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2 Forschungsstand: Interkulturalität und Gesundheit in Deutschland

3.4 Verfügbare Grundlagen zum Kenntniserwerb

3.4.3 Wissen und Ressourcen in arabischen Ländern

Wird das Stichwort „ADHS, arabische Sprache“ bei Google eingegeben, gibt es 123.000 Ergebnisse nach einer Suchzeit von 0,34 Sekunden (Suche durchgeführt am 4. April 2015). Die Menge der Informationen, die zu bekommen ist, ist also unter diesem Suchbergriff sehr klein im Vergleich zu deutschsprachigen Seiten.

Die Seite www.gulfkids.com von Dr. Alsabe ist eine private Webseite mit sonderpädagogischen Inhalten. Sie bietet über 20 wissenschaftliche Artikel, in denen es

70 unter anderem um ADHS geht, und zwei Artikel, die nur von ADHS handeln. Die weiteren mehr oder weniger hilfreichen Seiten sind:

- ein Wikipedia-Eintrag - eine Facebook-Seite

- ein kleiner Artikel auf der Umm Al-Qura University-Seite

Die restlichen Seiten sind weitgehend nutzlos. Sie geben nur einige Definitionen oder versuchen, über dieses Problem im Rahmen von Schule zu berichten. Im Gegensatz zu den deutschen Seiten zeigt google.com allerdings auch keine kommerziellen Seiten wie zum Beispiel Anzeigen von Privatschulen, privaten Bildungsanbietern, von ärztlichen Praxen für ADHS oder für sonstige Hilfsangebote. Auch sind sehr wenige Hinweise auf Bücher über die Störung zu finden. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass die Anzahl erhältlicher arabischer Bücher mit dem Begriff ADHS im Titel 20 nicht überschreitet.

Von offizieller Seite ist die Informationslage ebenfalls sehr dürftig: Das saudische Ministerium für Gesundheit mit seiner Webseite www.moh.gov.sa hält gar keine Information über ADHS bereit. Auch fehlen Angaben über Ärztinnen und Ärzte, die mit ADHS-Betroffenen arbeiten. Die Seite des Bildungsministeriums (www.moe.gov.sa) enthält auch gar keine Informationen über ADHS. Es gibt dort nur einige Nachrichten über ein neues Programm für ADHS-Kinder in der Primarschule, das zur Zeit erstellt wird und ab nächstem Jahr umgesetzt werden soll. Saudi-Arabiens Bildungsministerin nahm 2014 die Erstellung von Programmen vor für Schüler und Schülerinnen der Primarstufe, die von ADHS betroffen sind. Für sie gibt es die Möglichkeit der kompletten Integration in den normalen, regulären Grundschulablauf. Dies wird mit der Bereitstellung von sonderpädagogischer Förderung bei Bedarf erreicht. In diesen Programmen wird mit modernen Methoden und wissenschaftlich fundierten pädagogischen und psychologischen Praktiken gearbeitet. Die Umsetzung erfolgt ab dem nächsten Jahr, also ab 2016.

Das Ministerium für Bildung in Saudi-Arabien bietet keine pädagogischen oder psychologischen Dienstleistungen für ADHS-Kinder oder ihre Eltern an. Das Ministerium sieht nur für Kinder mit Lernschwäche einige Dienste vor. Das kann eine Lerntherapie mit besonderem Unterricht, räumlich von den anderen Kindern getrennt,

71 sein. Eine Statistik des Ministeriums für Bildung zeigt, dass in Saudi-Arabien nur sehr wenige Schüler und Schülerinnen mit Lernschwäche identifiziert werden, um mit ihnen die notwendigen Programme in ihren Schulen durchzuführen. Trotz der großen Zahl von mehr als 28.000 Schulen in Saudi-Arabien, bieten weniger als 5% der Schulen Unterstützung für Kinder mit Lernschwäche. Immerhin hilft dieses geringe Angebot indirekt auch Kindern mit ADHS, da viele von ihnen auch eine Lernschwäche haben.

Arabien

-Auch von wissenschaftlicher Seite ist die Informationslage zu ADHS in Saudi

2002 oder ʿtmāhn 2005). Schon 1999 wurde md

Ālḥ erforscht worden (zum Beispiel

beklagt, dass in den entwickelten Ländern das Thema im Fokus stand und dass es Hilfe und Trainingsprogramme für Eltern gab, die es leider in arabischen Ländern nicht gab matik ist mittlerweile sehr groß und die Medizin 1999). Das Ausmaß der Proble

Āli / Bdr (

ist kaum darauf eingestellt: Eine neue wissenschaftliche Studie bestätigt, dass 1,6 Arabien von ADHS betroffen sind. Es gibt jedoch nur 40 Ärzte, mit diesem Störungsbild sind ( die ausreichend kompetent im Umgang

Prävalenz in den

-Tatsächlich jedoch gibt es keine verlässlichen Angaben zur ADHS

arabischen Ländern, außer einer schon recht alten Studie von Alshaks aus dem Jahr

fest, dass die verfügbaren Informationen über diese Erkrankung fast zu vernachlässigen sind und dass es auf alle Fragen zu ADHS in arabischen Ländern keine befriedigenden Antworten gibt.

Ālḥmd (2002) hatte diesen Mangel schon erkannt und darauf hingewiesen, dass es in der arabischen Welt kein Interesse am Thema ADHS zu geben schien. Er fand keinerlei Studien oder Forschungen über ADHS, außer zwei Studien, die in Ägypten durchgeführt worden waren. In den arabischen Golfländern fand Ālḥmd im Internet keine Studien oder Forschungsarbeiten über ADHS. Daher wandte er sich per Telefon und Mailings an die psychiatrischen Kliniken und pädagogischen Institute, die spezialisiert waren auf Kindererziehung und Störungen bei Kindern. Dort fragte er an, ob es Studien oder Forschungsvorhaben gäbe, erhielt aber überall verneinende Antworten. Eine von Ālḥmd 2002 durchgeführte Studie in der Stadt Dammam im Osten Saudi-Arabiens untersuchte 1287 männliche Kinder. Er fand heraus, dass bei der Verbindung von Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung die Rate bei 16,7%

lag. Etwas begrenzter war die Prävalenz des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms allein:

72 hier betrug die Rate 16,5 %. Die Prävalenz von Hyperaktivität und Impulsivitätsstörung war 12,6 %. In einer Studie von ḥmydy (2010) ging es um die Prävalenz in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Bei den Diagnosen im Bereich ADHS zeigte sich, dass der Subtyp der Aufmerksamkeitsstörung der häufigste war mit einer Prävalenz von 8,3 %. Die Ergebnisse beim gemischten Bild von ADHS ergaben eine Rate von 5,2 % und beim hyperaktiv-impulsiven Subtyp 7,4 %.

Al Hajje (2013) betont den Mangel an Ressourcen, die zur Verfügung stehen, um betroffenen Familien im Alltagsleben zu helfen, Psychotherapeuten oder qualifiziertes Gesundheitspersonal. Dieser Mangel führt zu weiteren psychologischen Druck auf die Eltern. Sie leiden unter dem geringen Bewusstsein für die Störungen, für Hyperaktivität und für Aufmerksamkeitsdefizitstörungen sowohl in den Bildungseinrichtungen als auch in der Gesellschaft. Zudem weist die schlechte Forschungs- und Versorgungslage auch auf einen Mangel an Bewusstsein für die Bedürfnisse der Betroffenen in diesem Bereich hin.

Dieser Befund bestätigt sich in einer Umfrage, die von der Al-Riyadh-Zeitung 2014 durchgeführt wurde. Viele Eltern von ADHS-Kindern machten deutlich, dass sie nicht genügend Unterstützung bekommen. Sie finden, dass die Gesellschaft gute Aufklärungskampagnen braucht und dass die Medien in ihrer Informationsfunktion erhebliche Aktivierung benötigen. Sie betonen auch, dass die privaten Krankenhäuser immer noch nur an der „Medizin" interessiert sind. Die psychologischen Aspekte einer Krankheit eines Kindes würden dort weitgehend ignoriert. Hinzu käme, dass auch ärztliche Praxen und die Schulen unvorbereitet sind für den Umgang mit psychisch belasteten Kindern. Die Aussagen bestätigt der Leiter des ADHS-Vereins AFTA, Suad Yamani. Er beschreibt, dass Kinder und ihre Familien vor mehreren Schwierigkeiten stehen. Am wichtigsten ist der Mangel an erforderlicher Unterstützung im Bildungs- und akademischen Umfeld, sei es in Schulen, Hochschulen oder Universitäten. Seiner Ansicht nach ist der Grund dafür der Mangel an Bewusstsein der Erzieher und Pädagogen. Hinzu kommt eine allgemeine gesellschaftliche Unfähigkeit, die erforderliche Unterstützung in diesem Bereich zu schaffen (Ālʾ,Nṣāry 2011). AFTA ist der erste Verein, die im Nahen Osten geschaffen wurde, um von ADHS betroffenen Kindern und ihren Familien zu helfen. Er wurde offiziell im Sozialministerium unter der Nummer (474) vom 19. Ramadan 1430 registriert und in dem Jahr zugelassen (2000).

73 3.5 Zusammenfassung

Seit Ende des 18. Jahrhunderts gab es erste Vorstellungen über eine Störung, auf die das heute als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bezeichnete Phänomen zurückgeführt werden kann. Über die Jahre und Jahrhunderte wurden mehr und mehr Informationen gesammelt. Teilweise zufällig, teilweise durch systematische Forschung wurde nach und nach deutlich, dass eine Vielzahl von Ursachen zu ADHS führen kann.

So wurden außerdem verschiedene Behandlungsformen entwickelt, ausprobiert und verbessert. Ein wichtiger Wendepunkt war dabei die Entdeckung der Wirkung von Methylphenidat in den 1950er Jahren, das als Medikament zum Beispiel unter dem Namen Ritalin heute sehr bekannt ist und viel verschrieben wird. Seit Ende der 1960er Jahre wird die Krankheit im amerikanischen Psychiatriekategorienmanual DSM (zu jener Zeit in der Fassung DSM II) geführt. Das hat mit dazu beigetragen, dass sie heute weltweit als psychiatrische Störung anerkannt wird. Die Forschung hat hauptsächlich in der westlichen Welt stattgefunden. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass das Phänomen weltweit, auch in arabischen Ländern, auftritt und für Kinder und ihre Familien eine große Belastung darstellen kann. Die für ADHS typische motorische Unruhe, Impulsivität und fehlende Konzentration sind für die Betroffenen und ihr soziales Umfeld häufig problematisch.

Damit Einheitlichkeit und Sicherheit in der Diagnose erreicht werden können, sind im DSM (heute: DSM V) und im deutschen Klassifikationssystem ICD-10 die Symptome beschrieben. Die Medizin hat dazu weitere Anhaltspunkte formuliert, die vorhanden sein müssen, damit bei einer Person ADHS diagnostiziert werden kann. Das gleiche gilt für die beiden Unterkategorien, nämlich ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Störung) und HKS (Hyperkinetisches Syndrom). Die Störungen können sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen auftreten. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Es muss für die Diagnose und die spätere Behandlung genau darauf geachtet werden, ob nicht andere Problematiken vorliegen, die zu den typischen Symptomen führen, etwa körperliche Einschränkungen, ein nicht-krankhaftes motorisch aktives Verhalten oder einfach oppositionelle Einstellungen, besonders in der Schule.

Es wurde und wird noch immer viel darüber diskutiert, ob ADHS in der betroffenen Person selbst angelegt ist oder ob die Umwelt so wirkt, dass ADHS entstehen kann.

74 Tatsächlich kann diese Frage nicht so beantwortet werden, dass entweder das eine oder das andere richtig ist. Beteiligt an der Entstehung von ADHS sind einerseits neurochemische, neuroanatomische und genetische Faktoren. Das heißt, der chemische Haushalt im Gehirn ist zu beachten, ebenso wie die Funktionsfähigkeit und der Aufbau des Gehirns. Teilweise ist ADHS erblich bedingt. Andererseits spielen sozioökonomische und psychosoziale Bedingungen eine Rolle: Wenn zum Beispiel Familienmitglieder psychisch krank sind, Eltern bestimmte Erziehungsverhalten haben, sich nicht genug um ihre Kinder kümmern können oder wenn die Familie finanzielle Sorgen und Konflikte hat, kann das ADHS-Risiko steigen. Auch die Situation in der Schule ist wichtig. Je mehr von solchen Faktoren auf ein Kind einwirken und je länger, umso größer wird dieses Risiko. Gleichzeitig kann eine gute Familienstruktur hilfreich sein für ein betroffenes Kind, seine ADHS gut zu bewältigen.

In den letzten Jahren wird bei immer mehr Kindern ADHS diagnostiziert. In Europa beträgt die Prävalenzrate bei Kindern zwischen 3,6 % und 6,7 % sowie bei Jugendlichen zwischen 2,2 % und 2,6 %. Diese Werte sind international nicht immer gleich. Forschungen in arabischen Ländern haben deutlich höhere Raten ergeben, wobei die Ergebnisse hier sehr unterschiedlich waren. Zudem wurde allgemein festgestellt, dass Kinder und Erwachsene mit ADHS sehr häufig weitere Störungen haben, etwa Depressionen, Lernschwäche, Angststörungen und vieles mehr. Auch wurden Zusammenhänge zwischen Drogenkonsum bzw. Medikamentenmissbrauch und ADHS festgestellt.

Viele Kinder, die ADHS haben, können nicht geheilt werden in dem Sinne, dass die Störung durch eine Behandlung verschwindet. Daher geht es in der Therapie von ADHS sehr oft darum, ein gutes Leben auch mit der Störung zu ermöglichen. Wie das genau erreicht werden kann, hängt vom individuellen Fall ab. Zum einen muss gefragt werden, wie schwer die Störung ist. Zum anderen ist das Umfeld wichtig: Gibt es eine sorgende Familie, die bereit und in der Lage ist, ihren Tagesablauf auf die Störung des betroffenen Kindes einzustellen, kann ADHS zum Beispiel ohne Medikamente bewältigt werden. Psychotherapien für Betroffene und ihre Angehörigen sind häufig hilfreich. Die medikamentöse Behandlung ist teilweise umstritten, wird aber sehr oft – auch erfolgreich – eingesetzt.

75 Neben den Eltern sind es in vielen Fällen die Lehrer und Lehrerinnen, die merken, dass ein Kind ADHS haben könnte. Daher ist es wichtig, dass beide Gruppen gut informiert sind. Diese Informationen erhalten sie von Ärzten und Ärztinnen, aus Fachzeitschriften, aus Medien, Internet und Büchern sowie durch Fortbildungen. Forschungen haben gezeigt, dass viele Eltern und Lehrkräfte nicht genug über ADHS wissen, dass sie aber daran interessiert sind, mehr zu lernen. In Deutschland ist es jedoch nicht leicht, korrekte und möglichst objektive Informationen zu bekommen. Die öffentliche Diskussion ist davon geprägt, dass es unterschiedliche Einstellungen zu den Ursachen und damit zu den Behandlungsformen gibt. Diese schlägt sich in Ratgebern und anderen Elterninformationen nieder und kann Eltern verwirren. Viele kommerzielle Hilfsanbieter verzerren die Informationen, die zum Beispiel über das Internet erhältlich sind. Als weitgehend seriös können die Materialen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gelten, die dem Bundesgesundheitsministerium angeschlossen ist. Die Informationen dieser Stelle sind allerdings manchmal schwer verständlich und liegen nur zum Teil in den Herkunftssprachen von Migrationsfamilien vor. Selbsthilfemöglichkeiten ergänzen das offizielle Gesundheitssystem. Hier gibt es besonders für Eltern gute Möglichkeiten, sich mit anderen betroffenen Eltern in Selbsthilfegruppen zusammenzufinden, auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen.

Im arabischsprachigen Raum ist die Informationslage deutlich spärlicher. Im Internet finden sich fast keine nützlichen Texte oder Hinweise. Auch gibt es kaum Bücher über das Thema. Die zuständigen Ministerien bieten noch keine Unterstützung oder Information an. Jedoch ist für 2016 der Beginn eines ADHS-Programmes für Primarschulen angekündigt. Für Kinder mit Lernschwächen gibt es Hilfen, die auch ADHS-Kindern zugute kommen können. Allerdings führen nur 5 % aller Schulen diese Hilfen durch.

Die Forschungslage in arabischen Ländern ist noch nicht sehr breit. Wissen und Einstellungen von Lehrkräften wurden bisher kaum beforscht, obwohl diese eine Schlüsselrolle im Verlauf einer ADHS haben können. Auch die Rolle von Eltern ist sehr wichtig. Sie wurde für arabische Ländern noch gar nicht beforscht. Die in manchen Fällen besonders schwierige Situation in der Migration wurde ebenfalls noch wenig

76 beleuchtet und nicht mit der Lage in der Herkunftsregion verglichen. Diese Lücken möchte die hier vorliegende Arbeit mit ersten Ansätzen schließen helfen.

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