• Keine Ergebnisse gefunden

2 Forschungsstand: Interkulturalität und Gesundheit in Deutschland

3.1 Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung

3.1.1 Historischer Überblick

In den vergangenen ca. 100 Jahren haben Störungen, die heute als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bezeichnet würden, verschiedene Namen gehabt. So gab es den USA zum Beispiel die Begriffe minimal brain damage oder hyperkinesis (Bussing/ Schoenberg/ Perwien 1998). Seit 1900 ist wissenschaftliche Literatur über solche Störungen geschrieben worden (Baumeister et al. 2012). (Tabelle Nr. 1) gibt einen Überblick über die Geschichte der wissenschaftlichen Forschung in diesem Bereich.

41

1789 Crichton: erste klinische Beschreibung von Aufmerksamkeitsstörung als Nervenstörung

1902 Still schlägt gestörten Zellstoffwechsel im Gehirn als Ursache von Aufmerksamkeitsstörungen vor

1920er Enzephalitis-Pandemie kann mit ADHS in Verbindung gebracht werden, was organische Zusammenhänge bestätigt

1929 Berger erfindet die Elektroenzephalographie (EEG)

1937 Bradley erkennt EEG-Abweichungen bei verhaltensgestörten Kindern 1937 Bradley beschreibt den therapeutischen Effekt von Stimulanzien 1954 Methylphenidat wird vorgestellt

1958 Zimmermann und Burgemeister setzen Methylphenidat bei verhaltensbeeinträchtigten Kindern ein

1959 Neuropsychologische Tests werden eingeführt

1960er Neuropsychologische Tests weisen auf Funktionsstörungen im Gehirn hin

Tabelle 1: 1798 - 1960er Jahre: Meilensteine der Neurowissenschaften zu ADHS (nach Baumeister et al.

2012, S. 264, gekürzt)

Als einer der ersten, die die Störung beschrieben, gilt häufig der schottische Arzt Alexander Crichton (Baumeister et al. 2012, Lange et al. 2010). In seinem dreibändigen Werk An Inquiry Into the Nature and Origin of Mental Derangement (Crichton 1798) wurde zum ersten Mal etwas über Aufmerksamkeitsstörungen geschrieben. Damit war Crichton nicht nur einer der ersten, die über etwas Ähnliches wie ADHS schrieben. Zu dieser Zeit entstand überhaupt erst die Idee, psychische Zustände aus medizinischer Sicht zu betrachten (Lange et al. 2010). Ein ganzes Kapitel bei Crichton handelt von Aufmerksamkeit und ihren Störungen (Baumeister et al. 2012). Er beschrieb, dass diese Störungen die Menschen unfähig machten, sich dauerhaft auf ein Bildungsthema zu konzentrieren, und dass sie geistige Unruhe, ein Auf-und-ab-Gehen sowie ein Zappeln verursachten (Baumeister et al. 2012, S. 265). Damit hat er bereits alle Symptome genannt, die heute als ADHS-Symptome gelten, mit Ausnahme der Impulsivität (Baumeister et al., S. 265). Crichton verwies außerdem bereits auf die multifaktoriellen Ursachen und ging davon aus, dass es sich um eine Nervenkrankheit handelte, die angeboren oder durch Unfall erworben sei (Baumeister et al. 2012, S. 265).

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde im deutschsprachigen Bereich die Geschichtensammlung „Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann veröffentlicht. Sie enthält unter anderem die Figur des Zappelphilipp. Der Zappelphilipp ist ein Junge, der beim Essen mit seinen Eltern bei Tisch nicht still sitzen kann, mit dem Stuhl kippelt, bis

42 dieser mit dem Jungen umkippt und alles Geschirr mit der Tischdecke vom Tisch rutscht. Sein Verhalten könnte aus heutiger Sicht auf ADHS hinweisen (Hoffmann 2007).

Nachdem Crichton über Aufmerksamkeitsstörungen geschrieben hatte, kann George Still als derjenige gelten, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal von ADHS gesprochen hat. Der britische Kinderarzt hatte in seinen Behandlungen viele Kinder kennengelernt, die trotz normaler Intelligenz wenig aufmerksam waren und in der Schule nicht gut mitkamen (Baumeister et al. 2012, S. 265). Der nächste – ungewollte - Meilenstein in der Historie der ADHS-Forschung war eine Enzephalitis-Pandemie, die im Zusammenhang stand mit der Spanischen Grippe, die ab der Zeit des Ersten Weltkrieges weltweit um sich griff. Kinder, die diese Krankheit hatten, wurden später oft sehr unruhig, unaufmerksam und aggressiv. Es konnte nun also beobachtet werden, dass Gehirnerkrankungen zu geistigen Schäden bei sonst gesunden Menschen führen können (Baumeister et al. 2012, S. 266). Auch wurde in weiterer Forschung in den 1920er Jahren erkannt, dass Aufmerksamkeitsstörungen mit bestimmten beschädigten Regionen im Gehirn in Zusammenhang stehen.

Damit war die Grundlage für einen weiteren historischen Schritt gelegt, nämlich für die Suche nach Therapie und Medikation. Der amerikanische Arzt Charles Bradley begann in den 1930er Jahren, verhaltensbeeinträchtigten Kindern Stimulanzien zu verabreichen. Er hatte einigen Kindern mit bestimmten Leiden Amphetamine gegeben.

Möglicherweise war es Zufall, dass er bemerkte, dass diese bei den Kindern zu einem anderen Verhalten und besseren schulischen Leistungen führte. Die Kinder waren weniger müde, besserer Stimmung, weniger depressiv und zeigten sogar verbesserte Werte in Intelligenztests (Baumeister et al. 2012, S. 266 f.). Im Jahr 1954 brachte eine Schweizer Firma die Substanz Methylphenidat heraus. Dieser Wirkstoff ist Amphetaminen ähnlich, hat aber weniger Nebenwirkungen und wurde unter dem Namen Ritalin bekannt. Ab Ende der 1950er Jahre wurde Methylphenidat als Medikament für Kinder mit ADHS in Fachzeitschriften diskutiert (Baumeister et al. 2012, S. 269).

Nach Liebrand (2011) wurde die Medikamentenforschung ein weiteres Mal, nämlich in den 1950er und 60er Jahren eher beiläufig auf das unruhig-hektische Störungsbild

43 aufmerksam. Bei der Vergabe von Antidepressiva an Jugendliche wurde bemerkt, dass diese Medikamente nicht nur gegen Depression und mangelnde Konzentration halfen, sondern auch bei allgemeiner Unruhe. In der Folge wurde diese Unruhe aus dieser medizinischen Richtung genauer untersucht und mit Hyperkinetisches Syndrom (HKS), Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (ADS) und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung bezeichnet (Liebrand 2011, S. 31).

Die Forschung hatte Mitte des 20. Jahrhunderts eine Zeitlang die Vorstellung, dass ADHS mit leichten organischen Gehirnschädigungen zusammenhinge. Bald wurde dieses Verständnis aber ersetzt von Erkenntnissen, die zeigten, dass es sich um eine Funktionsstörung und eher nicht um eine organische Ursache handelte (Lange et al.

2010, S. 250). Daraus entstand die Bezeichnung Minimal brain dysfunction, die aber als Name für die Störung schon bald wieder als zu allgemein kritisiert wurde. Stattdessen wurden Begriffe gesucht, die das Phänomen genauer beschrieben. „Hyperaktivität“,

„Lernbehinderung“, „Dyslexie“ und andere Bezeichnungen wurden vorgeschlagen (Lange et al. 2010, S. 251). In der Psychiatrie wird ADHS als eine anerkannte Störung gesehen, seitdem es im amerikanischen Klassifizierungssystem für psychische Störungen, dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) vorkommt. Dieses Diagnosemanual wird von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben und ständig weiterentwickelt. ADHS wurde erstmals in die zweite Fassung aufgenommen. Das DSM II kam 1968 heraus. Dort wurde von „Hyperkinetic reaction of childhood” gesprochen. Mit der 1980 erschienen dritten Fassung des DSM (DSM III) bekam das Störungsbild einen neuen Namen, nämlich „Attention Deficit Disorder”. Der Aspekt der Hyperaktivität war hier nicht wichtig (Baumeister et al. 2012), auch wenn er in Klammern noch angefügt werden konnte: (mit oder ohne Hyperaktivität) (Lange et al. 2010, S. 252). Rothenberger und Neumärker nennen Virginia Douglas als eine wichtige Forscherin, die sich besonders mit dem Aspekt der Aufmerksamkeitsstörung befasst hat (Rothenberger/ Neumärker 2010, S. 14).

Nicht nur wurde überlegt, ob ADHS eine Krankheit des Gehirns sei und wie man sie medikamentös behandeln könne. Auch wurde darüber geschrieben, ob die Störung aus psychoanalytischer Sicht betrachtet werden sollte und welche Rolle die Erziehung spielen könnte (Rothenberger/ Neumärker 2010, S. 13). Rothenberger und Neumärker berichten zwar, dass es hierzu keine empirischen Beweise gegeben habe. Andere

44 Untersuchungen (Johnston/ Ohan 2005) legen jedoch nahe, dass die Beziehungen in den Familien zwischen Kindern und Eltern durchaus wichtig sind. Psychotherapeutische Behandlungsansätze haben unter anderem deswegen seit den 1960er Jahren an Bedeutung gewonnen (Rothenberger/ Neumärker 2010, S. 14).

Seit den 1980er Jahren ist noch einmal mehr über ADHS geschrieben worden. Seitdem sind über 5.000 Artikel veröffentlicht worden, von denen die meisten von Medikamenten handeln. Viel wurde über Ritalin geschrieben und in neuerer Zeit auch über Amphetamine. Neurobiologische und genetische Aspekte sind weitere wichtige Themen (Baumeister et al. 2012). Ernährungsbezogene Zusammenhänge wurden untersucht (Rothenberger/ Neumärker 2010, Sawitzky-Rose 2011). Weitere bahnbrechende Erkenntnisse waren, dass ADHS auch Erwachsene betrifft (zum Beispiel Sobanski/ Alm 2004, Jans et al. 2008, Philipsen/ Heßlinger/ Tebartz van Elst 2008). Außerdem wurden Unterkategorien benannt: Anstelle der bisherigen einen, einheitlichen ADHS-Diagnose konnten Ärztinnen und Ärzte zumindest in den USA seit Veröffentlichung des DSM IV einen unaufmerksamen Typ, einen hyperaktiv-impulsiven Typ und eine Mischform diagnostizieren. Damit war das Dilemma um die Frage, ob es eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität geben kann, zunächst gelöst. (Lange et al.

2010, S. 253).

Die meisten, auch international veröffentlichten Forschungsarbeiten zu ADHS wurden auf der Basis der Diagnosen erstellt, die das jeweilige DSM beinhaltete. Es wird jedoch nicht weltweit in den medizinischen Praxen mit dem DSM gearbeitet (Steinhausen 2010b, S. 29). So wird unter anderem in Deutschland nicht das derzeit gültige DSM V, sondern die Internationale WHO-Klassifikation ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), jetzt in ihrer zehnten Fassung (ICD-10), verwendet. Hier wird ADHS als psychische Störung in die Rubriken F90, Hyperkinetische Störungen und F98, Andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend, eingeordnet.

Dieser Abriss über die Historie der ADHS-Forschung kann den Eindruck erwecken, als wäre die Störung ein europäisches oder nordamerikanisches Phänomen. Dieser Eindruck ist nicht richtig (Palacios-Cruz et al. 2013, weitere). Richtig ist jedoch, dass die Mehrzahl der Forschungsarbeiten der letzten 15 bis 20 Jahre in englischsprachigen

45 Ländern wie den USA oder Australien durchgeführt wurde (Palacios-Cruz et al. 2013, S.

258). Es wäre wichtig zu erfahren, ob die gefundenen Erkenntnisse auch international gelten.

Für den arabischen Raum gehören die Studien von Abdur-Rahim et al. von 1996 und von Abolfotouh aus dem Jahr 1997 zu den ersten. Hier wurden Kinder in psychiatrischer Behandlung und Schuljungen in Saudi-Arabien untersucht. Eine Untersuchung von Bu-Haroon (1999) beschäftigte sich mit Hyperaktivität in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Bis heute kann gelten, dass es noch wenige veröffentliche Studien zu ADHS in der arabischen Welt gibt, obwohl die Störung häufig in klinischen Umfeldern vorkommt und zunehmend Schulkinder und Erwachsene beeinträchtigt (Farah et al.

2009, S. 2). So ist hier, aber auch in anderen Regionen und in der westlichen Welt damit zu rechnen, dass weitere Forschungsarbeiten erstellt werden und auch, dass sich Begriffe und Ursachenerklärungen weiter entwickeln werden. Rothenberger und Neumärker gehen vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung davon aus, dass auch der jetzige Stand der Forschung nicht der letzte sein wird, sondern nur eine Phase ist (Rothenberger Neumärker 2010, S. 11).