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2 Forschungsstand: Interkulturalität und Gesundheit in Deutschland

2.3 Kommunikation und Sprache in Migrationsfamilien

Die Familie ist in der Regel der Ort, an dem Kinder zu sprechen lernen. Mit der Sprach-vermittlung geben die Eltern und andere Familienmitglieder Werte, Normen und kultu-relles Wissen an ihre Kinder weiter, und in vielen Familien mit Migrationshintergrund wird die Muttersprache der Eltern gesprochen (vgl. Lattouf 2008, S. 7). Das deutsch-sprachige Umfeld, das spätestens mit der Einschulung zu einem weiteren wichtigen Lebensbereich der Kinder wird, vermittelt ebenfalls sowohl Sprache als auch Regeln, Verhaltensweisen und andere kulturelle Aspekte. Hieraus können innerhalb der Familie Konflikte entstehen, so dass Lattouf formuliert: „Für viele ausländische Eltern ist Schule eine Bedrohung ihrer familiären Zukunft“ (Lattouf 2008, S. 7).

Diese Bedrohung ergibt sich unter anderem aus dem vielfältigen Wertesystem, in dem die Kinder aufwachsen. Normen der deutschen Gesellschaft stimmen manchmal nicht

29 überein mit denen der Herkunftskultur der Eltern. Der kulturelle Hintergrund bildet ein System, in dem die Geschehnisse des Alltags Sinn ergeben. Das System ist wie ein Gerüst, das Sicherheit vermittelt, weil in ihm klar ist, wer sich wann wie verhalten muss.

Dieses Gerüst ist bei vielen Eltern das, was sie aus dem Herkunftsland mitgebracht ha-ben. In Deutschland erleben sie nun, dass es hier häufig nicht verstanden wird (vgl.

Hoffmann, 2013, S 133). Sogar die eigenen Kinder stellen ihr bekanntes kulturelles Sys-tem in Frage, weil sie mit einem ganz anderen SysSys-tem konfrontiert sind (vgl. Hoffmann 2013, S. 133 f.) und sich etwa in der Schule jeden Tag in diesem System ihren Platz erarbeiten müssen. Manche Kinder mit Migrationshintergrund wachsen so in einem

„Spannungsfeld auf […], dessen Pole die westlichen Werte des Gastlandes einerseits und die traditionellen Werte des Herkunftslandes andererseits bilden“ (Leweke et al.

2007, S. 443).

Wichtig ist der Hinweis darauf, dass solche Beobachtungen nicht verallgemeinert wer-den dürfen. So kann davon ausgegangen werwer-den,

„dass auch die Lebenswelten und Biografien junger Muslime in Deutschland hochgra-dig modernisiert sind, allerdings je nach sozialer Gruppe in spezifischer Weise“ (Wen-sierski/ Lübcke 2006, S. 18).

Der Blick mancher deutscher medizinischer Fachkräfte auf Migrationsfamilien verkennt die immense Veränderungsbereitschaft und Flexibilität, die migrierte Familien aufbrin-gen, wenn sie „Mitgebrachtes“ unter den Bedingungen der Migration in Frage stellen und auch ihr Erziehungsverhalten an das neue Umfeld anpassen (Reindl 2011, S. 17).

Nicht nur innerhalb der Familie kann die kulturelle Vielfalt zu Konflikten führen. Sie bringt auch im Außen erschwerte Kommunikation mit sich, wenn deutsche Sozialarbei-ter oder Ärztinnen althergebrachte Ansichten vorschnell verurteilen und durch „unsen-sible Konfrontation traditioneller Familien mit ‚modernen‘ Wertvorstellungen und Verhal-tensmustern“ (Gaitanides 2013, S. 160) eine Hürde aufbauen, die den Zugang zu Bera-tungsstellen, Lehrkräften oder medizinischen Einrichtungen noch erhöht.

In jedem Land spielt im Zusammenhang mit Migration und Integration die betreffende Landessprache eine wichtige Rolle. Es scheint in Deutschland mittlerweile breiten Kon-sens darüber zu geben, dass die Beherrschung des Deutschen die Grundlage für eine Teilhabe an der hiesigen Gesellschaft sei (vgl. Alicke et al. 2010, S. 36 oder Ahamer

30 2012, S. 12). Für die deutsche Bundesregierung gilt: „Das Erlernen der deutschen Sprache bildet das Fundament gelingender Integration“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2014, S. 54). Vor diesem Hintergrund werden Zugewanderten über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Integrationskurse angeboten, die aus einem längeren Sprachkurs und einem kurzen Orientierungskurs bestehen. Diese Kur-se sind im Kur-seit 2015 bestehenden ZuwanderungsgeKur-setz verankert (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2014, S. 54 ff.). Eine Berechtigung zur Teilnahme haben al-lerdings nur Personen, die einen langfristigen Aufenthaltstitel bekommen. Menschen, die sich als nicht anerkannte Flüchtlinge in Deutschland aufhalten (und zu diesen gehö-ren gerade zur Zeit viele Personen aus arabischen Ländern, vor allem Syrien), haben keinen Anspruch auf einen Integrationskurs. Wenn sie einen Deutschkurs machen wol-len, müssen sie diesen auf privater Basis belegen und selbst bezahlen.

Obwohl immer wieder das Prinzip angeführt wird „Sprache ist der Schlüssel für erfolg-reiche Integration“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2014, S. 56), gilt gerade für Deutschland, dass es nicht nur mangelnde Deutschkenntnisse sind, die eine Teilha-be an der Gesellschaft für viele Zugewanderte erschweren. Besonders in Bezug auf Kinder sind es auch sozioökonomische Lagen, die Erfolge - vor allem Schulerfolge – beeinflussen, wie die PISA-Bildungsvergleichsstudien gezeigt haben (OECD 2014, S. 274). Zudem spielt im deutschen Bildungssystem der Bildungshintergrund der Eltern eine wichtige Rolle für die Schulleistungen ihrer Kinder (vgl. Alicke et al. 2010, S. 36).

Eine besondere Fähigkeit, die viele Kinder und ihre Eltern mit Migrationshintergrund haben, nämlich Zwei- oder sogar Mehrsprachigkeit, wird dabei kaum anerkannt. Dahin-ter steht unDahin-ter anderem ein in vielen Fällen nicht mehr zeitgemäßes Verständnis von Wanderung, das die Transnationalität, die für viele Menschen in einer globalisierten Welt selbstverständlich geworden ist, ignoriert (vgl. Pries 2013, S. 24). Statt dessen wird davon ausgegangen, dass der Aufenthalt hier eine endgültige Entscheidung für ein Leben in Deutschland ist. Zu diesem Aufenthalt gehöre eine enge Bindung an die deut-sche Sprache. Jedoch gilt diese Erwartung nicht für alle Zugewanderten, sondern sie ist mit sozioökonomischen und anderen Leistungen verknüpft, denn zum Beispiel wird we-nig Anstoß daran genommen, dass viele in Berlin lebende US-amerikanische Personen oder in Düsseldorf arbeitende Menschen aus Japan kein Deutsch sprechen. Von Men-schen mit Herkunftshintergrund aus den arabiMen-schen Ländern werden jedoch

Deutsch-31 kenntnisse erwartet und es werden nicht-deutsche Sprachkenntnisse sogar als Defizite wahrgenommen. So schreibt Lattouf über arabische Eltern und formuliert, dass einige von ihnen

„an so erheblichen Sprach- und Bildungsdefiziten [leiden], dass sie weder in der Lage sind, ihnen Sprachhilfen zu geben noch bei den Haussaufgaben (sic!) zu helfen“ (Lat-touf 2008,S. 8).

Familien, in denen Eltern wenig Deutsch sprechen, stehen häufig nicht nur vor der Situ-ation, dass geringe Deutschkenntnisse als ganz generelles „Sprach- und Bildungsdefi-zit“ gesehen werden. Auch werden Deutschkenntnisse in Behörden, Schulen oder me-dizinischen Einrichtungen vorausgesetzt. Dolmetschdienste werden kaum in solchen Institutionen in Deutschland vorgehalten (vgl. Ahamer 2012, S. 12). Stattdessen sind es oft die Kinder, die für ihre Eltern dolmetschen. Über die Bedeutung dieser anspruchsvol-len Aufgabe für die betroffenen Kinder hat Ahamer gearbeitet. Sie hat eine empirische Studie durchgeführt, in der sie darauf hinweist, dass diese Kinder viel leisten, aber die-se Tätigkeit für sie auch schwierig ist (vgl. Ahamer 2012). Da Kinder in Migrationsfami-lien häufig schneller Deutsch können als ihre Eltern, werden sie gelegentlich gebeten, zu übersetzen oder zu dolmetschen. Dass sie nicht die Lebenserfahrung eines Erwach-senen haben, kann dabei zu Verzerrungen und psychischer Belastung führen. Auch können sie viele Fachbegriffe nicht übersetzen, etwa medizinische Ausdrücke, obwohl die richtigen Wörter hier oft wichtig sind. Problematisch ist es auch, wenn sie Gesprä-che übersetzen, in denen es um sie selbst geht, etwa in der Schule oder in der ärztli-chen Praxis. Auch ist Streit in der Familie möglich, wenn Eltern sich nicht richtig wieder-gegeben fühlen oder misstrauisch sind, ob das Kind korrekt übersetzt. Die Untersu-chung von Ahamer hat aber auch ergeben, dass viele Kinder das Dolmetschen als selbstbewusstseinssteigernd erleben (vgl. Ahamer 2012).