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Die Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktpalette 107

3. Produktionssphären

3.1 Landwirtschaft

3.1.3 Die Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktpalette 107

Neben den Produktivitätssteigerungen kam es zu einer Erweiterung der landwirt-schaftlichen Produktpalette, die durch die zunehmende Marktintegration mit den böhmischen und österreichischen Zentren ab den 1870er Jahren gefördert wurde.

Hatten bislang hohe Transportkosten und die dominante Stellung Ungarns als Agrarlieferant entsprechende Nachfrageimpulse auf die galizische Landwirtschaft verhindert, führte die Marktintegration durch den verbilligten Warentransport und die steigende Nachfrage in den Zentralräumen zum zunehmenden Anbau höher-wertiger Feldfrüchte sowie zu einer quantitativen und qualitativen Steigerung der Viehhaltung : Die Schweinezucht verbreitete sich, das Schlachtgewicht der Rinder stieg ebenso wie die Milchleistung der Kühe.40

Zwar blieb Galizien auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ein getrei-dewirtschaftlich dominiertes Land, allerdings wuchs die Anbaufläche von Getreide insgesamt am langsamsten. Innerhalb der Sorten kam es zu einer Verschiebung von Hafer und Gerste zu Roggen und Weizen, was genau die umgekehrte Tendenz gegenüber dem späten 18. Jahrhundert bis zur Jahrhundertmitte darstellte : Infolge des erschwerten Zugangs zum Danziger Absatzmarkt ab den frühen 1780er Jahren hatten die Produzenten anstelle der Exportsorten Weizen und Roggen in stärke-rem Ausmaß Hafer und Gerste angebaut.41 Bis 1841 sank der Anteil der Weizen- und Roggenernte infolgedessen deutlich, während der geringe Anteil an neuen Feldpflanzen sich nur auf die Kartoffel beschränkte. Dies zeigt, dass die galizischen Güter anders als die Betriebe in Böhmen und Mähren ihre Produktpalette in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht diversifizierten (Abbildung 3-2).42 Erst ab den 1870er und 1880er Jahren nahm die Vielfalt des galizischen Ackerbaus zu, blieb aber bis zum Ersten Weltkrieg insgesamt bescheiden.

Die Umschichtungen beim Feldfrüchteanbau im späten 19. und frühen 20. Jahr-hundert hatten starke Bezüge zur expandierenden Nahrungs- und Genussmittel-industrie : So diente der zunehmende Kartoffelanbau zur Mästung der gezüchteten

40 Struve, Kapitalisierung der Landwirtschaft, 6. Kula, Historia gospodarcza Polski, 62. Berger, Land-wirtschaft in Galizien, 79. Hryniuk, Peasants with Promise, 147–157.

41 Kaps, Produktywność, 293f., 296. Burszta, Stosunki gospodarcze i społeczne, 365f. Adamczyk, Spław zboża, 194.

42 Franaszek, Produkcja roślinna, 35f., 129. Blum, Noble Landowners, 97, 109, 240. In Abbildung 3-2 ist zu beachten, dass 1785/87 alle Feldfrüchte als eine der vier Hauptgetreidesorten registriert wur-den, was vor allem den Gerste- und Haferanteil vergrößert. 1851, 1857 und 1869–1875 fehlen die meisten der Feldfrüchte (wie Hülsenfrüchte, Futterrüben, Kraut, Hopfen, Raps, Flachs und Hanf) ; in den ersten beiden Jahren zusätzlich noch Wiesenheu. Daher lassen sich die Daten nur zwischen 1876–1885 und 1904–1913 vollkommenvergleichen.

Schweine und als Rohstoff für die Schnapsbrennerei, Zuckerrüben wurden zu Zucker raffiniert und aus Hopfen Bier gebraut.43 Hingegen ging der Flachs- und Hanfanbau infolge der Zurückdrängung der hausindustriellen Weberei zwischen 1880 und 1900 um die Hälfte zurück, erholte sich allerdings im letzten Vorkriegsjahrzehnt leicht.

Die intensivere Bewirtschaftung wurde vorrangig auf kleinen und mittleren Betrie-ben umgesetzt, die den Ertrag aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden gerin-gen Nutzfläche optimieren mussten. Ermöglicht wurde dies durch die institutionelle Umgestaltung des politischen Systems und den sozio-politischen Wandel : Soziale Mobilität wurde von staatlichen und privaten Institutionen wie Landwirtschaftsge-sellschaften und Genossenschaften über den Zugang zu Grund- und Fachausbildung sowie öffentlichen Subventionen ab den späten 1860er Jahren gefördert. 44

So wurden die Diversifizierung des Feldfrüchteanbaus und die Viehhaltung auf Bauernhöfen ungleich stärker betrieben als auf den adeligen Gütern. Dies erklärt sich einerseits aus der größeren Flexibilität der Familienbetriebe, die keine zusätzli-chen Arbeitskräfte für die arbeitsintensive Viehzucht einstellen mussten. Zugleich waren die Großgrundbesitzer auf den Getreideexport fokussiert und aufgrund ih-rer betrieblichen Kostenstruktur relativ unflexibel : So sank die Getreideproduktion in den 1890er Jahren, weil sich die Gutsbesitzer entschieden, aufgrund der nied-rigen Preise den Getreideanbau auszusetzen und das Ackerland brach liegen zu lassen. Kleine Bauernhöfe konnten sich einen derartigen Einkommensausfall nicht leisten und mussten ihre Produktpalette daher den Marktbedingungen anpassen.45

Die Großgrundbesitzer, insbesondere die Latifundien über 5.000 Hektar, konn-ten aufgrund der niedrigen Löhne in starkem Ausmaß exkonn-tensive Bewirtschaftungs-formen beibehalten. Zwar erwarben einige Güter mit dem Einsetzen der ersten Entschädigungszahlungen der Grundentlastung in den 1860er Jahren landwirt-schaftliche Maschinen, allerdings war deren Einsatz in Summe äußerst begrenzt.

Erst nach den Streiks der Landarbeiter 1902/03 in Ostgalizien und der durch die Massenemigration steigenden Löhne griff der Großgrundbesitz verstärkt auf Ma-schinen zurück.46

Der Kontrast zu den intensiven Wirtschaftsweisen der Großgrundbesitzer in den böhmischen Ländern und in Großpolen wird ebenso deutlich wie die

Ähn-43 Franaszek, Produkcja roślinna, 122f. Doppler, Die sozioökonomischen Verhältnisse, 47.

44 Berger, Landwirtschaft in Galizien, 81f., 84. Hryniuk, Peasants with Promise, 125–130. Kula, His-toria gospodarcza Polski, 68f. Vgl. Kap. 6.1.2.

45 Franaszek, Produkcja roślinna, 34. Jezierski/Leszczyńska, Historia gospodarcza Polski, 171. Hry-niuk, Peasants with Promise, 137, 140, 143–145, 159. Tokarski, Ethnic conflict, 224f.

46 Franaszek, Produkcja roślinna, 122f. Kieniewicz, Emancipation, 210. Sandgruber, Agrarstatistik, 223–225. Wiarowski, W czasie zaborów, 151. Doppler, Die sozioökonomischen Verhältnisse, 46.

Lipp, Verkehrs- und Handelsverhältnisse, 254–256. Andlauer, Die jüdische Bevölkerung, 160.

Abbildung 3-2 : Zusammensetzung der Feldfrüchteproduktion in Galizien auf Basis der Getreidewerte

Quellen : Eigene Berechnung auf Grundlage von Sandgruber, Agrarstatistik, 26, 162–166. Górkiewicz, Ceny, 52f.

0%

20%

40%

60%

80%

100%

1789 1803

1841 1851

1857 1869/75

1876/85 1886/95

1895/04 1904/13

Wiesenheu Klee

Handelspflanzen Futterpflanzen Hülsenfrüchte Kartoffeln Buchweizen Hirse Mais Hafer Gerste Roggen Weizen

lichkeit zu Ungarn, wo die stark wachsende Getreideproduktion ebenfalls vom bis zur Jahrhundertwende extensiv wirtschaftenden Großgrundbesitz forciert wurde, während die Mittel- und Kleinproduzenten im späten 19. Jahrhundert den Acker-bau intensivierten und Viehwirtschaft betrieben.47

Die mangelnde Produktivität des galizischen Agrarsektors wurzelt somit in der mangelnden Intensivierung der Gutsbetriebe, welche ihrerseits von der unvorteil-haften Konkurrenz mit Ungarn und der Unerreichbarkeit von Märkten durch die 1772 neu gezogenen Staats- und Zollgrenzen beeinflusst wurde. Hatte Galizien 1785 noch fast ein Viertel des Agrareinkommens der westlichen Reichshälfte (ohne Dalmatien und Salzburg) erwirtschaftet, so brach dieser Anteil bis 1841 auf 17,1 Prozent ein und stagnierte bis 1911/13 exakt bei diesem Wert : Dieser bezog sich allerdings auf den gesamten Primärsektor und schloss auch die stark wachsende Grundstoffindustrie ein.48 Diese Zahlen verdeutlichen, dass Galizien mit dem landwirtschaftlichen Produktionswertzuwachs der westlichen Regionen der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mithalten konnte, aber keine höhere Steigerung erzielte. Galizien konnte eine etwaige Rolle als Agrarperipherie bis zur Marktintegration im späten 19. Jahrhundert nur sehr eingeschränkt einnehmen.

3.2 Gewerbe und Industrie