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4 Entwicklung eines Forschungsdesigns

4.3 Critical Incidents zur interkulturellen Kommunikation

4.3.2 CIT und Culture Assimilator

In Trainingsprogrammen mit der Bezeichnung Culture Assimilator werden Situationen bearbeitet, in die Menschen kommen können, die sich in einer ihnen eher fremden kulturellen Umgebung befinden. Historisch geht das Konzept auf einige Psychologen der Universität Illinois in den USA zurück, die in den 1960er Jahren ein interkulturelles Training für Studierende entwarfen (Lange 1994, S. 21). Auf beruflichen oder studienbedingten Reisen oder in anderen interkulturellen Begegnungen können

89 zwischenmenschliche Konflikte oder Missverständnisse entstehen (Foelbach/

Rottenaicher/ Thomas 2002, S. 12). Im Culture Assimilator-Training werden die eigenen kulturellen Prägungen und Verhaltensmuster reflektiert und eine offene Einstellung erarbeitet (Foelbach/ Rottenaicher/ Thomas 2002, S. 11). Der theoretische Hintergrund ist die Attribuierungstheorie (Lange 1994, S. 22). Darauf wurde bereits in Kapitel 2 eingegangen: Menschen möchten sich erklären können, warum es bestimmte Verhaltensweisen gibt. Diese Erklärungen können im Außen oder innerhalb einer Person gesucht werden. „Eigenes Verhalten wird tendenziell als normal und den Umständen entsprechend angesehen, d.h., es wird externen Faktoren zugeschrieben.

Vom eigenen Verhalten abweichendes Verhalten anderer wird dagegen als nicht der Norm entsprechend und unangemessen angesehen werden und wird daher eher inneren Faktoren der anderen Person zugeschrieben“ (Lange 1994, S. 23). Im Culture Assimilator-Programm werden daher Aspekte der anderen Kultur vermittelt, indem die ihnen zugrunde liegende Norm vermittelt wird. Nach Foelbach, Rottenaicher und Thomas gibt es in allen Kulturen „fundamentale Handlungsprinzipien“, sie sprechen von

„Kulturstandards“ (Foelbach/ Rottenaicher/ Thomas 2002, S. 11). Das Training kann entlang dieser Kulturstandards aufgebaut werden, so dass zu jedem der Standards Situationen bearbeitet werden können (Foelbach/ Rottenaicher/ Thomas 2002, S. 14).

Es wird im vorbereitenden Training per Culture Assimilator mit Übungen auf der Grundlage von kurz geschilderten problematischen Situationen gearbeitet. Eine solche Situation wird beschrieben und den Trainingsteilnehmenden werden mehrere Reaktionsmöglichkeiten oder Erklärungen für die Situation vorgeschlagen. Die Teilnehmenden sind aufgefordert, sich mit diesen Reaktionen zu befassen. Zu jeder Möglichkeit gibt es eine Rückmeldung, die die jeweilige Situation besser verstehbar macht (Foelbach/ Rottenaicher/ Thomas 2002, S. 12 f.). Zum Beispiel soll in dem hier zitierten Buch von Foelbach, Rottenaicher und Thomas auf den beruflichen Aufenthalt von Deutschen in Argentinien vorbereitet werden. Das Training beginnt mit der Schilderung von Verhandlungssituationen, die sehr langwierig wirken und erst nach mehreren Treffen zu einer Einigung führen. Es werden mehrere mögliche Ursachen vorgeschlagen, von denen die Variante „Argentinier sind eher misstrauisch gegenüber Fremden und wollen ihre Geschäftspartner erst kennen lernen, bevor sie ihnen auf geschäftlicher Ebene Vertrauen entgegenbringen“ als die am ehesten richtige benannt wird (Foelbach/ Rottenaicher/ Thomas 2002, S. 18).

90 Das Konzept des Kulturstandards und auch das Culture Assimilator-Training können auch kritisch betrachtet werden. Von kulturellen Standards zu sprechen, kann zwar gegebenenfalls im Rahmen von Selbstreflexion in interkultureller Arbeit nützlich sein. Es kann auch dazu dienen, den Kultur-Begriff zu thematisieren. Ansonsten jedoch birgt die Vorstellung, dass es von Kultur zu Kultur unterschiedliche und vor allem klar benennbare Standards gäbe, die Gefahr erheblicher Vereinfachung und verfestigender Stereotypisierung, die durch interkulturelle Ansätze gerade vermieden werden sollten.

Das Culture Assimilator-Training scheint für komplexe zwischenmenschliche Begegnungen einfache Antworten zu bieten („Argentinier sind eher misstrauisch gegenüber Fremden“). In der transkulturellen Pädagogik und anderen Disziplinen gibt es Erkenntnisse und Vorgehensweisen, die mit Differenzen anders umgehen. Beispiele dafür sind der Anti-Bias-Ansatz nach Louise Derman-Sparks (2008), Konzepte von Intersektionalität (u.a.: Hornscheidt 2014) oder Ideen über Diversity (z.B. Mecheril 2008).

Diese Ansätze unterscheiden sich auch dadurch vom Culture Assimilator, dass sie unter anderem Fragen von Macht und Privilegien beinhalten. Solche Themen sind für alle Beteiligten in (mittel- oder längerfristigen) interkulturellen Begegnungen wichtig. Sie beeinflussen das interkulturelle Miteinander möglicherweise mehr als vermeintliche kulturelle Unterschiede. Dies gilt auch und gerade in Migrationszusammenhängen, die für das hier behandelte Thema von ADHS bei arabischen Kindern in Deutschland den relevanten Hintergrund bilden.

Die Situationen, die im Culture Assimilator bearbeitet werden, werden mithilfe eines Critical Incident-Verfahrens entwickelt. Personen, die sich in solchen Lagen befunden haben, werden gebeten, wichtige oder häufige, als unverständlich wahrgenommene interkulturelle Situationen oder Konflikte zu beschreiben. Auch die „richtigen“ Antworten können von Menschen erbeten werden, die bereits die beschriebenen interkulturellen Missverständnisse erlebt haben und beide Kulturen gut kennen. Hierin besteht der Bezug zwischen CIT und Culture Assimilator. Es scheint aber durchaus denkbar, dass das Verfahren der Sammlung von Critical Incidents auch für andere Formen interkultureller Sensibilisierung geeignet ist.

91 4.3.3 Beispiele für die Arbeit mit Critical Incidents

Der Begriff des Critical Incidents findet sich außer im interkulturellen Bereich auch in der Medizin und in der Luftfahrt. In beiden Arbeitsfeldern geht es um Sicherheit: Es sollen kritische Ereignisse gemeldet und ausgewertet werden. In Datenbanken werden diese Ereignisse mit ihren Beschreibungen und mit Lösungsmöglichkeiten gesammelt. Dort sollen sie anderen Kollegen und Kolleginnen aus der Medizin zur Verfügung stehen, damit diese von den Fehlern anderer lernen (Rall/ Oberfrank 2013, S. 1). Solche Meldesysteme gibt es außerdem in sogenannten Hochrisikoindustrien. Damit sind zum Beispiel Kernkraftwerke, Chemieindustrieanlagen und die Luftfahrt gemeint (Rall/

Oberfrank 2013, S. 1). Die Sammlung und Veröffentlichung von kritischen Vorfällen soll auch dazu dienen, dass solche Meldungen anonym stattfinden können, damit die Meldenden geschützt bleiben. Es soll mit Hilfe des Systems möglich (und verpflichtend) sein, Fälle öffentlich zu machen, ohne von Vorgesetzten bestraft oder in irgendeiner Weise verfolgt zu werden (Europäische Datenschutzbeauftragte 2013).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erläutert, warum es wichtig ist, öffentliche Berichtsstrukturen zu haben und zu nutzen. Wenn ein Krankenhaus zum Beispiel ein Problem bewältigt hat, ist es sinnvoll, dass auch andere Kliniken über diese Lösung informiert sind: Wenn das Ereignis und die Ergebnisse der nachfolgenden Analyse nicht öffentlich gemacht werden, bleiben die Lernerfahrungen innerhalb dieses Krankenhauses. Die Möglichkeit, das Problem zu generalisieren und effektive Lösungen zu entwickeln, von denen auch andere profitieren können, wäre vertan (WHO 2005, S.

8). In der Medizin wurden daher Critical Incident reporting systems (CIRS) installiert. In Deutschland gibt es mehrere solcher Systeme, zum Beispiel das Critical-Incident-Reporting-System Nordrhein-Westfalen, aufzurufen über die Internetadresse http://www.cirs-nrw.de/ (aufgerufen am 2.6.2015). Ziel und Aufgabe dieser Seite ist es, Offenheit und Sicherheit herzustellen: „CIRS-NRW soll dazu beitragen, dass über kritische Ereignisse offen gesprochen und aus ihnen gelernt wird“ (CIRS NRW 2015).

Dort werden in verschiedenen medizinischen Rubriken, das heißt sortiert nach Fachgebieten, Fehler und problematische Ereignisse von Beteiligten geschildert und gespeichert. Sie können dann von anderen Nutzern und Nutzerinnen abgerufen werden.

92 Es geht bei diesen medizinischen Systemen nicht um interkulturelle Bezüge, sondern um medizinische kritische Fälle. Dennoch können hier natürlich auch Ereignisse gemeldet werden, in denen es zu kritischen Situationen aufgrund von sprachlichen oder im jeweiligen Sinne kulturellen Verständigungsschwierigkeiten kam. Ein solches Beispiel befindet sich im CIRS NRW:

„Es war eine dringliche OP angesetzt, sodass die Anforderungen an Aufklärung und Einwilligung zu relativieren sind. Bei der Vorbereitung der OP wurde dennoch

versucht, einen Farsi-Sprecher als Dolmetscher zu finden. Dies gelang im letzten Moment und die Aufklärung erfolgte als Telefonkonferenz noch im OP.

Für ähnliche Fälle sei hingewiesen darauf, dass im Haus auf allen Stationen ein Kurzwörterbuch und medizinische Sprachtafeln (siehe PDF-Anlage) zur Verfügung stehen. Diese unterstützen bei einigen gängigen Fremdsprachen.

Übersetzungshilfen im Internet bieten eine Reihe weiterer Sprachen an, helfen aber bei Exoten und arabischen Schriftzeichen auch nicht mehr weiter. Im QM-Handbuch finden Sie daher eine Liste von dolmetschenden Mitarbeitern“ (CIRS NRW 2015).

In diesem Fall werden das Problem (nicht-deutschsprechende Person musste dringend operiert werden und kann nicht aufgeklärt werden) und gleichzeitig die Lösung des konkreten Falls präsentiert (Dometscher per Telefonkonferenz). Außerdem werden die grundsätzlichen Möglichkeiten beschrieben, die das betroffene Krankenhaus regulär außerdem zur Verfügung stellt (Wörterbücher, Sprachtafeln).

4.4 Zusammenfassung

In diesem Kapitel wurde ein Überblick über einige Studien gegeben, die die Wissensstände und Einstellungen von Lehrern und Lehrerinnen sowie Eltern untersucht haben. International sind einige Forschungen durchgeführt worden. Viele davon basieren auf KADDS, einem Fragebogen, der speziell hierfür entwickelt worden ist. Die Vielzahl der durchgeführten Studien erscheint sinnvoll, angesichts der Tatsache, dass die Schule ebenso wie die Eltern eine wichtige Rolle im Erkennen, Behandeln und weiteren Umgehen mit ADHS hat. Die Schlüsselpersonen sollten möglichst gute und richtige Informationen zu der Störung haben. Auch sollte ihnen der Umgang mit betroffenen Kindern nicht unangenehm sein, sondern sie sollten eine professionelle, zugewandte Haltung einnehmen. In vielen Bereichen sind die Ergebnisse international ähnlich: häufig besteht mehr Wissen über Diagnose und Symptomatik von ADHS als über Behandlungsformen. Es konnte auch herausgefunden werden, dass es hilfreich ist, wenn Lehrer und Lehrerinnen schon mit ADHS-Kinder zu tun hatten und insbesondere

93 wenn sie in der Ausbildung oder später Kurse zu ADHS belegen konnten. Sehr viele Befragte haben ausgesagt, dass sie es für sich wichtig fänden, mehr Informationen zu bekommen und dass sie gerne an Fortbildungsveranstaltungen teilnehmen würden.

Während sich viele der beschriebenen empirischen Lehrkräfte-Studien zur Abfrage an KADDS orientieren, wurde für das hier vorliegende Forschungsvorhaben ein eigener Fragebogen entwickelt. Da in zwei Ländern geforscht werden sollte, mussten die Fragen für solch ein interkulturelles Design passend sein. Dazu wurden die in anderen Studien eingesetzten Fragebögen geprüft und daraufhin ein eigener Bogen entworfen.

Dieser Entwurf wurde einer Testgruppe vorgelegt. Im nächsten Schritt wurden Experten gebeten, den Bogen einzuschätzen. Diese Entwurfsprüfungen wurden sowohl in Deutschland als auch in Saudi-Arabien durchgeführt. Anschließend wurden die Bögen noch einmal leicht verändert und dann wurde mit der Befragung begonnen. Diese findet sowohl online als auch offline statt.

International liegen viel weniger Befragungen von Eltern als von Lehrkräften vor. Die spärlichen vergleichenden Ergebnisse zeigen, dass Eltern eher besser informiert sind als Lehrerinnen und Lehrer. Während Lehrkräfte auf Wissensvermittlung in ihrer Ausbildung oder in schulbezogenen Fortbildungsveranstaltungen hoffen, suchen sich Eltern ihre Informationen vielfach selbst. Dabei nutzen sie unterschiedliche Wege. Die Fragen, die den Eltern in den Untersuchungen gestellt wurden, beziehen sich auf den familiären Umgang mit ADHS. Es werden hier auch Gefühle erfragt (zum Beispiel Schuldgefühle bei Müttern). Einige Fragen, die Eltern selbst zu interessieren scheinen, tauchen in den Forschungsarbeiten nicht auf, etwa die Beziehungen zwischen Eltern und Schule, der unterschiedliche Umgang mit ADHS von Müttern und von Vätern oder die biologischen Ursachen von ADHS. In diesem letzten Aspekt steckt möglicherweise auch wieder die Frage nach der Schuld, nämlich in Bezug auf falsche Erziehung oder andere „Fehler“, die die Eltern gemacht haben könnten.

Da die Interessen der Eltern also häufig mit ihrem Erfahrungswissen zu tun haben, wurde die Überlegung angestellt, diese Erfahrungen näher zu betrachten. Daher bekamen Eltern, die an dieser Befragung teilnahmen, die Möglichkeit, zwei Fragen-Komplexe zu bearbeiten: Zum einen Wissens- und Einstellungsfragebogen wie ihn auch

94 die Lehrkräfte vorgelegt bekamen. Zum anderen gibt es für die Eltern den Critical-Incidents-Fragebogen. Hierbei geht es darum, die Menschen zu befragen, die viel über ein bestimmtes Thema wissen oder sich damit beschäftigt haben und die daher Erfahrungen mit diesem Thema gemacht haben. In dieser Arbeit liegt das Interesse bei den Ereignissen, die die Teilnehmenden im Zusammenhang mit der Störung ihrer Kinder gemacht haben. Dieser Fragebogen sieht vor, dass Eltern in ausführlicherer Beschreibung ein bestimmtes Ereignissen darstellen. Die Arbeit mit Critical Incidents ist unter anderem aus der Medizin und aus der Luftfahrt bekannt. Dort dienen sie dem frühzeitigen Erkennen problematischer Strukturen und anderer organisatorischer Fehler, die zu schweren Problemen führen können. Sie sind also dazu da, dass Menschen aus den Erfahrungen ihrer Mitmenschen lernen. Critical Incidents werden daher auch in der interkulturellen Bildung eingesetzt.

Abschließend zu diesen methodologischen Überlegungen sei auf den Forschungsanspruch dieser Arbeit hingewiesen. Es kann im Rahmen einer von einer Person, mit begrenzten zeitlichen wie finanziellen Mitteln, durchgeführten empirischen Untersuchung nicht um den Anspruch hypothesenprüfender Forschung gehen, für die letztlich an repräsentativen Stichproben gearbeitet werden müsste. Wenn man mit Flechsig (in Bezug auf Praxis ausgerichtete Unterrichtsforschung) eine Unterscheidung von

o Praxisentwickelnder, o Praxisrekonstruierender, o Praxisbegründender und

o Praxisprüfender Forschung (u.a. Flechsig 1975) vornimmt,

ist im vorliegenden Falle sicherlich der letztgenannte Typus zutreffend, aber in einem noch sehr frühen Stadium der Forschungselaboration, in dem es eher um die Entwicklung von Hypothesen als um deren (womöglich letztgültige) Überprüfung gehen musste.

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