prozent).2

Diese statistischen Veränderungen ergaben sich nicht aus der administrativen Zugehörigkeit der Bukowina 1787–1791, da sich für 1803 bei Fehlen des Kreises Czernowitz ein sogar noch niedrigerer Wert für die ländlichen Unterschichten er-gibt. Vielmehr scheint sich die Zählweise der Behörden verändert zu haben : 1773 wurden nur Vollbauern in der Kategorie Bauern erhoben und somit alle Landwirte

1 Berger, Landwirtschaft in Galizien, 101f. Baltzarek, Zentralistische und föderalistische Aspekte, 63.

Hauser, Entwicklung, 47. Siehe zum Begriff der ländlichen Unterschichten und seiner Problematik : Mitterauer, Lebensformen, v.a. 316–318.

2 Eigene Berechnung auf Grundlage von : HHStA, KA, Nachlass Zinzendorf, Handschrift Band 30b, 490f., 937 und HHStA, KA, Nachlass Baldacci, Kartons 3–9. Brawer (Galizien wie es an Österreich kam, 23) beziffert den Anteil der ländlichen Unterschichten 1773 auf 84 Prozent, was jedoch über-höht ist. Vgl. Bacon, Austrian economic policy, 21.

mit kleineren Parzellen den bäuerlichen Unterschichten zugerechnet. Der Rück-gang der bäuerlichen Unterschichten ab 1787 in absoluten wie relativen Zahlen spiegelt folglich eine zunehmende Registrierung dieser Landwirte als Bauern wi-der.3 Lässt sich folglich rund die Hälfte der christlichen bäuerlichen Bevölkerung der Unterschicht zurechnen, so ergibt sich für die jüdisch-galizische Bevölkerung insgesamt laut der Konskription von 1803 ein Anteil von rund einem Fünftel : Neben Taglöhnern (10,6 Prozent) registrierten die Behörden im frühen 19. Jahr-hundert 9,2 Prozent aller jüdischen Familien Galiziens als Almosenempfänger.4

Die prekäre Lage der ländlichen Unterschichten ergab sich nicht nur aus ihrem geringen Bruttoeinkommen, vielmehr waren sie auch die von Robotleistungen und Abgaben in Naturalien und Geld am stärksten belastete bäuerliche Schicht.5 Das Ausmaß der ländlichen Unterschichten Galiziens war im zentraleuropäischen Ver-gleich zu dieser Zeit ein außerordentliches : 1785 kam mit Ausnahme von Böhmen (70,2 Prozent) keine andere westliche Region der Habsburgermonarchie in die Nähe eines so hohen Anteils der ländlichen Unterschichten wie Galizien (70,8 Prozent).6

Wird der Anteil der ländlichen Unterschichten Galiziens an der Wende zum 19. Jahrhundert mit rund der Hälfte der in der Landwirtschaft tätigen Bevölke-rung veranschlagt, treten die Unterschiede zu anderen Regionen der ehemaligen polnisch-litauischen Adelsrepublik deutlich hervor : Im Königreich Polen belief sich im Jahr 1810 der Anteil von Häuslern, Taglöhnern und Gesinde auf 25,6 Pro-zent, in Großpolen machten Häusler und Gärtler nur knapp ein Drittel der bäu-erlichen Bevölkerung (30 Prozent) aus. Nur im preußischen Schlesien waren die ländlichen Unterschichten zahlreicher, in Pommern (1798) verfügten sogar mehr als zwei Drittel der Agrarbevölkerung über keinerlei Grundbesitz.7

3 Brawer, Galizien wie es an Österreich kam, 22f. Die Größe der Grundstücke von Vollbauern un-terschied sich nicht nur zwischen, sondern auch mitunter innerhalb der einzelnen Provinzen. Laut den Konskriptionsdaten für 1803 schwankte die Größe einer Vollbauernstelle im Kreis Bochnia in Westgalizien zwischen 15–26 Joch (8,6–15 ha) im Gebirge und 15–35 Joch (8,6–20,1 ha) im Flachland. HHStA, KA, Nachlass Baldacci, Karton Nr. 4 (2. Kreis Bochnia : Num 5. Unterthans Gegenstände, o.F.). Die von Ślusarek (Drobna Szlachta, 98) angegebenen 10–19 Joch (5,8–10,9 ha) stellen daher eine zu undifferenzierte Verallgemeinerung dar.

4 Eigene Berechnungen auf Grundlage von : HHStA, KA, Nachlass Baldacci, Kartons Nr. 3–8.

5 Rosdolsky, Distribution, 262f.

6 Die Prozent-Werte der anderen Provinzen lauten in absteigender arithmetischer Reihenfolge : Ober- und Niederösterreich 63, Mähren und Österreichisch-Schlesien 61,2, Steiermark 60,2, Kärn ten 50,5, Krain und Görz-Gradisca 34,5. Eigene Berechnungen nach : Dickson, Finance and Government, Bd. 1, 46. Diese Vergleichswerte machen deutlich, dass auch in einigen Erblanden andere Gruppen in die Kategorie der Häusler und Gärtler aufgenommen wurden.

7 Wiarowski, W czasie zaborów, 124f.

Diese Werte verdeutlichen, dass die ländlichen Unterschichten in Galizien im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ein höheres Ausmaß als in anderen zent-ral- und ostmitteleuropäischen Regionen erreichten. Die staatlichen Agrarrefor-men der 1780er Jahre bremsten einen weiteren Anstieg der Unterschichten, indem sie die rechtliche Position der Untertanen stärkten. Die gesetzlichen Regelungen hatten für die ländlichen Unterschichten besondere Bedeutung. Insbesondere die zwischen 1785 und 1787 erlassenen und mehrfach erneuerten Gesetze, wonach die Grundherren bäuerliches Land (die sogenannten Rustikalgründe) weder tei-len noch gegen herrschaftliche Parzeltei-len (Dominikalgründe) austauschen durften, sollten einer weiteren Besitzzersplitterung unter Häuslern und Gärtlern entgegen-wirken. Bereits zuvor war dem Adel untersagt worden, die Untertanen von ihren Gründen zu vertreiben.8

Die Gesetzgebung bewirkte trotz Missachtungen, dass die Zahl der Wirtschaf-ten bis 1820 langsamer wuchs als die Bevölkerung : Die durchschnittliche Parzel-lengröße nahm von 6,6 auf 6,8 Hektar leicht zu. Zu einer Besitzzersplitterung kam es dennoch – allerdings stieg die Zahl der Häuslergründe von bis zu 4 Joch (6,9 ha) vorwiegend auf Kosten des niederen Adels. Die Tendenz der Besitzzersplitte-rung ist auch innerhalb der adeligen Liegenschaften auszumachen : Die Zahl der Dominien verdoppelte sich zwischen 1789 und 1820, am stärksten war der Anstieg zwischen 1808 und 1817 – auch hier verschob sich das Gewicht von den Gütern

Die Gesetzgebung bewirkte trotz Missachtungen, dass die Zahl der Wirtschaf-ten bis 1820 langsamer wuchs als die Bevölkerung : Die durchschnittliche Parzel-lengröße nahm von 6,6 auf 6,8 Hektar leicht zu. Zu einer Besitzzersplitterung kam es dennoch – allerdings stieg die Zahl der Häuslergründe von bis zu 4 Joch (6,9 ha) vorwiegend auf Kosten des niederen Adels. Die Tendenz der Besitzzersplitte-rung ist auch innerhalb der adeligen Liegenschaften auszumachen : Die Zahl der Dominien verdoppelte sich zwischen 1789 und 1820, am stärksten war der Anstieg zwischen 1808 und 1817 – auch hier verschob sich das Gewicht von den Gütern