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2 Forschungsstand: Interkulturalität und Gesundheit in Deutschland

2.4 Kulturelle Differenzen in Familienleben und Alltag

Dieser und der folgende Abschnitt sollen einen Einblick geben in Unterschiede im kulturellen Verstehen und Handeln zwischen in Deutschland lebenden Familien arabischer und muslimischer Hintergründe einerseits und Deutschen ohne Migrationshintergrund andererseits. Hierbei ist zu beachten, dass solche Zweiteilungen die Gefahr der Vereinfachung bergen, da es natürlich viele verschiedene Ausprägungen

32 auch innerhalb von Kulturen gibt und nicht von einer „deutschen“ oder einer

„muslimisch-arabischen“ Kultur gesprochen werden kann.

Um darauf hinzuweisen, dass es dennoch Bereiche gibt, die als konflikthaft erlebt werden, sollen bei aller Umsicht in Bezug auf den Kulturbegriff hier gewisse Differenzen thematisiert werden. Sie bestehen auf verschiedenen Ebenen: Fragen zu den Beziehungen zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kindern stellen sich im alltäglichen Leben. Wie die Beziehung zwischen Ärztin/Arzt zu den Ratsuchenden oder Erkrankten gestaltet wird, berührt Aspekte der Gesundheitsversorgung. Die Betrachtung dieser Beziehung zwischen Medizinern und betroffenen Laien steht vor dem Hintergrund arabisch-muslimischer Krankheitsverständnisse, die im nächsten Abschnitt behandelt werden. Im Zusammenhang mit ADHS sind diese Fragenkomplexe für die betroffenen Familien und für die behandelnden medizinischen Fachkräfte wichtig, aber auch für Lehrkräfte, die mit den Familien zu tun haben.

2.4.1 Genderaspekte

Die Geschlechterthematik in Bezug auf in Deutschland lebende Menschen islamischer Religion ist geprägt von einem kritischen, von außen kommenden Blick, den viele Deutsche auf die Beziehung zwischen muslimischen Männern und Frauen richten.

Zentrales Symbol ist dabei das Kopftuch; hierzu gibt es eine breite, auch wissenschaftliche Debatte (zum Beispiel: Berghahn/ Rostock 2009, Haug/ Reimer, 2005). Das Kopftuch markiert die Verschiedenheit der Geschlechter und damit zunächst auch anscheinend die Ungleichheit zwischen ihnen. Es lässt sich jedoch ausführen, dass auch in einer westlich-christlichen Gesellschaft viele unterschiedliche Meinungen darüber bestehen, inwieweit Männer und Frauen sich sichtbar und bewusst voneinandner unterscheiden sollten. Auch Fragen nach der Gleichberechtigung, ob sie erreicht ist und wie sie erreicht werden kann, sind in der deutschen Mehrheitsgesellschaft überhaupt nicht geklärt (vgl. Rommelspacher 2009, S. 34).

Das Kopftuch und andere Formen der Verschleierung sind mit Emanzipation gut vereinbar: Das zeigen junge muslimische Frauen der sogenannten zweiten und dritten Einwanderungsgeneration, die sich darauf zurückbesinnen und gleichzeitig berufstätig und bildungsinteressiert sind (vgl. Rommelspacher 2009, S. 35). In Bezug auf die Berufstätigkeit von Frauen hat bei Lattouf, die in ihrer Erhebung die Situationen der von

33 ihr untersuchten palästinensischen und libanesischen Familien abgefragt hat, ergeben, dass 80 % der Mütter nicht außerhalb des Hauses berufstätig sind, sondern Hausfrauen sind (vgl. Lattouf 2008, S. 161). Es ist eine differenzierte Perspektive notwendig, wenn es um Fragen der Geschlechterbeziehungen innerhalb muslimischer Gruppen und zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Bevölkerungsteilen geht:

„Die Gegenüberstellung ‚westlicher‘ Freiheit und ‚islamischer‘ Unterdrückung führt zu einer zu simplen Polarisierung der Welt, wodurch die Spannung der jeweils widersprüchlichen Gegenwart aufgehoben wird“ (Rommelspacher 2009, S. 36).

2.4.2 Eltern-Kind-Beziehung

In traditionellen muslimisch-arabischen Gesellschaften ist die Familie als Rahmen und Lebensmittelpunkt von besonderer Bedeutung:

„Sie ist die hauptsächliche soziale Institution und beteiligt sich im Vergleich zu westlichen Familien viel mehr an der Persönlichkeitsentwicklung, dem Krankheitsverhalten, Krankheitsmustern und -verarbeitung“ (Najjar 2010, S. 25).

Ein Geben und Nehmen prägt die Beziehungen innerhalb der Familie, die ihren Mitgliedern Schutz und Unterstützung bietet, aber auch die Übernahme ihrer Normen erwartet (vgl. Najjar 2010, S. 25). Je nach Familienkultur und Milieu machen muslimische Familien ihren Kindern und Jugendlichen mehr oder weniger deutlich, wo sie Grenzen in Bezug auf hiesiges modernisiertes, liberalisiertes, freizeitorientiertes und individualisiertes Verhalten setzen (vgl. Wensierski/ Lübcke 2006, S. 18). Dies gilt häufig besonders für Mädchen, von denen sich manche in ihren Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt fühlen, andere aber die „normativen Orientierungen von Familie und Herkunftsmilieu“ (Wensierski/ Lübcke 2006, S. 18) problemlos und gerne annehmen.

2.4.3 Beziehung zwischen medizinischen Fachkräften und Patienten oder Ratsuchenden

Muslimische Patientinnen und Patienten, die gläubig sind und traditionelle islamische Krankheitsvorstellungen haben, finden sich im deutschen Gesundheitssystem oft mit ihren Vorstellungen nicht verstanden. Umgekehrt berichtet medizinisches Personal in deutschen Einrichtungen gelegentlich von Konflikten, die aus ihnen unbekannten Wertvorstellungen resultieren (vgl. Kronenthaler et al. 2014, S. 63). In einer Untersuchung forschten Kronenthaler et al. über Konflikte zwischen deutschem Pflegepersonal und muslimischen Patienten und Patientinnen. Als besonders wichtig

34 ergaben sich die Aspekte Gynäkologie, Körperpflege, Medikamentengabe, Mahlzeiten, Besucherzeiten und Routineuntersuchungen (vgl. Kronenthaler et al. 2014, S. 65).

Gelegentlich erschweren sprachliche Barrieren die Kommunikation. Aber auch die genaue Darstellung von Symptomen, die deutsche Ärzte und Ärztinnen von Kranken erwarten, gibt es bei vielen muslimischen Patientinnen und Patienten nicht. In deutschen Einrichtungen des Gesundheitssystems wird erwartet, dass der Patient oder die Patientin möglichst genau über die eigene Krankheit erzählt, während etwa in der Türkei solche Aussagen eher dem Arzt oder der Ärztin überlassen werden. Nur wenn er oder sie diese auch trifft und sich nicht zuviel über die eigenen Ansichten der erkrankten Person informiert, wird sie oder er als kompetent wahrgenommen (Muthny/ Bermejo 2009, S. 6). Ein intensives Wissen über körperliche Vorgänge, wie es in westlichen Ländern angetroffen werden kann, besteht unter anderem aus religiösen Gründen oft nicht, „da viele körperliche Bereiche strengen Glaubensvorschriften unterliegen und die Schamgrenze sehr hoch ist, über diese Tabubereiche zu reden“ (von Bose/ Terpstra 2012, S. 22). Das gilt besonders für Beschwerden und Vorgänge, die mit der Sexualität zu tun haben (vgl. von Bose/ Terpstra 2012, S. 39).

Aufgrund eines ganzheitlichen Krankheitsverständnisses kann es zudem passieren, dass das Hauptproblem nur ungefähr dargestellt wird und Nebensymptome sehr detailliert (vgl. von Bose/ Terpstra 2012, S. 22). Ein muslimischer Arzt wird darüber hinaus nicht verwundert darüber sein, wenn in einer traditionell muslimischen Familie der Ehemann bei einer Untersuchung seiner Frau mit anwesend ist und auch für sie spricht (vgl. von Bose/ Terpstra 2012, S. 40). Gegenüber einem Arzt oder einer Ärztin kann nach traditionellem Verständnis der Körper nur gezeigt und Körperkontakt nur zugelassen werden, wenn der Mediziner/die Medizinerin vom gleichen Geschlecht wie die kranke Person ist (vgl. Kronenthaler et al. 2014, S. 63). Unabhängig davon sind Berührungen, die für die Behandlung nicht nötig sind, in der medizinisch-pflegerischen Beziehung eher nicht gewünscht, was non-verbale Kommunikationsanteile erschwert (vgl. von Bose/ Terpstra 2012, S. 29). Körperkontakt ist in der Behandlungssituation aber auch nicht völlig ausgeschlossen, da er im Notfall gestattet ist. Eine Krankheit kann in der Regel als ein solcher Notfall verstanden werden (Ilkilic 2006, S. 2 f.).

35 Da die Familie in die Krankheit und vor allem in den Heilungsprozess in vielen muslimischen Kulturen mit einbezogen wird, müssen muslimische oder interkulturell arbeitende medizinische Einrichtungen sich darauf einstellen, dass Familienmitglieder mit zu Untersuchungen kommen und im Krankenhaus viele Angehörige das erkrankte Familienmitglied besuchen möchten (vgl. Kronenthaler et al. 2014, S. 64).