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1. Einleitung

1.4 Forschungsstand

Die Klassifizierungen Galiziens als von „Rückständigkeit“ und Armut gekenn-zeichnetes Gebiet machten die Erforschung dieses Raums in der deutschsprachi-gen Wirtschaftsgeschichte zu einer peripheren Angeledeutschsprachi-genheit : Untersuchundeutschsprachi-gen über die ökonomische Entwicklung Galiziens wurden kaum verfasst.116 Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung Galiziens in der polnischen und ukrainischen Historiografie bedeutend besser erforscht ist, blieb auch in diesen beiden national orientierten Wissenschaftsdiskursen Galiziens Ökonomie im Vergleich mit ande-ren Regionen unterbeleuchtet.117 Ein Teil dieser Arbeiten projiziert(e) zudem die nach 1918 bzw. 1945 und 1991 etablierten staatlichen Grenzen zurück und veror-tet Galizien in den entsprechenden nationalen Narrativen.118

Neben räumlichen Verzerrungen stehen zeitliche Brüche, die sich stark an ei-ner politischen Periodisierung orientieren. Beliebte zeitliche Einschnitte für die galizische Geschichte werden in den Jahren 1848 (Grundentlastung) und 1867 (Ausgleich bzw. Einsetzen der „Galizischen Autonomie“) gesetzt. Demgegenüber skizzierte die verstorbene Krakauer Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Helena Madurowicz-Urbańska eine wirtschaftlich grundierte zyklische Periodisierung.

Demnach habe die galizische Ökonomie 1772–1815 einen Aufstieg erlebt, auf den

116 Ausnahmen sind : Baltzarek, Zentralistische und föderalistische Aspekte. Berger, Landwirtschaft in Galizien. Doppler, Die sozioökonomischen Verhältnisse in Galizien. Hauser, Entwicklung.

Mosser, Habsburgerreich. Schneller, Wachstumsprobleme.

117 Siehe dazu : Broński, Galicja w systemie podatkowym, 39. Orton, Polish Publications, 318.

Madurowicz-Urbańska, Perspektywy, 142. Dies., Stan, 201. Kulczykowski, Protoindustrializacja.

Struve, Kapitalisierung der Landwirtschaft, 2.

118 In der sowjetukrainischen Historiografie sind die Arbeiten von Osečyns’kyj (Kolonial’ne Stano-vyšče) und Chonihsman (Pronyknennja) Beispiele dafür, in der polnischen Geschichtswissenschaft folgen Eckert, Wälder, Madurowicz/Podraza, Próba und Madurowicz-Urbańska, Forschungen die-sem Schema.

eine Depression folgte, deren Höhepunkt in den 1850er und 1860er Jahren lag.

Erst nach 1880 kam es in Galizien zu einem markanten Wachstum von Produk-tion und Wertschöpfung, das durch den Ersten Weltkrieg abrupt unterbrochen wurde.119 Dieses für die gewerblich-industrielle Entwicklung Galiziens entworfene zeitliche Schema findet seine Entsprechung in der Produktivität des Agrarsektors, die nach 1876 zunahm, nachdem sie seit dem frühen 19. Jahrhunderts rückläufig gewesen war.120

Allerdings macht Madurowicz-Urbańskas Hinweis auf die durch die ökonomi-sche Integration Galiziens im späten 19. Jahrhundert ausgelösten Verdrängungs-prozesse im Gewerbe die Parallelität von Auf- und Abschwung in mehreren Pro-duktionssektoren deutlich.121 Die negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen Integrationsprozesse auf die galizische Ökonomie waren ein dominantes Thema des zeitgenössischen Diskurses in der Region. Das Narrativ, das Galizien als von den österreichischen und böhmischen Ländern ausgebeutete Kolonie klassifizierte, fand Eingang in historiografische Narrative der marxistisch geprägten Historiografie Polens und der Sowjetukraine.122 Überträgt diese Sichtweise zeit- und kontextab-hängige Diskurse undifferenziert auf einen heterogenen Zeitraum, so dient sie um-gekehrt als Indiz, die Madurowicz-Urbańskas Periodisierung vor allem am Beginn des Untersuchungszeitraumes fragwürdig erscheinen lässt.

Andererseits markierte nicht das Jahr 1815, sondern die Depressionsphase im Anschluss an die Napoleonischen Kriege zwischen 1813 und 1830 einen Wen-depunkt der galizischen Wirtschaftsentwicklung. Die Datierung dieser Zäsur im Sinn einer Krise von Gewerbe- und Industrieproduktion ist zudem von den je-weiligen Sektoren abhängig. Der Krise des Branntweingewerbes Mitte der 1830er Jahre folgte ein Einbruch in der Erzeugung von Leinen, Glas und Eisen nach der Grundentlastung 1848. Diese Krise der 1850er Jahre leitet zugleich auch zu jenen

119 Madurowicz-Urbańska, Industrie, 160, 163, 165, 169. Darauf beruft sich : Kargol, Beziehun-gen, 48. In einem später entworfenen Schema skizziert Madurowicz-Urbańska vier Phasen : (1772–1815/1815–1848/1848–1867/1867–1914), die erneut stärker politischen Zäsuren folgen.

Madurowicz-Urbańska, Perspektywy, 143f.

120 Hauser, Entwicklung, 51–54. Sandgruber, Agrarstatistik, 177.

121 Madurowicz-Urbańska, Industrie, 172f.

122 Für eine Übersicht dieser zeitgenössischen und historiografischen Diskurse siehe Hauser, Ent-wicklung, 12f., 17. Kargol, Beziehungen, 48–50. Grossmann, Handelspolitik, 3–14 sowie allge-mein : Kochanowicz, Economic Historiography, 7–9. Beispiele historiografischer Arbeiten, die das Kolonie-Narrativ übernehmen, sind : Buszko, Wandel, 6, 14. Dunin-Wąsowicz, Bewegungen, 52. Fras, Demokraci, 13. Gilewicz, Stosunki pieniężne, 156. Hödl, Vom Shtetl, 19. Kula, His-toria gospodarcza Polski, 73f. Magocsi, European Land, 6. Mahler, Economic Background, 256.

Jackevyč, Pidnesennja revoljucijnoho ruchu, , 60. Ders., Ders., Z istoriji revoljucijnoho borot’by, 68.

Osečyns’kyj, Kolonial’ne Stanovyšče. Chonishman, Pronyknennja.

Deindustrialisierungsprozessen über, die mit den Industriewarenimporten per Ei-senbahn ab den 1860er Jahren einsetzten.123

Diese Einwände machen die Diskontinuitäten, Überlappungen und Ungleich-zeitigkeiten in der Periodisierung der ökonomischen Entwicklung Galiziens deut-lich. Vielmehr verlangt die dieser Arbeit zugrunde liegende verflechtungshistori-sche Perspektive ein eigenes zeitliches Schema, das sich an Veränderungen und Brüchen in den überregionalen Beziehungen Galiziens orientiert. Eine Untersu-chung von Galiziens Wirtschaftsentwicklung über den Zeitraum 1772–1914 wurde seit Franciszek Bujaks Arbeit124 nicht mehr verfasst – sieht man von Überblicks-darstellungen ab.125 Zudem konzentrierte sich die polnische Historiografie, deren Arbeiten zur galizischen Wirtschaftsgeschichte wesentlich sind, auf jene Phasen, denen aus der Perspektive der polnischen Nationalgeschichte besonderes Interesse zukam (die letzten Jahre der 1795 restlos aufgeteilten Adelsrepublik Polen-Litauen sowie die Jahrzehnte der „Galizischen Autonomie“ ab 1867 als Laboratorium für eine moderne Gesellschaft gleichermaßen wie als „nationales Piemont“).

Die vor allem in Krakau entstandenen Arbeiten126 lieferten aufschlussreiche Ergebnisse über die Entwicklung von Landwirtschaft, Verkehrswesen, Gewerbe und Industrie, auf die sich diese Arbeit ebenso stützt wie auf die reichhaltigen Studien über den Zeitraum 1772–1792.127 Vergleichsweise nur wenige Veröffentli-chungen untersuchen hingegen die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts.128 Und selbst für die Jahrhundertwende fehlt es bis dato an einer synthetischen Bewertung des sozioökonomischen Wandels, wie der Krakauer Wirtschaftshistoriker Krzysztof Broński feststellte.129

Noch markanter ist der Mangel an Studien zu überregionalen Handels- und Kapitalverflechtungen.130 Damit harrt auch jene Wahrnehmung einer kritischen

123 Grodziski, Historia, 36. Rutkowski, Historia gospodarcza, 358–360. Kulczykowski, Protoindustri-alizacja, 112f.

124 Bujak, Rozwój gospodarczy.

125 Landau/Tomaszewski, Wirtschaftsgeschichte.

126 Z. B. Adamczyk, Spław zboża. Ders., Stosunki. Burzyński, Robotnicy w przemyśle ciężkim. Droz-dowski, Traktaty. Franaszek, Warunki. Hoszowski, Polski eksport. Kulczykowski, Protoindustriali-zacja. Madurowicz/Podraza, Próba. Michalewicz, Przemysł gorzelniany. Spyra, Browarnictwo.

127 Brawer, Galizien wie es an Österreich kam. Grossmann, Handelspolitik. Glassl Einrichtungswerk.

Kulczykowski, Kraków. Rozdolski, Stosunki poddańcze, Bd. 2. Rosdolsky, Untertan und Staat.

Rychlikowa, Realizacja. Dies., Studia nad towarową produkcją. Dies., Produkcja zbożowa.

128 Z. B. Grodziski, Historia ustroju. Sosnowska, Inna Galicja. Ślusarek, Drobna Szlachta. Ders., Uwłaszczenie. Rychlikowa, Realizacja. Dies., Studia nad towarową produkcją. Dies., Produkcja zbożowa.

129 Broński, Problem, 69.

130 Madurowicz-Urbańska, Stan, 218. Orton, Polish Publications, 325. Ausnahmen sind das

Über-Überprüfung, nach der Galizien als ein mit den anderen Regionen der Habs-burgermonarchie nur schwach verbundener Raum erscheint.131 Diesem Narrativ entsprechend fokussierten die bisherigen Arbeiten zur galizischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vorrangig die innere Entwicklung der Region und konzen-trierten sich insbesondere in den vergangenen Jahren auf den Zusammenhang von sozioökonomischen Entwicklungen und der Formierung nationaler Identitäten.132 Die Wechselwirkung des Ökonomischen und der Verschiebungen im multikultu-rellen „Galizischen Dreieck“ von Juden, Polen und Ruthenen (Ukrainern) wurde dementsprechend vorwiegend innerhalb der Region verortet, nur ansatzweise wurde der Einfluss externer Faktoren – wie der Eisenbahnanschluss und der sich dadurch verdichtende Warenhandel – diskutiert.133

Dies ist umso bemerkenswerter, als Galizien seit dem Hochmittelalter eine wichtige Rolle im überregionalen Handel spielte. Die Arbeit Leslie Kools wiede-rum, die den Zusammenhang von ökonomischer Integration und Wirtschaftsent-wicklung Galiziens berücksichtigt, klammert die Analyse von Handel und Kapi-taltransfers aus.134 Die vor einigen Jahren erschienene Studie Alison Fleig Franks zur galizischen Erdölindustrie setzte mit einer Beleuchtung der überregionalen und internationalen Wirtschaftsbeziehungen und Kapitalströme Galiziens neue Akzente, schenkte jedoch wiederum den zentraleuropäischen und habsburgischen Akteuren und Interaktionsfeldern nur wenig Aufmerksamkeit.135 In dieser Hin-sicht aufschlussreich ist die Monografie Börries Kuzmanys, die am Beispiel des Handelszentrums Brody wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verflechtungen so-wohl dies- als auch jenseits der staatlichen Grenze über den Zeitraum von 1772 bis 1914 beleuchtet.136

Im Sinn einer transnationalen Perspektive, die die Einbindung der Region in die überregionale Arbeitsteilung abseits einer ausschließlich polnischen, ukrainischen, jüdischen oder habsburgischen Perspektive betrachtet, war neben der

Zusammen-blickswerk von Landau/Tomaszewski (Wirtschaftsgeschichte), die Arbeiten von Kargol (Bezie-hungen ; Izba), Kazusek (Handel), Kulczykowski (Andrychowski ośrodek płócienniczy ; Chłopskie tkactwo bawełniane), Nečas (Początki) sowie – aus sowjetukrainischer Perspektive – Osečyns’kyj (Kolonial’ne Stanovyšče und Chonihsman (Pronyknennja).

131 Gross, Industrielle Revolution, 208. Freudenberger, Lost Momentum, 25, 123. Kula, Historia Gos-podarcza Polski, 62. Kulczykowski, Deindustrializacja, 86. Mosser, Habsburgerreich, 54f. Rudolph, Banking and industrialization, 15.

132 Z. B. Andlauer, Bevölkerung. Tokarski, Ethnic conflict. Himka, Villagers. Stauter-Halsted, Nation.

Struve, Bauer und Nation.

133 Tokarski, Ethnic conflict, besonders 47, 63, 191f.

134 Kool, Development.

135 Frank, Oil Empire.

136 Kuzmany, Stadt Brody. Siehe auch : Kuzmany/Cohen/Adelsgruber, Kleinstädte.

führung national(sprachlich)er Forschungsarbeiten die Erschließung umfangrei-cher Primärquellen unabdingbar : Letztere bestehen insbesondere aus den Akten der staatlichen Verwaltung im Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA) in Wien, den Ministerialbeständen im Hauptarchiv der Alten Akten (Archiwum Główne Akt Dawnych, AGAD) in Warschau sowie dem Fonds der Galizischen Statthalterei im Zentralen Staatlichen Historischen Archiv der Ukraine (Centralnyj deržavnyj istoryčnyj archiv Ukrajiny, CDIAL) in Lemberg. Ebendort wurde auch der Be-stand der Filiale der Creditanstalt für Kredit und Handel gesichtet, der eine wich-tige Ergänzung zu den im Archiv der Bank Austria in Wien eingesehenen Ge-schäftsberichten darstellt.

Weitere Quellen zu Betrieben und den Bezirksverwaltungen wurden in den Pol-nischen Staatsarchiven in Przemyśl (Archiwum Państwowe w Przemyślu, APP) und Krakau (Archiwum Państwowe w Krakowie, APK) eingesehen. Daneben wurde eine Reihe von gedruckten Quellen wie Denkschriften, Abhandlungen, Handelskammerberichten und Periodika in Bibliotheken in Wien, Krakau, War-schau, Breslau und Lemberg analysiert. Zitate in anderen Sprachen wurden von mir ins Deutsche übersetzt, sofern nicht anders gekennzeichnet. Die transnationale Perspektive stieß bei ihrer Umsetzung teilweise an meine sprachlichen Grenzen – die wichtigen hebräischen und jiddischen Primärquellen bleiben daher zwangsläu-fig ebenso ausgeblendet wie die Forschungsliteratur in diesen Sprachen.

Prolog. Vom mittelalterlichen Fürstentum über polnisch-litauische Wojwodschaften zum habsburgischen Galizien : Ein Abriss im historischen

Längsschnitt

Das habsburgische Galizien umfasste mehrere verschiedene Gebiete der aufgeteilten Adelsrepublik Polen-Litauen. Neben dem eigentlich beanspruchten Galizien-Wolhy-nien, der ruthenischen Wojwodschaft/województwo ruskie (auch Rothreußen genannt) um die spätere Provinzhauptstadt Lemberg/Lwów/L’viv im Osten, wurden Teile der Wojwodschaften Krakau (südlich der Weichsel/Wisła), Sandomierz, Lublin, Belz und Podoliens/Podillja/Podole der neuen territorialen Einheit zugeschlagen. Landschaft-lich war Galizien von den Flüssen Weichsel im Westen und Pruth/Zbrucz/Prut im Osten sowie den Karpaten im Süden begrenzt (Karte 1).1 In der Dritten Teilung Po-lens (1795) eignete sich die Habsburgermonarchie das sogenannte Westgalizien mit der Hauptstadt Lublin an, das von Krakau über Teile Masowiens und Podlachiens/

Podlasie bis zum Gebiet von Chełm/Cholm und Wolhynien/Volyn’/Wołyń reichte.

Diese Neuerwerbung ging jedoch im Zug des Napoleonischen Kriege 1809 (an das kurzlebige Herzogtum Warschau) ebenso verloren wie der Kreis Zamość (an das Russländische Reich). 1846 wurde nach einem gescheiterten Aufstand der polnischen Nationalbewegung die Freie Stadt Krakau inkorporiert (Karte 2).2

Neben den äußeren gab es auch innerhalb der Habsburgermonarchie erfol-gende Grenzveränderungen : Am bedeutendsten war die Zugehörigkeit der 1775 eingegliederten Bukowina (Karte 1).3 Nach der Militärverwaltung 1774–1786 wurde die Bukowina der galizischen Verwaltung unterstellt, zwischen 1790 und 1817 bildete sie eine eigenständige Provinz mit der Hauptstadt Czernowitz/

Černivci/Çernauti, aber unter Verwaltung des Lemberger Guberniums. Nach dem Wiener Kongress wurde die Bukowina erneut als „Czernowitzer Distrikt“

Galizien angegliedert (1817–1849), bevor sie endgültig zur eigenständigen Pro-vinz und dann zum Kronland mit eigener Verwaltung wurde.4 Eine zweite Ände-rung betraf die auf Grundlage der böhmischen Krone reklamierten Herzogtümer

1 Haczynski, Two contributions, 96.

2 Ebenda, 96f. Grodziski, Historia, 28. Maner, Galizien, 57. Mark, Galizien unter österreichischer Herrschaft, 3.

3 Pacholkiv, Entstehung, 172.

4 Grodziski, Historia, 29. Mark, Galizien unter österreichischer Herrschaft, 3. Hauser, Entwicklung, 5,7.

Karte 1: Die Teilungen Polen-Litauens und die Eroberung der Bukowina

Quelle: Eigene Bearbeitung.

Auschwitz/Oświęcim und Zator, die 1818 dem Teschener Schlesien (auch Österrei-chisch-Schlesien/Rakouské Slezsko/Śląsk Austriacki genannt) zugeschlagen wur-den und 1866 wieder zu Galizien zurückkehrten (Karte 2).5

Neben der fragilen räumlichen Abgrenzung stellte die plurikulturelle Zusammen-setzung der Bevölkerung insbesondere im Osten des Landes ein weiteres wichtiges Charakteristikum dar. Die galizische Gesellschaft lässt sich als relatives Gleichgewicht zwischen römisch-katholisch, Polnisch sprechenden sowie unierten bzw. seit 1774 als griechisch-katholisch bezeichneten und Ruthenisch sprechenden Bevölkerungsteilen beschreiben. Zahlenmäßig deutlich kleiner war die Gruppe der Einwohner Galiziens, die mosaischer Konfession waren und zumeist Jiddisch sprachen. Daneben lebten kleine Gruppen wie die zumeist protestantischen Deutschen, die mit der katholischen Kirche unierten Armenier, die Karaimen, Roma und Ungarn in Galizien.6

5 Haczynski, Two contribution, 98f.

6 Mark, Galizien unter österreichischer Herrschaft, 55. Stępień, Borderland City, 54. Motylewicz, Ethnic Communities, 48.

Karte 2: Die Habsburgermonarchie und Galizien in den Grenzen von 1846–1918

Quelle: Komlosy, Grenze. Eigene Bearbeitung.

Die postulierte Eindeutigkeit dieser Gruppen ist eine der administrativ-politi-schen Konstituierung sowie ihrer (wissenschaftlichen) Rekonstruktion entspre-chend nationaler Paradigmen : Zahlreiche hybride Lebensformen unterstreichen, dass Poly- und Transkulturalität weit verbreitet waren : Ruthenischsprechende Römisch-Katholiken in Ostgalizien (die sogenannten Latynnyky), zum römischen Katholizismus konvertierende und sich polonisierende, sozial aufsteigende Ruthe-nen oder die sich an der deutschen und nach 1867 verstärkt an der polnischen Hochkultur orientierende jüdische Oberschicht sind Beispiele dafür, dass Teile der galizischen Bevölkerung jenseits der von den nationalen Identitätsdiskursen gezo-genen Trennlinien lebten.7

Die Proportionen verschoben sich vor allem infolge unterschiedlicher Gebur-ten- und Sterberaten der einzelnen Gruppen zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert. So ging in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der

An-7 Struve, Bauern und Nation, 12. Motylewicz, Ethnic communities, 42–44. Wróbel, Jews of Galicia, 113–115.

Karte 1: Die Teilungen Polen-Litauens und die Eroberung der Bukowina

Quelle: Eigene Bearbeitung.

Auschwitz/Oświęcim und Zator, die 1818 dem Teschener Schlesien (auch Österrei-chisch-Schlesien/Rakouské Slezsko/Śląsk Austriacki genannt) zugeschlagen wur-den und 1866 wieder zu Galizien zurückkehrten (Karte 2).5

Neben der fragilen räumlichen Abgrenzung stellte die plurikulturelle Zusammen-setzung der Bevölkerung insbesondere im Osten des Landes ein weiteres wichtiges Charakteristikum dar. Die galizische Gesellschaft lässt sich als relatives Gleichgewicht zwischen römisch-katholisch, Polnisch sprechenden sowie unierten bzw. seit 1774 als griechisch-katholisch bezeichneten und Ruthenisch sprechenden Bevölkerungsteilen beschreiben. Zahlenmäßig deutlich kleiner war die Gruppe der Einwohner Galiziens, die mosaischer Konfession waren und zumeist Jiddisch sprachen. Daneben lebten kleine Gruppen wie die zumeist protestantischen Deutschen, die mit der katholischen Kirche unierten Armenier, die Karaimen, Roma und Ungarn in Galizien.6

5 Haczynski, Two contribution, 98f.

6 Mark, Galizien unter österreichischer Herrschaft, 55. Stępień, Borderland City, 54. Motylewicz, Ethnic Communities, 48.

Karte 2: Die Habsburgermonarchie und Galizien in den Grenzen von 1846–1918

Quelle: Komlosy, Grenze. Eigene Bearbeitung.

teil von römischen Katholiken (von 46 auf 42 Prozent) zugunsten von Griechisch-Katholiken (von 45 auf 50 Prozent) zurück, während die jüdische Bevölkerung infolge der gesetzlichen Diskriminierungen bei etwa 7 Prozent stagnierte. Die erste Volkszählung von 1857 wies den Anteil der jüdischen Bevölkerung mit fast 10 Prozent aus, während die Griechisch-Katholiken relativ an Gewicht verloren (45 Prozent) und der Anteil der Römisch-Katholiken (42 Prozent) unverändert blieb.8 In der zweiten Jahrhunderthälfte verschoben sich die Proportionen kaum : Bis 1890 nahm der Anteil der jüdischen Bevölkerung infolge höherer Geburten- und niedrigerer Sterberaten zu, sank allerdings nach der Jahrhundertwende bis 1910 leicht auf 10,9 Prozent. Demgegenüber tauschten bereits 1869 Römisch- und Griechisch-Katholiken die Plätze ; bis ins frühe 20. Jahrhundert verschoben sich die Proportionen nur leicht.9

Mit der Schaffung des Territoriums von „Galizien“ wurden mehrere adminis-trative Regionen zu einer neuen Raumeinheit zusammengeführt, die jeweils un-terschiedliche geschichtlich-politische, gesellschaftliche und wirtschaftsräumliche Charakteristika aufwiesen. Der westliche Teil um und südlich von Krakau, oft als Kleinpolen bezeichnet, war Teil des sich ab dem 10.  Jahrhundert formierenden polnischen Staates und stellte mit der Haupt- und Universitätsstadt Krakau bis 1596 sogar dessen politisches und kulturelles Zentrum.10 Das im 11. Jahrhundert als eigenständiges Fürstentum entstandene Galizien-Wolhynien mit der Hauptstadt Halicz/Halyč geriet ab dem 12. Jahrhundert zunehmend unter den Einfluss seiner benachbarten Mächte Ungarn und Polen. Dieser Prozess, der durch die naturräum-liche Offenheit des Gebiets gefördert wurde, kulminierte im frühen 13. Jahrhundert in der erstmaligen kurzzeitigen ungarischen Herrschaft, der die Eroberung eines beachtlichen Teils des Fürstentums durch Polen im Jahr 1349/52 folgte. Das unga-rische Intermezzo, das auch die Grundlage für die habsburgischen Reklamationen im Rahmen der Ersten Teilung Polen-Litauens im Jahr 1772 darstellte, wiederholte sich zwischen 1370 und 1387. Danach war Galizien-Wolhynien fixer Bestandteil des polnischen Staats.11 Ab den 1430er Jahren forcierte die Krone die politische, soziale und kulturelle Integration des neu erworbenen Territoriums. Dies spiegelte sich auch im Namen województwo ruskie wider, den die Region im Zug der admi-nistrativen Gliederung Polens im 15. Jahrhundert erhielt. Der örtliche,

8 Buszko, Wandel, 5. Himka, Dimensions, 26. Wróbel, Jews of Galicia, 105.

9 Ebenda, 111. Andlauer, Die jüdische Bevölkerung, 54f., 64–68. Bujak, Galicya, Bd. I, 100. Buszko, Wandel, 12f. Tokarski, Ethnic conflict, 35, 37f., 40–42. Zamorski, Transformacja demograficzna, 90.

10 Lübke/Müller/Jaworski, Geschichte Polens, 79–82, 84, 98–102, 140f., 145, 196. Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas, 34f., 48.

11 Wendland, Westen des Ostens, 393–396. Davies, Im Herzen Europas, S.260. Mark, Galizien unter österreichischer Herrschaft, 1. Magocsi, European Land, 6.

sche Adel und die orthodoxe Kirche verloren ihre Sonderstellung. Die vom Staat geförderte Ansiedlung von polnischen Adeligen, deutschen Handwerkern und jü-dischen Händlern sollte die Region gleichermaßen sozio-politisch integrieren als auch – nach den Tartareneinfällen – wirtschaftlich stärken.12 Dieser Prozess stand im Kontext der territorialen Expansion des polnischen Staats nach Osten. 1366 war das an die ruthenische Wojwodschaft grenzende Podolien erobert worden, 1386 kam es mit der Heirat zwischen Jadwiga und Władysław Jagiełło zur Personalunion zwischen Polen und Litauen, womit die vom Großfürstentum beherrschten Gebiete Wolhynien, Podlesien und Kiew/Kyjiv per Personalunion erstmals mit Polen ver-bunden waren. Mit der in der Union von Lublin 1569 fixierten Realunion Polen-Litauen wurden diese Gebiete direkt dem Gebiet Polens zugesprochen.13

Die politisch-militärische Expansion des polnischen Staats nach Osten schuf in vielen Fällen Grenzregionen, die in doppeltem Sinn peripher waren : Aus ihrer Funktion als Sicherheitspuffer, Aufmarsch- und Verteidigungsterritorium ergaben sich bestenfalls prekäre ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten.14 Das Diktum eines polnischen Ökonomen, der im 16. Jahrhundert für eine „Kolonisierung der Ukraine“ plädierte und diese mit der westeuropäischen Expansion nach Über-see verglich,15 demonstriert dabei nicht nur Polens Rolle als „kolonisiertes und kolonisierendes“16 Imperium in der Frühen Neuzeit, wie dies Maria Janion ausge-drückt hat. Zugleich werden hier die Bezüge zwischen innerer und äußerer Peri-pherisierung deutlich : Mit der Expansion nach Übersee und der darauf folgenden Verlagerung der innereuropäischen Wirtschaftszentren von Oberitalien und Süd-deutschland nach Nordwesteuropa wurde Polen zum Rohstoff- und Nahrungsmit-tellieferanten für die boomenden westeuropäischen Ökonomien, insbesondere die Niederlande.17

In ökonomischer Hinsicht waren die Territorien des späteren habsburgischen Galizien abseits der politischen Grenzziehungen stark miteinander verflochten : Ab dem 12. Jahrhundert stellten sie auf der Ost-West-Achse eine wichtige Tran-sitroute dar, die Süddeutschland mit Kiew verband und auf der unter anderem Salz gehandelt wurde.18 Mit der Verlagerung der europäischen Wirtschaftszentren von

12 Wendland, Westen des Ostens, 397f. Motylewicz, Ethnic communities, 38.

13 Davies, Im Herzen Europas, 260. Lübke/Müller/Jaworski, Geschichte Polens, 106–108, 152. Au-gustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas, 48.

14 Adamczyk, Stellung, 211. Topolski, Internal Economic Peripheries, 205, 216.

15 Wandyzc, Price of Freedom, 49.

16 Janion, Rozstać się.

17 Landsteiner, Kein Zeitalter der Fugger, 95. Pach, Role of East-Central Europe, 220. Dunin-Wąsowicz, Spatial Changes, 180. Rusiński, The Role of Polish Territories, 116.

18 Wendland, Westen des Ostens, 391. Magocsi, European Land, 6.

Oberitalien und Süddeutschland an den Atlantik ergab sich ab dem 16. Jahrhun-dert ein grundlegender Wandel.19

Die Einbindung Polen-Litauens in den Weltmarkt als Lieferant von Rohstoffen und Agrarprodukten für die westeuropäischen Ökonomien über die Ostseehäfen mit Danzig/Gdańsk an der Spitze erfasste auch Teile des späteren Galiziens : So erhielten die adeligen Güter in den fruchtbaren Tälern im Einzugsgebiet der Flüsse

Die Einbindung Polen-Litauens in den Weltmarkt als Lieferant von Rohstoffen und Agrarprodukten für die westeuropäischen Ökonomien über die Ostseehäfen mit Danzig/Gdańsk an der Spitze erfasste auch Teile des späteren Galiziens : So erhielten die adeligen Güter in den fruchtbaren Tälern im Einzugsgebiet der Flüsse