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4. Austauschsphären

4.2 Geldflüsse : Industrie, Finanz und öffentlicher Haushalt

4.2.2 Industriekapital

Externe Investitionen in Gewerbe und Industrie hatten für die von Kapitalmangel geprägte galizische Ökonomie nicht erst zur Jahrhundertwende besondere Bedeu-tung. Bereits die zwischen 1780 und Mitte der 1790er Jahre gegründeten Tex-tilmanufakturen wurden durch Kapitalimport finanziert, dessen häufigste Form die Zuwanderung von Unternehmern war, die neben eigenen Ressourcen auch auf Regierungskredite angewiesen waren. Nur die von dem Wiener Bank- und Handelshaus Johann Graf Fries übernommene Kottonfabrik in Kołaczyce/Nawsie im Kreis Jasło wurde von externem Privatkapital ohne physische Zuwanderung finanziert.118 Die aus der Literatur bekannten größeren externen Investitionen und Kreditaufnahmen der 1780er und 1790er Jahre betrugen nur einen geringen Anteil am galizischen Regionaleinkommen von 1785 (1 Prozent) bzw. der gewerblichen Wertschöpfung von 1785 (5 Prozent). Das Gros davon entfiel mit 200.000 Gulden (420.000 Kronen) auf Fries’ Fabrik, was die dünne Kapitaldecke dieser neuen

Un-116 Feldstein, Vermögens- und Zahlungsbilanz, 84–87. Biegeleisen, Stan ekonomiczny, 308. März/

Socher, Währung und Banken, 357.

117 Thirlwell, Trade 16. Tirado Fabregat/Herranz Loncán, Restricción exterior, 12, 24. Die Gegenpo-sition vertritt : Prados de la Escosura, PoGegenpo-sition, 175f., 178.

118 Mentschl/Otruba, Österreichische Industrielle, 42. Matis, Schwarzenberg-Bank, 339.

ternehmen verdeutlicht. Dementsprechend war auch die Ausweitung des Kapital-stocks insgesamt gering, während Gewinnrückflüsse die regionale Zahlungsbilanz nur im Fall von Fries’ Unternehmen belasteten.119

Selbst diese bescheidenen Ansätze von Unternehmer- und Kapitalimport ka-men mit dem Bankrott zahlreicher dieser Betriebe im frühen 19. Jahrhundert vor-läufig zum Erliegen.120 Das Scheitern selbst jener Textilmanufakturen, die kurzzei-tig von Gutsbesitzern übernommen worden waren, unterstreicht, dass Kapital trotz Besitz- und Einkommenskonzentration im galizischen Hochadel nur sehr einge-schränkt für Investitionen zur Verfügung stand : Einige Gutsbesitzer verlegten ab Mitte der 1790er Jahre zeitweise ihren Wohnsitz nach Wien und tätigten neben umfangreichen Konsumausgaben Investitionen in Industrieunternehmen und Banken außerhalb der Region, während die meisten von ihnen an der extensiven Gutswirtschaft festhielten.121 Erst ab den 1820er Jahren kam es zu Ansätzen ade-ligen Engagements in der Zuckerindustrie, dem nach der Jahrhundertmitte Inves-titionsbeteiligungen am Eisenbahnbau folgten.122 Trotz vereinzelter Investitionen von zugewanderten Gutsbesitzern in Kohlegruben, Säge- und Eisenwerke spielten bis in die 1890er Jahre externe Kapitalanlagen mit der Ausnahme des Eisenbahn-baus ebenso eine untergeordnete Rolle wie die mit mechanisierter Technologie arbeitenden industriellen Großbetriebe an sich.123

Dies änderte sich erst ab den 1880er Jahren, als Investoren in den europäischen Zentren nach neuen Anlagemöglichkeiten suchten und sich für eine Reihe von in-ner- und außereuropäischen Peripherien die Möglichkeit zu Kapitalimporten öff-neten. Diese waren für die Etablierung von auf Massenproduktion ausgerichteten Fabrikbetrieben notwendig, die mit Dampfkraft produzierten und daher einen er-höhten Kapitalbedarf hatten.124 Erneut wird hier der duale Charakter Österreich-Ungarns deutlich, das einerseits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Kapital aus Großbritannien, Frankreich und dem Deutschen Reich importierte, während andererseits die internen Zentren, allen voran Wien und Prag, selbst als

Expor-119 Eigene Berechnung nach den Angaben bei Bacon, Austrian economic policy, 113, 116f., Expor-119f., 138f., 145. Mentschl/Otruba, Österreichische Industrielle, 42.

120 Bacon, Austrian economic policy, 79. Gross, Austria-Hungary in the World-Economy, 8. Matis, Österreichs Wirtschaft, 72.

121 Grodziski, Uwagi o elicie, 154. Fras, Demokraci, 112. Baltzarek, Zentralistische und föderalistische Aspekte, 71f. Rychlikowa, Losy fortun, 157.

122 Ebenda, 71f. Fras, Demokraci, 26, 112, 114. Broński, Rozwój galicyjskiego systemu bankowego, 76.

Blum, Noble Landowners, 105f. Landau/Tomaszewski, Wirtschaftsgeschichte Polens, 27.

123 Bericht der Lemberger Handels- und Gewerbekammer 1861 in 1865, 142, 157. Eckert, Wälder, 72.

Chonihsman, Pronyknennja, 49f., 110.

124 Berend/Ránkyi, European Periphery, 173f. O’Rourke/Williamson, Globalization, 207.

teure sowie Vermittler von Investitionen auftraten. 125 Galizien bezog ähnlich wie Ungarn Kapital sowohl vom Ausland als auch von den Binnenzentren der Habs-burgermonarchie.

Der Zufluss an Investitionen setzte in den frühen 1890er Jahren ein, als die inländischen Banken nach den Rezessionsjahren zum industriellen Gründungs-geschäft zurückkehrten und mit der Organisierung von Kartellen bis zum Ersten Weltkrieg die enge Verzahnung zwischen Finanz- und Industriekapital vorantrie-ben. Um die Jahrhundertwende kontrollierten neun in Wien ansässige Großban-ken in etwa die Hälfte der cisleithanischen Industrie.126 Ab dann beschleunigte sich der Konzentrationsprozess noch weiter. In Galizien mündete die rapide Ein-bindung lokaler Betriebe in die böhmisch-österreichischen Kartelle und Syndikate ab 1907/08 in einer Dominanz der habsburgischen Monopole.127

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs betrug laut dem sowjetukrainischen Historiker Jakiv Samuel Chonihsman in Galizien, der Bukowina und Transkar-patien der Anteil langfristiger externer Investitionen in der Industrie 73 Prozent.

Externes Kapital dominierte am stärksten die chemische Industrie, gefolgt vom Bergbau mit 77,1 Prozent, der Erdöl- und Erdwachsförderung (75,6 Prozent) so-wie der elektrotechnischen Industrie (75 Prozent). Ebenso bedeutsam waren ex-terne Investitionen in der Holzindustrie (67,3 Prozent) und der Herstellung von Baumaterialien (60 Prozent), während die Nahrungsmittel- und Textilindustrie ein geringes Ausmaß an Investitionszuflüssen verzeichnen konnten.128

Der Anteil dieser Investitionen am BSP (30 Prozent insgesamt und 21,3 Pro-zent allein externes Kapital) ist aufgrund der Rückprojektion nationalstaatlicher Grenzen überhöht, da das Einkommen des zu Ungarn gehörenden Transkarpatien nicht enthalten ist. Schätzt man den Anteil des alleine in Galizien investierten Kapitals anhand der Verhältniszahlen der hauptsächlichen Aktiengesellschaften im Jahr 1912, ergäben sich 19,4 Prozent (Industriekapital insgesamt) und 13,8 Prozent (externe Investitionen) Anteil am BSP. Das gesamte Kapital der wich-tigsten Aktiengesellschaften allein betrug zu diesem Zeitpunkt 6 Prozent des BSP, während die externen Kapitalbeteiligungen zumindest 5,5 Prozent erreichten.129

125 Turnock, Economy of East Central Europe, 39, 68f. Pammer, Austrian investment, 141–143.

126 Rudolph, Banking and industrialization, 102f. Komlos, Diffusion of Financial Technology, 139.

Matis, Österreichs Wirtschaft, 26f., 185. März, Industrie- und Bankenpolitik, 331. Ders., Austrian Credit Mobilier, 120–122. Good, Aufstieg, 149.

127 Chonihsman, Pronyknennja, 105, 123. Landau/Tomaszewski, Wirtschaftsgeschichte Polens, 60.

Zawistowski, Ruchy narodowościowe, 51.

128 Chonihsman, Pronyknennja, 125.

129 Eigene Berechnungen nach Ebenda, 125, 240–248. Good, Aufstieg, 239. Der sich durch die Hoch-rechnung ergebende Wert von 332 Millionen Kronen externer Kapitalbeteiligung an galizischen

Dies unterstreicht die wesentliche Rolle externer Kapitalzuflüsse für industrielle Engagements in Galizien kurz vor Weltkriegsausbruch. Zu beachten ist, dass diese Werte jeweils den Kapitalstock bei der Unternehmensgründung wiedergeben. Die jährlichen Neuinvestitionen lagen beträchtlich niedriger, wobei hier zeitlich zu dif-ferenzieren ist. Während zwischen 1898 und 1908, als das Gros der Aktiengesell-schaften in Galizien gegründet wurde, starke Investitionszuflüsse erfolgten, machte das Aktienkapital der neu gegründeten Gesellschaften im Rezessionsjahr 1912 nur 0,2 Prozent des galizischen BSP aus.130

Das Gewicht der einzelnen Kapitalexporteure in der Habsburgermonarchie, Westeuropa und Nordamerika lässt sich nur für die größten Aktiengesellschaften und für einzelne Branchen einschätzen. Da Partnerschaften zwischen verschiede-nen Kapitalgebern – vorwiegend Banken – weit verbreitet waren, ist eine Schätzung des Anteils externen Kapitals an diesen Investitionen leicht verzerrt. Demnach weist die Quote der regionalen Investitionsbeteiligungen eine Schwankungsbreite von 0,7 bis 9,23 Prozent auf, ist jedoch sogar im für Galizien besten Fall äußerst niedrig. Von den externen Investoren war Wien mit Abstand am stärksten vertre-ten, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein kleiner Teil davon auf die Lemberger Filiale der Österreichisch-Ungarischen Bank entfiel, die kaum als externer Ak-teur angesehen werden kann. Hier spielen die noch zu erörternden Fragen von finanzpolitischer Verteilung ebenso eine Rolle wie die regionalen Machtpotenziale innerhalb des Imperiums. Hinter den Wiener Investoren lag das Deutsche Reich, danach folgten relativ gleichauf die USA und die böhmischen Länder (vor allem Prag), am unteren Ende lagen England, Frankreich, Ungarn und Belgien.131

Im Bergbau war das Ausmaß externer Investitionen etwas schwächer – der An-teil des galizischen Kapitals lag hier mit 14,8 Prozent etwas höher als bei den Aktiengesellschaften. Die Investitionen aus den habsburgischen Zentralräumen betrugen 31,8 Prozent – gefolgt von englischen (21,6 Prozent), französischen (15 Prozent), deutschen (12,2 Prozent), belgischen (2,3 Prozent) und US-amerikani-schen Unternehmen (1,8 Prozent).132 Ganz ähnlich war die geografische Vertei-lung in der Erdöl- und Erdwachsförderung, von deren Kapital 12,3 Prozent aus regionalen Quellen stammten. Am stärksten waren Investoren aus der

Habsbur-Industrieunternehmen ist höher als der von Feldstein (Vermögens- und Zahlungsbilanz, 61) ge-nannte, liegt allerdings im Trend : Feldsteins Angabe von 295 Millionen Kronen klammerte Akti-enbeteiligungen aus, während er das Kapital der externen Kapitalgesellschaften auf 120 Millionen beziffert – darin sind allerdings auch Banken inbegriffen. Insgesamt ist der Schätzwert glaubwür-dig, eventuell sogar zu niedrig.

130 Eigene Berechnungen nach : Chonihsman, Pronyknennja, 240–248. Good, Aufstieg, 239.

131 Eigene Berechnungen nach : Chonihsman, Pronyknennja, 240–248.

132 Zawistowski, Problemy narodowościowe, 51.

germonarchie (32,3 Prozent) : Vorwiegend Wiener und Prager Banken forcierten ab der Jahrhundertwende in Kooperation mit galizischen Gutsbesitzern die Grün-dung von Aktiengesellschaften. Eine ebenfalls starke Position hatten englische In-vestoren (24,2 Prozent), gefolgt von deutschen (14,5 Prozent) und französischen (12,9 Prozent). US-amerikanische und belgische Firmen spielten hingegen kaum eine Rolle.133

In der Kohleförderung, dem bedeutendsten Zweig des Bergbaus nach der Erd-ölförderung, dominierte externes Kapital weniger stark, was mit der geringeren Rentabilität der Kohleförderung zusammenhängen dürfte : Immerhin mehr als ein Viertel der Produktion wurde von galizischen Unternehmern kontrolliert. Unter den externen Kapitalflüssen dominierte cisleithanisches Kapital vor belgischem und französischem. Ebenfalls stark waren Investitionen aus der westlichen Reichs-hälfte in der Textilindustrie vertreten, die aber insgesamt nur wenig externes Ka-pital anzog. In der Eisenverarbeitung waren deutsche Firmen stark vertreten, wäh-rend sich das regionale Kapital nur in der Nahrungsmittel- und Mühlenindustrie in größerem Ausmaß halten konnte.134

Die Verflechtungsdichte Galiziens mit den innerhabsburgischen Zentren war folglich beim Industriekapital bei weitem weniger stark ausgeprägt als beim Güter- und Warenaustausch. Innerhalb Österreich-Ungarns trat das Gewicht der westli-chen Zentren – vorwiegend die Finanzplätze Wien und Prag – deutlich hervor, während Ungarn eine marginale Rolle spielte.

Ein Blick von der Peripherie in die cisleithanischen Zentren streicht die unter-schiedliche Bedeutung dieser Investitionen für die Ökonomien letzterer hervor : Während der in Galizien investierte Kapitalstock Böhmens, Schlesiens und Nie-derösterreichs zusammengenommen im Jahr 1913 1,7 Prozent des entsprechen-den BSP ausmachte, war die Bedeutung im Fall Niederösterreichs allein mit 3,7 Prozent höher.135 Allerdings sind diese Werte im internationalen Vergleich be-scheiden : Allein die jährlichen Direktinvestitionen westeuropäischer Länder im Ausland erreichten im Jahr 1913 3 Prozent des BIP.136 Auch wenn hier zu

berück-133 Ebenda, 60. „Österreich“ scheint sich auf die Habsburgermonarchie zu beziehen, da auch ungari-sches Kapital in die galizische Erdölförderung floss. Landau/Tomaszewski, Wirtschaftsgeschichte Polens, 72. Buszko, Wandel, 18. Hingegen erscheint der von Landau/Tomaszewski (Wirtschafts-geschichte Polens, 72) sowie Jezierski/Leszczyńska (Historia gospodarcza Polski, 196) erwähnte Anteil von 0,5% galizischem Kapital in der Erdölförderung als weit zu gering.

134 Chonihsman, Pronyknennja, 125. Kempner, Handel, 306. Długoborski, Górnictwo i hutnictwo, 127, 131. Buszko, Wandel, 18f., 23. Landau/Tomaszewski, Wirtschaftsgeschichte Polens, 60, 72.

März, Industrie- und Bankenpolitik, 357. Bujak, Galicya, Bd. II, 327.

135 Eigene Berechnung nach : Good, Aufstieg, 239. Chonihsman, Pronyknennja, 240–248.

136 Becker, Peripherie, 39.

sichtigen ist, dass sich die oben zitierten Zahlen nur auf die größten Aktiengesell-schaften beziehen und der insgesamte Anteil an Kapitalzuflüssen aus den habsbur-gischen Zentralräumen nach Galizien größer war, so bestätigt auch ein Vergleich von Galiziens Anteil am Aktienkapital Cisleithaniens die bescheidene Ausweitung des Kapitalstocks : Von 1873 bis zur Jahrhundertwende stieg dieser von 0,7 auf 3 Prozent, um dann bis 1910 mit 3,3 Prozent de facto zu stagnieren.137 Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach der Krise von 1873 kaum Aktiengesellschaften gegrün-det wurden, bevor diese ab der Jahrhundertwende massiv zunahmen.138

Weitaus stärker als der durch die externen Investitionen ausgelöste Kapitalrück-fluss in die ökonomischen Zentralräume in Form von Dividenden- und Gewinn-ausschüttung (29,8 Millionen Kronen im Jahr 1913)139 war gerade das relativ ge-ringe Ausmaß an externen Investitionen für die ausbleibenden Konvergenzprozesse verantwortlich. Dies entspricht dem Befund von O’Rourke und Williamson, wo-nach die Kapitalverflechtungen um die Jahrhundertwende kaum zur Annäherung des Lebensstandards in den Atlantischen Ökonomien beigetragen haben, da sie mehrheitlich in relativ wohlhabende Länder in Nordamerika und Westeuropa flos-sen, während gerade osteuropäische Regionen kaum profitierten.140 Die externen Investitionen in Galiziens Industrie bewirkten folglich den starken Konvergenz-trend bei den Fabriklöhnen, war aber von zu geringem Ausmaß, um die gesamte Ökonomie zu erfassen. Dies lag auch an den relativ schwachen internen Investiti-onen, die sich auf vereinzelte Unternehmer und Adelige beschränkten, die sich um die Jahrhundertwende insbesondere in der Nahrungsmittelbranche, der Erzeugung von Baumaterialien, dem Bergbau und der Holzindustrie engagierten.141