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2 Forschungsstand: Interkulturalität und Gesundheit in Deutschland

3.2 Aspekte der Ätiologie von ADHS

3.3.1 Prävalenz und Epidemiologie

Sowohl international als auch in Deutschland hat die Anzahl der von ADHS betroffenen Personen in den letzten Jahrzehnten zugenommen (Schlack et al. 2014). In einer deutschen Studie wurde ein Vergleich der Prävalenzraten der Zeiträume 2003 bis 2006 und 2009 bis 2012 durchgeführt. Es wurde jedoch kein deutlicher Unterschied zwischen den ersten Jahren und dem zweiten Zeitraum festgestellt. In die Studie wurden Kinder im Altern von drei bis 17 Jahren einbezogen. Bei Prävalenzuntersuchungen ist es wichtig, zu sehen, wie Fälle gezählt werden (Döpfner/ Frölich/ Lehmkuhl 2000, S. 5) und wie die Untersuchungen aufgebaut sind, das heißt, wer gefragt wird, wie gefragt wird und wonach genau gefragt wird (Steinhausen 2010b, S. 29). Es werden unterschiedliche Fragebögen in den Studien verwendet und es werden manchmal die Diagnosen nach DSM und teilweise nach ICD zugrunde gelegt.

In der Studie von Schlack et al. (2014) wurden die Eltern gefragt, ob ein Arzt/eine Ärztin oder eine Psychologin/ein Psychologe bei ihrem Kind schon einmal ADHS diagnostiziert hatte. Außerdem wurden bestimmte Kinder, die in einem ADHS-Test als Verdachtsfälle eingestuft wurden, mitgezählt. Über 10 % der Kinder in Deutschland haben demnach entweder ADHS oder sind Verdachtsfälle. Mehr als vier Mal so viele Jungen wie Mädchen sind betroffen. Außerdem stellte sich heraus: „Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus waren mehr als zweieinhalbmal so häufig betroffen wie solche aus Familien mit hohem Sozialstatus“ (Schlack et al. 2014, S. 822). Studien, die

59 zeitliche Entwicklungen erfassen, sogenannte Verlaufs- oder Längsschnittstudien, zeigten, dass die Störungen über mehrere Monate bestehen geblieben waren. Bei einer Untersuchung, die sich über neun Jahre erstreckte, hatte zum Schluss nur noch ca. ein Viertel der Betroffenen eine ADHS-Diagnose. Was dieses Gleichbleiben oder Abnehmen verursacht hatte, konnte nicht endgültig geklärt werden (Steinhausen 2010b, S. 36 f.).

Die meisten Untersuchungen haben bisher nach der Prävalenz und nach epidemiologischen Aspekten bei Kindern und Jugendlichen gefragt. Eine große internationale Erhebung mit Erwachsenen wurde im Jahr 2007 auf mehreren Kontinenten mit über 11.000 Teilnehmenden durchgeführt (Steinhausen 2010b, S. 31).

Sie ergab eine Prävalenzrate von 3,4 %, „wobei die Prävalenz in Ländern mit niedrigem Einkommen bei 1,9 % und in Ländern mit höherem Einkommen bei 4,2 % lag“

(Steinhausen 2010b, S. 31). Auch bei Erwachsenen gibt es mehr männliche Betroffene als weibliche (Steinhausen 2010b, S. 34). Mit zunehmendem Alter gehen die Prävalenzraten in den meisten Studien zurück (Steinhausen 2010b, S. 35).

Ein großer Teil der vorliegenden Studien wurden vor allem in den USA durchgeführt. Es gibt jedoch auch andere Untersuchungsbereiche und Herkunftsländer.

Forschungsarbeiten, die europäische Länder verglichen, kamen auf Prävalenzen bei Kinder zwischen 3,6 % und 6,7 % sowie bei Jugendlichen zwischen 2,2 % und 2,6 % (Döpfner/ Frölich/ Lehmkuhl 2013, S. 4 f.). Wurde nach den Subtypen gefragt, also nur nach Aufmerksamkeitsstörungen (ADS) oder nur nach Hyperaktivitätsverhalten, wurden vergleichsweise mehr Mädchen mit ADS und eher mehr Jungen mit impulsiver Hyperaktivität erfasst als bei ADHS (Steinhausen 2010b, S. 35). ADHS ist in bestimmten Forschungen mit 80 % der häufigste Typ gewesen, während in anderen die Unaufmerksamkeit im Vordergrund stand (Schimmelmann et al. 2006, S. 426). Nach Ländern aufgeschlüsselte Ergebnisse haben Al Hamed et al. zusammengetragen (2008). Danach wurden bei Kindern Prävalenzen in den USA von 4 bis 8 % festgestellt, von 7,6 bis 9,5 % in Korea und von 10 bis 20 % in Indien.

Ein besonders hoher Wert hatte sich laut Al Hamed et al. für die Vereinigten Arabischen Emirate ergeben, für die eine Studie von Bu-Haroon, Eapen und Bener 1999 eine Prävalenzrate von 29,7 % ergeben habe (Al Hamed et al. 2008, S. 166). Farah et al.

60 schlagen als Hypothese zur Erklärung solch hoher Raten vor, dass wegen des negativen Einflusses von ADHS auf den Bildungsverlauf viele Eltern sehr genau auf Hinweise auf ADHS achten und ihre Kinder früh zu Untersuchungen und Behandlungen schicken (Farah et al. 2009, S. 8). Dieselbe Studie wird allerdings in anderen Quellen mit anderen Werten zitiert. So nennen Farah et al. diese Studie als Beispiel und geben die Prävalenz mit 14,9 % an. Zusammenfassend halten Farah et al. als Ergebnis ihres Reviews aller epidemiologischen Studien über ADHS in allen arabischen Ländern fest:

„ADHD rates in Arab populations were similar to those in other cultures“ (Farah et al.

2009, S. 1). Eine weitere arabische Untersuchung ist von Al Hamed et al. vorgelegt worden (2008). Von ihnen wurden knapp 1.300 Grundschüler in Dammam City in Saudi-Arabien beforscht. Es wurde herausgefunden, dass dort die Prävalenz von ADHS 16,4 % betrug. Der hyperaktiv-impulsive Subtyp hatte eine Prävalenz von 12,4 % und der aufmerksamkeitsgeminderte Subtyp von 16,3 % (Al Hamed et al. 2008, S. 165).

3.3.2 Abgrenzung von anderen Störungen und mögliche Begleiterkrankungen Eine Reihe von Krankheiten, von denen ADHS abzugrenzen ist, ist in Tabelle Nr. 3 wiedergegeben. Es handelt sich hier um Störungen, die mit ADHS verwechselt werden könnten. Eine eindeutige Diagnose ist jedoch wichtig für die richtige Wahl der Behandlung, etwa wenn Psychotherapie oder Medikamente verschrieben werden sollen.

Andere körperliche

Tabelle 3: Einblick in Differenzialdiagnosen zu ADHS (in Anlehnung an Döpfner/ Frölich/ Lehmkuhl 2013, S. 6)

Ein beträchtlicher Teil der Kinder mit ADHS (ca. 60 %) zeigt nicht nur die typischen

„Kernsymptome“ von ADHS, sondern weitere psychische Auffälligkeiten und Störungen,

61 die als Komorbiditäten bezeichnet werden. So werden bei vielen Kindern Störungen des Sozialverhaltens, Entwicklungs- und emotionale Störungen festgestellt (zum Beispiel bei Schimmelmann et al. 2006, S. 426 oder Farah et al. 2009, S. 8). Sie wirken als zusätzliche Risikofaktoren. Kinder, die die kombinierte Störung ADHS haben, weisen mehr Komorbiditäten auf als Kinder, die nur hyperkinetisch oder nur unaufmerksam sind.

Dabei kommen insbesondere aggressiv-dissoziale Störungen vor. Auch haben die betroffenen Kinder innere Befindlichkeiten wie Ängste oder Depressionen. Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten treten häufig auf, ebenso wie Entwicklungs- und Lernstörungen. Je früher die komorbiden Erscheinungen auftreten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass später massive Langzeitfolgen sichtbar werden. Dazu gehören Kriminalität und Drogenmissbrauch (Döpfner/ Frölich/ Lehmkuhl 2013, S. 7).

Internationale Befunde sind von der Art der Komorbiditäten her ähnlich wie die deutschen. Farah et al. (2009) haben Ergebnisse zweier arabischer Studien dazu gefunden. Demnach leiden von ADHS betroffene Kinder und Erwachsene zusätzlich häufig unter affektiven Störungen wie Depression oder bipolarer Psychose. Lern-, Sprech- und Kommunikationsstörungen wurden ebenso angetroffen wie Angststörungen und Einnässen. Eine weitere Studie, die nur Erwachsene untersucht hatte, wies zusätzlich erhöhten Substanzmissbrauch nach (Farah et al. 2009, S. 6 f.).

2003 führte Al Haidar eine Untersuchung in einer psychiatrischen Kinderklinik in Riad in Saudi-Arabien durch. 28,3 % der dort behandelten Kinder, die mit ADHS diagnostiziert worden waren, wiesen zusätzliche Sprachstörungen auf und 38,7 % leichte Intelligenzminderung (Al Haidar 2003, S. 988).

Eine niederländisch-amerikanische Studie aus dem Jahr 2013 hat sich speziell mit dem Gebrauch von Substanzen bei ADHS-Patienten und –Patientinnen befasst. Die International ADHD in Substance Use Disorders Prevalence Study (IASP) hat hierzu internationale Daten von 3.558 drogen- und medikamentenabhängigen Personen aus 10 Ländern zusammengetragen und ausgewertet. Ca. 41 % der Befragten stellten sich auch als ADHS-Betroffene heraus (van de Glind et al. 2013, S. 233).