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4. Austauschsphären

4.2 Geldflüsse : Industrie, Finanz und öffentlicher Haushalt

4.2.4 Staatsfinanzen

Anders als die bisher beleuchteten Interaktionen bei Industrieinvestitionen und Kapitalmarkt sind fiskalische Einnahmen und Ausgaben in der hoheitlichen Sphäre des Staates verankert, weshalb das Wirtschaftsleben untrennbar mit po-litischer Macht und ihrer Legitimation verbunden ist. Dies wird im galizischen Fall umso deutlicher, als der habsburgische Staat von dem überwiegenden Teil der regionalen Öffentlichkeit durchaus nicht als legitimer Rechtsnachfolger der Adels-republik gesehen wurde. Dies kam in der wirtschaftspolitischen Sphäre nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in der Fiskalpolitik des neuen imperialen Zentrums gegenüber der künstlich geschaffenen Provinz. Gerade hier erfolgte ein massiver Bruch, da die Habsburgermonarchie deutlich mehr Steuerleistungen einhob als das dezentralisierte Polen-Litauen. Sah die Wiener Zentrale die Ausweitung der finanzpolitischen Vorschriften auf Galizien als Teil der Eingliederung der Provinz in ihren Herrschaftsbereich, so galten sie der regionalen Elite als Ausdruck der Fremdherrschaft.177 Aus dieser Konstellation erklären sich lang anhaltende Urteile in der polnischen Historiografie, die dem habsburgischen Staat eine ausbeuterische Politik gegenüber Galizien zuschrieben, da dieser bestrebt war, „den

größtmögli-174 Eigene Berechnung nach März, Industrie- und Bankenpolitik, 339. Die Bardotation war jener Betrag, über welchen die Filialen bei der Zentrale zum Satz der Nationalbank verfügen konnten.

175 Siehe zu anderen Geschäften der CA in Galizien, die nicht in der Bilanz der Filiale aufscheinen : März, Industrie- und Bankenpolitik, 75, 135, 207.

176 Michel, Banques et banquiers, 81f., 93.

177 Rutkowski, Historia gospodarcza, 459f. Grodziski, Historia, 36, 233. Bieberstein, Freiheit, 30.

chen Gewinn aus Galizien herauszuholen, und zwar in Form von Steuern, billigen Arbeitskräften, Rekruten u.a.m“, während er selbst keine Investitionen tätigte.178

Dieses Bild ist stark von einem spezifischen Teil zeitgenössischer Diskurse ge-prägt und somit kritisch zu überprüfen, da vergleichende Analysen über Galizi-ens Rolle im Steuersystem der Habsburgermonarchie erst für die konstitutionelle Phase vereinzelt vorliegen.179 Daher ist der in mehreren Arbeiten konstatierte Be-fund, wonach Galizien zwischen 1868 und 1913 im Zuge gesteigerter Verhand-lungsmacht im Verhältnis zu den Einnahmen überproportional an den staatlichen Ausgaben partizipierte, in einen langwelligen Vergleich einzuordnen.180 Dabei wird entsprechend der Methode Józef Buszkos und im Unterschied zu Josef Wysockis Arbeit der gesamte Anteil Galiziens an Einnahmen und Ausgaben errechnet, da die Beschränkung auf einzelne Posten ein selektives Bild von Galiziens Bedeutung als Zahler und Transferempfänger abgeben würde.181

Dieser Vergleich wird jedoch durch die wechselnden Erhebungsmethoden bei der Budgetierung ebenso erschwert wie durch die nur teilweise aufgearbeiteten Quellen : Lassen sich insbesondere für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende Einnahmen und Ausgaben der einzelnen Provinzen bzw.

Kronländer aus den amtlichen Statistiken sowie den Arbeiten des Galizischen Landesstatistikbüros entnehmen, so müssen diese für das späte 18. und frühe 19.

Jahrhundert fast ausnahmslos direkt aus den Primärquellen, den Zentralrechenab-schlüssen, errechnet werden. Diese weisen im Unterschied zum Staatsvoranschlag (Präliminar) die tatsächlich erfolgten Einnahmen und Ausgaben aus.182

Für die 1780er Jahre wurden die tatsächlich geleisteten Zahlungen mitsamt den Nachzahlungen für vorangegangene Jahre erhoben, addiert und die jeweiligen An-teile berechnet, weshalb sich diese Zahlen von den Summen der Originalquellen geringfügig unterscheiden, aber dieselbe Tendenz aufweisen.183 Auch die amtli-chen Statistiken geben die Daten aus den Rechnungsabschlüssen wieder, weisen aber dennoch leichte Abweichungen zu letzteren auf.184 Das Landesstatistikbüro in Lemberg verwendete hingegen die Daten der Staatsvoranschläge.

Verzerrun-178 Dunin-Wąsowicz, Bewegungen, 52. Für analoge Urteile in der polnischen Historiografie siehe beispielsweise : Fras, Demokraci, 13. Kula, Historia gospodarcza Polski, 62.

179 Buszko, Wandel, 14f., 30f. Broński, Problem, 78f. Ders., Galicja w systemie podatkowym.

180 Für den Befund siehe : Baltzarek, Zentralistische und föderalistische Aspekte, 80–82. Buszko, Wandel, 14f., 30f. Matis, Österreichs Wirtschaft, 397f. Wysocki, Infrastruktur, 189f. Bieberstein, Freiheit, 30.

181 Buszko, Wandel, 14f. Wysocki, Infrastruktur, 243–246.

182 Wysocki, Die österreichische Finanzpolitik, 81. Weiss, Verhältnis, 61.

183 Dickson, Finance and Government, Bd. 2, 99, 113, 383f.

184 Weiss, Verhältnis, 61.

gen ergeben sich durch die 1863 verfügte Umstellung vom Brutto- auf das Netto-prinzip bei der Budgetierung, da fortan die Erhebungskosten als Teil der Ausga-ben gezählt wurden.185 Außerdem erfassten die staatlichen Statistiken des späten 19.  Jahrhunderts nur mehr die wichtigsten Einnahmen- und Ausgabenposten, weshalb das Endergebnis von den galizischen Statistiken abweicht, die alle Posten berücksichtigten. Da die Differenzen bei den prozentuellen Werten gering sind, ist die Datenreihe dennoch mit Einschränkungen vergleichbar.186

Weitere Verzerrungen der Berechnungen entstehen durch die vergleichende Messgröße des Staatshaushaltes, der sich nur zu einem gewissen Teil regional glie-dern lässt. Es wurde der offiziellen Statistik gefolgt, die Einnahmen und Ausga-ben den einzelnen Provinzen bzw. Kronländern zuordnet, und die den Anteil der daraus errechneten Summen am gesamten Haushalt ermittelt. Die Bezugsgröße ist zwecks Kontinuität der Datenreihe jeweils der Staatshaushalt der westlichen Provinzen : Ab 1867 wurden zwei getrennte Budgets für Cis- und Transleithanien erstellt, aus denen die gemeinsamen Ausgaben für Militär, Außen- und Finanz-politik bestritten wurden, die jedoch ebenfalls nicht räumlich zuordenbar sind.187

Der errechnete regionale Anteil spiegelt folglich in allen Erhebungen nur die Verteilung der räumlich aufgeschlüsselten Posten wider. Diese Vorgangsweise zeigt bereits das Dilemma regionaler Finanzpolitik, die von dem Gesamtstaat nicht ein-fach zu trennen ist. Eine Reihe von Leistungen war auf übergeordnete Aufgaben ausgerichtet – wie die Staatsbahnen oder das Militär –, im Fall der Staatsschulden wiederum ist die Errechnung eines regionalen Anteils riskant, da hier zwischen auf den Provinzen bzw. Kronländern lastenden Ausständen und den Schulden des Gesamtstaats zu unterscheiden ist.188

Ein Vergleich von Galiziens Anteil an den staatlichen Einnahmen und Ausga-ben zwischen 1777 und 1902, der all diese Einschränkungen und Relativierungen berücksichtigt, bestätigt die eingangs rezipierte Feststellung von einem steigenden Ausgabenanteil nach 1868 (Abbildung 4-16) : Während im späten 18. Jahrhundert Galizien rund 11 Prozent an staatlichen Leistungen der westlichen Regionen er-hielt, waren es um die Jahrhundertmitte 16 Prozent und in den letzen zwei Jahr-zehnten des 19. Jahrhunderts 17 Prozent. Der Einnahmenanteil lag fast durchwegs unter jenem der Ausgaben ; hier fällt die Zunahme bei weitem bescheidener aus (von 10 auf 13 bzw. 12 Prozent).

185 Wysocki, Die österreichische Finanzpolitik, 79f.

186 Vgl. RSG I-IV und Statistische Handbücher 1893–1902. Pammer, Public Finance, 133.

187 Ebenda, 139f.

188 Vgl. dazu : Feldstein, Vermögens- und Zahlungsbilanz, 45, 52–57, 86. Głąbiński, Samodzielność finansowa, 27–36, 61–63.

Abbildung 4-16 : Anteil Galiziens am Budget Cisleithaniens 1777–1902

Quellen : Eigene Berechnungen nach FHKA, Oberster Rechnungshof, ZRA 1781–1785, 1787–1788.

HHStA, KA, Nachlass Zinzendorf, Handschrift Bd. 30b, 893–898. Tafeln für Statistik 1828–30, 1849–

1857. RSG II, 253–262, RSG III, 282, RSG IV, 348. Statistisches Handbuch 1893–1902.

Nur in der Krise 1849/57 und noch viel stärker in der Rezession nach 1873 sank Galiziens Anteil, d. h. Steuereinnahmen und staatliche Ausgaben gingen stärker zurück als in anderen Regionen. Allerdings war der Rückgang des Ausgabenanteils jeweils schwächer ausgeprägt als jener der Einnahmen ; teilweise nahmen die fiska-lischen Zuflüsse nach Galizien sogar zu. Auch im erneuten Konjunkturaufschwung ab Mitte der 1890er Jahre stieg der Ausgabenanteil Galiziens stärker als jener der Einnahmen, wobei die mäßig wachsenden Steuergelder die geringe ökonomische Leistungsfähigkeit Galiziens belegen.189 Die von Josef Wysocki angeführten Aus-gabenposten legen nahe, dass der Anteil Galiziens an den Bildungs- und Infra-strukturausgaben zwischen 1900 und 1913 zunahm, während er allgemein stag-nierte.190 Hier werden die gestärkte Verhandlungsmacht der regionalen Eliten und die Investitionen in die militärische Infrastruktur sichtbar.

Für die Zahlungsbilanz aussagekräftiger als die Anteile am Staatshaushalt sind die Nettoflüsse öffentlicher Gelder aus der bzw. in die Region, was in Abbildung

189 Buszko, Wandel, 14.

190 Wysocki, Infrastruktur, 244f.

0 0,2 0,4 0,6 0,8 1

1777 1783 1789 1795 1801 1807 1813 1819 1825 1831 1837 1843 1849 1855 1861 1867 1873 1879 1885 1891 1897

Anteil Galiziens an Staatseinnahmen Cisleithaniens (%) Anteil Galiziens an Staatsausgaben Cisleithaniens (%)

Ausgaben des Staates in Cisleithanien in % der aus Galizien bezogenen Einnahmen

4-16 als Prozentsatz der in Galizien getätigten Ausgaben an den von dort bezo-genen Einnahmen ausgedrückt wird. Die im späten 18. Jahrhundert zumeist hohe Quote – nur in wenigen Jahren lag sie unter 30, nie aber unter 20 Prozent – wird auch von den etwas abweichenden Zahlen Peter Dicksons für 1784 und 1786 be-stätigt. Dicksons Berechnungen belegen zudem, dass Galiziens Nettoausgaben-quote höher als in fast allen anderen Provinzen war : Die böhmischen Länder lagen in etwa gleich auf und nur Niederösterreich war infolge der Hauptstadtfunktion Wiens mit 183,4 Prozent (1784) bzw. 185,7 Prozent (1786) unangefochtener Net-toempfänger.191

Dies verweist auf die kräftigen Rückflüsse von Steuergeldern nach Galizien auf-grund von Verwaltungseinrichtung und Straßenbau. Allerdings ist zu betonen, dass entgegen Karl Vocelkas Feststellung192 dem Staat schon wenige Jahre nach der In-korporierung Galiziens erhebliche Nettoeinnahmen zuflossen, während die relativ hohen Ausgaben vor Ort aus den Einnahmen der Provinz selbst gedeckt wurden.

Hier wird ein regionaler Umverteilungsmechanismus deutlich : Wien „acted as a kind of pump, siphoning off revenue from the provinces, and returning more of it to some than to others“.193

In den darauf folgenden Jahrzehnten sank die Ausgabenquote, doch selbst im frühen 19. Jahrhundert erreichte sie nicht jene prekären 16 Prozent, die Stanisław Grodziski für das Jahr 1817 konstatierte, als der Finanzbedarf des Zentralstaats nach der Währungsreform im Jahr zuvor Galizien ganz besonders stark betraf.194 Der Anteil der Ausgaben an den Einnahmen erreichte 1828/30 in etwa ein Drittel und überstieg zwischen 1849 und 1857 teilweise deutlich 50 Prozent, womit die entsprechenden Quoten Niederösterreichs und Böhmens überschritten wurden, während Galizien in etwa gleichauf mit Oberösterreich lag.195 Auch in den meisten Rezessionsjahren blieb der Anteil relativ hoch und sank erst in den 1890er Jahren vorübergehend, bevor er um die Jahrhundertwende neuerlich zunahm, aber das Niveau der 1870er Jahre nicht überstieg.

Insgesamt werden jene Behauptungen deutlich widerlegt, die selbst im spä-ten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine geringere Partizipation Galiziens an den Staatsausgaben im Vergleich mit anderen Kronländern oder sogar nur einen ge-ringen Rückfluss der in Galizien eingehobenen Steuergelder orteten. Der Anteil der in Galizien verwendeten Steuergelder lag zumindest bei einem Drittel,

zu-191 Dickson, Finance and Government, Bd. 2, 113. Vgl. auch Rutkowski, Historia gospodarcza, 463.

192 Vocelka, Glanz, 100.

193 Dickson, Finance and Government, Bd. 2, 112.

194 Grodziski, Historia, 35.

195 Eigene Berechnungen nach : Tafeln für Statistik 1849–1857.

meist sogar deutlich über 40 Prozent, was im Verhältnis zu anderen Regionen eine stattliche Quote war.196 Dementsprechend war auch Galiziens Steuerleistung in Relation zur Bevölkerung und Fläche besonders niedrig. Diesbezügliche Befunde älterer Arbeiten197 werden durch Daten bestätigt : 1787 lag die nordöstliche Pro-vinz mit einer Steuerleistung von 2.003 32 3/8 Kreuzer pro Quadratmeile und 47 11/16 Kreuzer pro Kopf weit abgeschlagen hinter allen westlichen Regionen auf dem letzten Platz.198 1828 hatte neben den ungarischen Ländern und Dalmatien nur Tirol eine geringere Steuerleistung in Relation zu Fläche und Bevölkerung als Galizien. Dieses Verhältnis blieb auch während des Neoabsolutismus unverändert, auch wenn nun die zentralen ungarischen Länder mehr Steuergelder pro Kopf als die nordöstliche Provinz der Monarchie leisteten.199

Etwas ambivalenter fällt hingegen der Befund bei der Nettoabgabenquote im Verhältnis zum Wohlstand aus : Im späten 18. Jahrhundert war Galizien gleichauf mit Ungarn am stärksten belastet (1,4 Prozent). Die böhmischen Länder lagen nur geringfügig darunter (1 Prozent), während die österreichischen Länder infolge der Hauptstadtfunktion Wiens einen Überschuss von 16,6 Prozent des Regional-einkommens aufwiesen.200 Galiziens Fiskalquote nahm in weiterer Folge zu und erreichte zu Beginn der 1840er Jahre 5,5 Prozent und im Durchschnitt der Jahre 1849 bis 1857 5 Prozent des regionalen Einkommens. Zwar hatte Galizien einen weitaus höheren Steuerdruck als das ebenfalls einkommensschwache Dalmatien (–3,5 Prozent) und entrichtete mehr Nettosteuern als Tirol (0,7 Prozent) und Oberösterreich (4,4 Prozent), lag aber hinter dem weniger wohlhabenden Kärn-ten und Krain als auch reichen Regionen wie Böhmen (6,9 Prozent) und dem Spitzenreiter Niederösterreich (13,5 Prozent).201 Bis zur Jahrhundertwende sank Galiziens steuerliche Belastung auf 2,7 Prozent (1902), nahm aber dann bis zum Ersten Weltkrieg (1913) leicht auf 3,8 Prozent zu – was den erwähnten öffentli-chen Investitionen entspreöffentli-chen würde.202

Lässt sich damit insgesamt nicht von einer fiskalpolitischen Benachteiligung Galiziens zugunsten anderer Regionen sprechen, ändert dies allerdings nichts an der Tatsache, dass die Steuereinnahmen aus Galizien nicht nur im späten 18.

Jahr-196 Doppler, Die sozioökonomischen Verhältnisse, 82. Buszko, Wandel, 14.

197 Rutkowski, Historia gospodarcza, 463. Bieberstein, Freiheit, 30.

198 HHStA, Nachlass Zinzendorf, Handschrift, Bd. 112, 708f.

199 Statistische Tafeln 1828, 1853–1857.

200 Eigene Berechnungen nach Dickson, Finance and Government, Bd. 1, 137 und Bd. 2, 113.

201 Eigene Berechnung nach : W[iśniewski], Rys, 38f. (für 1841) und Statistische Tafeln 1849–1857.

BIP für 1841 jeweils nach : Gross, Estimate, 87, 99.

202 Eigene Berechnung nach : Statistisches Handbuch 1902. Feldstein, Vermögens- und Zahlungsbi-lanz, 50f. BIP für 1900 : Schulze, Income Dispersion, 25 ; für 1913 : Good, Aufstieg, 239.

hundert einen Beitrag zur Stärkung und Aufrechterhaltung der geopolitischen Macht der Habsburgermonarchie leisteten.203 Darüber hinaus lassen sich weitere indirekte ungünstige Effekte der Fiskalpolitik auf Galizien ausmachen.

Erstens ist zu beachten, dass die amtliche Steuerstatistik die reale regionale Gliederung der Einnahmen verzerrt, da zwischen Steuerzahler und -träger keine zwingende Identität besteht, wenn beispielsweise ein in der Statistik als Steuerzah-ler aufscheinendes Unternehmen, die Steuerleistungen de facto auf die Konsumen-ten (in einer anderen Provinz) abwälzte.204

Zweitens berücksichtigte die Fiskalpolitik nur in Ausnahmefällen unterschied-liche Entwicklungsgrade und Preisniveaus bei der Festlegung der Steuertarife, wodurch in schwächeren Regionen inflationäre Tendenzen zusätzlich gefördert, Produktion und Konsum gehemmt werden konnten.205 Zumindest für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war dies jedoch nicht der Fall : So stiegen die Le-benshaltungskosten in Lemberg zwischen 1890 bzw. 1900 und dem letzten Vor-kriegsjahr nicht wesentlich stärker an als in den anderen cisleithanischen Landes-hauptstädten.206

Drittens ist der unterschiedliche Effekt einer formal homogenen Steuergesetz-gebung auf regional ungleiche Wirtschaftsstrukturen zu berücksichtigen. Bereits die Erhöhung der Verzehrsteuer im Jahr 1835 belastete die Branntweinbrennerei und trug zum temporären Wettbewerbsverlust eines galizischen Schlüsselsektors bei.207 Ähnliches lässt sich für die Zuckerproduktion und das staatliche Salz- und Tabakmonopol feststellen.208 Insgesamt verstärkte das Steuersystem zumindest im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert die Unterschiede zwischen Agrar- und Ge-werberegionen.209

Viertens war der Staat auch in seiner Funktion als Eigentümer ein wichtiger Akteur von Kapitalzu- bzw. Kapitalabflüssen. Letztere fanden – neben Staatsbe-trieben wie den Eisenbahnen – im Wesentlichen über verstaatlichte Produktions-branchen wie die eben genannte Salz- und Tabakerzeugung statt. Zwar waren sie ein Teil der allgemeinen Einnahmen- und Ausgabenpolitik, hatten aber insofern spezielle Bedeutung, als die geschaffene Wertschöpfung nur zum geringen Teil in

203 Komlosy, Innere Peripherien, 11. Pieper, Financing, 190. Siehe dazu genauer : Kapitel 5–7.

204 Wysocki, Die österreichische Finanzpolitik, 101.

205 Siehe dazu für die Verzehrsteuer : Saurer, Konsumbesteuerung, 405.

206 Mesch, Arbeiterexistenz, 182f. (Tabelle 29 und 30). Appendix D.

207 Broński, Galicja w systemie podatkowym, 40. Saurer, Konsumbesteuerung, 392. Michalewicz, Przemysł gorzelniany, 162–195. Spyra, Browarnictwo, 70–77. Kulczykowski, Chłopskie tkactwo bawełniane, 159. Weiss, Verhältnis, 102–105. Rutkowski, Historia gospodarcza, 360.

208 Siehe die Daten für Galizien : ZRA 1832, 1846, 1852 (Datenbank Michael Pammer).

209 Pieper, Financing, 188f.

der Region verblieb – beispielsweise zur Tätigung neuer Investitionen. Somit wurde Kapitalbildung in der Region erschwert, was zwar andere Kronländer ebenso traf, in denen aber diese Produktionszweige infolge einer stärker diversifizierten Wirt-schaftsstruktur nicht so ins Gewicht fielen.

Fünftens sind auch die öffentlichen Ausgaben in ihrer Multiplikatorwirkung auf die galizische Ökonomie zu hinterfragen. Zweifellos förderten Investitionen in das Verkehrswesen und die militärische Infrastruktur – wie Eisenbahnlinien, Be-festigungsanlagen und Versorgungsbasen – Wertschöpfung und Beschäftigung.210 Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit bei den Aufträgen regionale Firmen und Beschäftigte zum Zug kamen und welche Interessen bei diesen Investitionen im Vordergrund standen. Die Bedeutung des staatlichen Militäretats für lokale Un-ternehmen und Beschäftigung wurde durch die Kosten als Aufmarschgebiet bzw.

Verteidigungsterrain mehr als aufgewogen – wie nicht erst im Ersten Weltkrieg zu sehen war. Diese Funktion als militärische Sicherheits- und Pufferzone wirkte sich mitunter selbst in Friedenszeiten negativ auf die Investitionstätigkeit aus, was sich vor allem in unmittelbaren Bedrohungsszenarien äußerte.211

Bereits 1972 hat Herbert Matis darauf hingewiesen, dass zwar die wohlha-benden Kronländer Cisleithaniens indirekt die Infrastrukturinvestitionen in den ärmeren Regionen finanzierten, jedoch von der dadurch vorangetriebenen Aus-weitung des Binnenmarkts selbst einen großen Nutzen zogen.212 Die staatlichen Infrastrukturinvestitionen ermöglichten die zunehmende Verflechtung des Gü-ter- und Warenaustausches, der Galiziens Rolle als Rohstofflieferant verstärkte und die Peripherisierung im Sinn von Deindustrialisierung vorantrieb. Werden der rein quantitative Anteil Galiziens am Staatshaushalt und die Zahlungsbilanz als Bewertungskriterien für Entwicklungseffekte transzendiert, zeigt sich insgesamt ein viel ungünstigeres Bild.213 So lieferte die Finanzpolitik des Staates nur wenige Impulse zur Überwindung der peripheren Stellung Galiziens. Vielmehr spiegelte sich im Staat selbst die Hierarchie zwischen Zentren und Peripherien wider, deren Struktur durch die staatliche Steuer- und Investitionspolitik über weite Strecken reproduziert wurde.

210 Landau/Tomaszewski, Wirtschaftsgeschichte Polens, 50. Zgórniak, Galizien in den Kriegsplänen, 300. Buszko, Wandel, 18. Doppler, Die sozioökonomischen Verhältnisse, 50f. Wierzbieniec, Prze-miany, 203.

211 Komlosy, Regionale Ungleichheiten, 101. Maner, Galizien, 9f., 170–199. Zgórniak, Galizien in den Kriegsplänen, 307. Landau/Tomaszewski, Wirtschaftsgeschichte Polens, 50. Michel, Banques et banquiers, 81, 83. Siehe dazu Kap. 7.3.1

212 Matis, Österreichs Wirtschaft, 395, 398.

213 Vgl. Komlosy, Innere Peripherien, 10f.