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2 Forschungsstand: Interkulturalität und Gesundheit in Deutschland

3.1 Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung

3.1.2 Definition, Klassifikation und Diagnostik

ADHS wird als Thema in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen betrachtet: In Medizin, Psychologie, Pädagogik und anderen (Rothenberger/ Neumärker 2010, S. 15).

Hier soll in diesem Abschnitt insbesondere der medizinische Blick angewendet werden.

Bei Kindern und auch Erwachsenen zeichnet sich ADHS dadurch aus, dass die Betroffenen sehr wenig aufmerksam sind. Dazu oder statt dessen sind sie zudem besonders viel in Bewegung. Sie reagieren plötzlich, aufgeregt und ohne nachzudenken. Es fällt ihnen schwer, sich länger zu konzentrieren. Diese Verhaltensweisen führen zu weiteren seelischen Problemen sowie zu Konflikten mit dem sozialen und familiären Umfeld.

Die Medizin versteht ADHS zwar nicht als Krankheit, aber als ein psychiatrisches Syndrom (Steinhausen 2010a, S. 17). Es ist sowohl von Syndrom als auch von Störung die Rede. Das Wort Syndrom steht für eine „Gruppe von gleichzeitig zusammen auftretenden Krankheitszeichen“ (Pschyrembel 1977, S. 1184, zitiert nach: Fennes 2008, S. 56). Sowohl das ICD-10 als auch das DSM V listen ADHS als Störungsbild auf,

46 wobei im internationalen ICD eher von der Ursache her gedacht wird und gefragt wird, woher kommt ADHS. Im US-amerikanischen DSM wurde in allen Versionen eher das Verhalten in den Vordergrund gestellt, was deutsche Ärzte und Ärztinnen in ihrer Praxis ebenfalls als wichtig ansehen (Steinhausen 2010a, S. 17). Unabhängig vom System gelten drei Komponenten als wichtige Aspekte dieses Störungsbildes: hyperaktives Verhalten, mangelnde Aufmerksamkeit und impulsives Agieren. Zudem müssen nach beiden Klassifizierungen diese Störungen „über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten in einem Ausmaß vorhanden sein, das zu einer Fehlanpassung führt und das dem Entwicklungsstand des Kindes nicht angemessen ist“ (Döpfner/ Frölich/ Lehmkuhl 2000, S. 1). Wichtig ist also auch, ob die Aufmerksamkeit, die Hyperaktivität und die Impulsivität zum sonstigen Stand der Entwicklung des Kindes passen oder nicht.

Die Begriffe und Abkürzungen, die in den Klassifizierungssystemen und in der deutschen und internationalen Literatur vorkommen sind:

 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, ADHS, als Gesamt-Störungsbild (auf Englisch: Attention Deficit Hyperactivity Disorder, ADHD)

 Aufmerksamkeitsdefizitstörung, ADS, als Subtyp (Attention Deficit Disorder, abgekürzt ADD)

 Hyperkinetische Störung, HKS, als Subtyp (Hyperactivity Disorder)

Im ICD-10 werden im Kapitel der psychischen Störungen (mit F codiert) unter F 90 die Hyperkinetischen Störungen beschrieben:

„Diese Gruppe von Störungen ist charakterisiert durch einen frühen Beginn, meist in den ersten fünf Lebensjahren, einen Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen, und eine Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen; hinzu kommt eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität.

Verschiedene andere Auffälligkeiten können zusätzlich vorliegen. Hyperkinetische Kinder sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und werden oft bestraft, weil sie eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich Regeln verletzen. Ihre Beziehung zu Erwachsenen ist oft von einer Distanzstörung und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert sein. Beeinträchtigung kognitiver Funktionen ist häufig, spezifische Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung kommen überproportional oft vor. Sekundäre Komplikationen sind dissoziales Verhalten und niedriges Selbstwertgefühl“ (DIMDI 2014, S. 224).

Hyperkinetische Störungen werden mit HKS abgekürzt. Daher gibt es in der deutschsprachigen Medizin außer der Abkürzung ADHS auch die Bezeichung HKS, die

47 eigentlich nicht auf Aufmerksamkeitsstörungen hinweist, sie aber dennoch beinhaltet (siehe oben: mangelnde Ausdauer bei kognitiven Beschäftigungen, häufiges Wechseln von Tätigkeiten). Die Abkürzung HKS findet sich auch in der deutschen Forschungsliteratur wieder. Wichtig sind bei der oben genannten Definition der Hinweis auf den frühen Beginn und auf die Kombination aus Hyperaktivität, mangelnder Ausdauer und mangelnder Aufmerksamkeit. Die Diagnose gilt bei länger andauernden Symptomen, also nicht bei kurzzeitigen Problemen. Die Symptome treten nach dieser Beschreibung ganz allgemein auf, also nicht nur in bestimmten Situationen (Steinhausen 2010a, S. 17). Nach den Forschungskriterien zum ICD-10 sollen die wichtigsten Symptome mindestens sechs Monate lang bestehen, damit eine hyperkinetische Störung diagnostiziert werden kann (Steinhausen 2010a, S. 18). Um sicherzustellen, dass nicht vorübergehende Störungen oder einzelne Symptome als ADHS oder HKS diagnostiziert werden, gibt es noch einige Kriterien, die zusätzlich zu der Definition im ICD-10 erfüllt sein müssen (vgl. dazu Tabelle Nr.2 ).

Dauer Die Symptomkriterien müssen für die letzten sechs Monate erfüllt worden sein.

Alter bei Beginn Einige Symptome müssen vor dem Alter von sieben Jahren vorgelegen haben.

Persistenz Beeinträchtigungen durch die Symptome zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z.B. Schule, Arbeit, zu Hause).

Beeinträchtigung Symptome müssen zu einer signifikanten Beeinträchtigung geführt haben (sozial, schulisch, beruflich).

Diskrepanz Symptome sind deutlich stärker als bei Kindern mit gleichem Alter, Entwicklungsstand und gleicher Intelligenz.

Ausschluss Die Symptome sind nicht auf eine andere seelische Erkrankung zurückzuführen.

Tabelle 2: Zusätzliche diagnostische Kriterien für HKS/ADHS (Steinhausen 2010a, S. 22)

Im ICD-10 gibt es außerdem die Codierung F98. Diese hat die Bezeichnung Andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend. Hier kommt in einem Unterpunkt, nämlich F 98.8 noch einmal die Aufmerksamkeitsstörung vor, und zwar ohne Hyperaktivität. Diese Störung kann als Subtyp von ADHS verstanden werden. Das DSM sieht ebenfalls den Subtyp der Aufmerksamkeitsstörung ohne hyperaktive Komponenten vor. Darüber hinaus kann nach DSM V auch nur der hyperkinetische Subtyp diagnostiziert werden, also eine gesteigerte Impulsivität und Unruhe, und zwar ohne Aufmerksamkeitsstörung (Steinhausen 2010a, S. 23 f.). Im

48 DSM V finden sich ADHS, Aufmerksamkeits- sowie Hyperaktivitätsstörungen im Kapitel Disruptive, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen.

Die Diagnosegrundlagen im ICD-10 sowie im bisherigen DSM IV richten sich in erster Linie an Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren. Kleinere Kinder, Jugendliche oder sogar Erwachsene werden hier praktisch nicht berücksichtigt. Für Kinder im Kindergarten- und Vorschulalter sind daher angepasste Symptombeschreibungen formuliert worden (Steinhausen 2010a, S. 23). Für Jugendliche gibt es noch keine konkreten Diagnosekriterien. Allerdings ist beschrieben worden, dass im Verlauf der Kindheit die hyperaktiven Anteile eher nachlassen, so dass es nach und nach zu einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität kommt, also zu ADS. Für Erwachsene gibt es keinen eigenen Diagnoserahmen. Immerhin wurden die Hinweise auf die Schule, die in den Kinder-bezogenen Diagnosen stehen, um Arbeit und Beruf erweitert, um Erwachsene mit einzuschließen. Das ist nicht ausreichend, so dass wie folgt vorgegangen werden muss: „Die Diagnose von ADHS im Erwachsenenalter wird klinisch gestellt und beruht auf einer flexiblen Anwendung der aktuell gültigen Kriterien“

(Steinhausen 2010a, S. 23).

Erschwert wird die Diagnose von ADHS oder hyperkinetischer Störung dadurch, dass sowohl im DSM als auch im ICD viele Begriffe verwendet werden, die unterschiedlich interpretiert werden können. Wörter wie „oft“ oder „signifikant“ können verschieden gedeutet werden (Steinhausen 2010a, S. 24). Für die Altersspanne von sechs bis zwölf Jahren gibt es keine weiteren Unterteilungen, obwohl Kinder im Alter von sechs Jahren ganz andere Verhaltensweisen zeigen als solche von zwölf Jahren. Ältere Kinder können außerdem anders und differenzierter Auskunft geben über sich selbst (und diese Selbstsicht kann sehr wichtig sein, wie die in Kapitel 2 vorgestellte Arbeit von Johnston und Ohan (2005) gezeigt hat und wie sich im Verlauf dieser Arbeit noch weiter herausstellen wird). Es wird nicht zwischen Mädchen und Jungen unterschieden (Steinhausen 2010a, S. 24). Diese Unterscheidung sollte jedoch thematisiert werden, denn hyperaktives Verhalten wird möglicherweise bei Jungen länger geduldet und

„normal“ gefunden als bei Mädchen.

In der Weiterentwicklung von DSM IV (erstmals erschienen 1994) zu DSM V (2013) wurde deutlich, dass Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperkinese zwar miteinander

49 verknüpft sind, aber doch unterschiedlich diagnostiziert werden und auch unabhängig voneinander differenziert betrachtet werden müssen. Zudem werden für Erwachsene andere Symptomkriterien gebraucht als für Kinder. Das DSM V hat dies aufgegriffen und sieht nun nur noch vor, dass fünf und nicht mehr sechs Symptome festgestellt werden sollen, damit ADHS diagnostiziert werden kann. Auch für Kinder fehlen sowohl im DSM IV als auch DSM V verschiedene Symptome, die in der Praxis beobachtet wurden. Zum Beispiel fällt es von ADHS betroffenen Kindern schwerer, sich auf später eintreffende Belohnungen einzustellen, also etwa einen späteren, aber dafür größeren Gewinn einem schnell zu erzielenden, aber kleineren Vorteil vorzuziehen.

Unvorsichtiges Verhalten oder wenig Distanz wurde bisher kaum beschrieben. Der genau bezeichnete Beginn mit sechs bzw. sieben Jahren für die Diagnose war in der praktischen Medizin nicht immer hilfreich, da viele Erwachsene sich nicht an den Beginn der Störung erinnern können und damit dann ADHS bei ihnen theoretisch nicht diagnostiziert werden könnte (Steinhausen 2010a, S. 24). Das neue DSM V spricht nun von Symptomen, die „bereits vor dem Alter von 12 Jahren auftreten“ (Falkai/ Wittchen 2015). Auch das ICD wird weiter überarbeitet. In der nächsten Fassung, dem ICD-11, werden vermutlich verbesserte Diagnosekriterien für ADHS, hyperkinetische Störungen und Aufmerksamkeitsdefizite zu finden sein. Das ICD-11 soll 2017 veröffentlicht werden, und Ärztinnen und Ärzte sowie andere Fachleute sind jetzt aufgerufen, Verbesserungsvorschläge einzureichen. Hierzu steht im Internet die Seite www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-who/historie/icd-11.htm zur Verfügung (zuletzt abgerufen am 6.4.2015).