• Keine Ergebnisse gefunden

TEIL II: E THIK ALS E THIK . T HEOLOGISCHE E THIK ALS T HEORIE

10. W ERTEINSICHT UND SITTLICHE N ORM

10.1 Normen – Güter – Werte

10.1.3 Werte

In der Terminologie Böckles wäre es unangemessen, »in einem Atemzuge vom Leben wie von Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit«586 zu sprechen, denn im Unterschied zum fundamentalen Gut des ›Lebens‹ ist für Böckle

›Gerechtigkeit‹ ein Wert. Die Prima-facie-Werte, die Böckle in seinen Veröf-fentlichungen nennt, verstehen sich als ›gute‹ Orientierungen; sie besitzen einen kategorischen Kern, über den Einvernehmen herrscht. ›Werte‹, meint er, dürfen »in der Tat nie direkt verletzt werden. Ich darf nie ungerecht, nie treulos, nie zuchtlos sein. Darüber herrscht doch gewiß Einvernehmen«587.

Werte wie Gerechtigkeit, Treue oder Solidarität stellen für Böckle eine Art

›Stereotyp‹«588 dar. Sie zählen bereits zur Sollensdimension, sind als solche aber nur fassbar, wo ihnen zuwidergehandelt wird. Werte sind keine

582 Vgl. Fundamentalmoral, 24f.

583 Vgl. Ethik mit oder ohne Transzendenz?, 433.

584 Vgl. Paul Ramsey, Abortion: A Review Article, in: The Thomist 37 (1973), 174–

226 im Gegensatz zu Louis Janssens, Ontic Evil and Moral Evil oder Richard McCormick, Das Prinzip der Doppelwirkung einer Handlung, in: Concilium 12 (1976), 662–670. Die Diskussion wurde eingeleitet durch Peter Knauer, vgl.

ders., The Hermeneutic Function of the Principle of Double Effect, in: Moral Norms and Catholic Tradition, 1–39. Nach dem ›Prinzip der Doppelwirkung‹

dürfen Übel in Kauf genommen werden, wenn die Handlung, aus der das Schlechte resultiert, nicht direkt das Schlechte intendiert.

585 Fundamentalmoral, 311.

586 Fundamentalmoral, 310 unter Bezugnahme auf R. McCormick.

587 Fundamentalmoral, 311.

588 Fundamentalmoral, 24.

sätze, aus denen man sittliche Normen ohne Bestimmung der näheren Um-stände abstrakt entwickeln könnte. Sie beginnen erst im konkreten Akt, real zu ›existieren‹589. Ein anschauliches Beispiel gibt eine Kritik Böckles an der politischen Praxis seiner Zeit. In der Politik sei es üblich, so Böckle, unnuan-ciert mit dem Begriff Gerechtigkeit umzugehen. Man spreche von der mora-lisch-ethischen Maxime, für mehr Gerechtigkeit streiten zu wollen, obwohl nicht der Wert ›Gerechtigkeit‹, sondern erst die konkrete Schilderung, was den Mitgliedern einer Gemeinschaft gerechterweise zustehe, sittlich sei.590 Erst diese Aussage lasse sich ethisch beurteilen.

Die ›Erfahrung‹ ist von großem Gewicht für die materiale Ethik Böckles.

Er gibt ihr zweifache Bedeutung. Mit Thomas spricht er erstens von der Erfahrung als Grundlage des Sittlichen, von der »consuetudo«, d.h. der ein-geübten Moral als einem »bevorzugten Ort ethischer Relevanz«591. Böckle nimmt einen Erfahrungsschatz an, der in Form von Sitten den Wertefundus des sittlichen Subjekts bildet und aus dem sich seine jeweilige Auslegung dessen, was gut und nützlich ist, mitspeist. Diese quasi materialisierten Er-fahrungen sind intersubjektiv universalisierte Vergewisserungen und nur in diesem Sinne ›substantiell‹.592 Böckle spricht zweitens und eigentlich von Erfahrung im Kontext des Sittlichen, wenn es um die Vermittlung des Nor-mativen zu seiner Konkretion geht.593 Dieser zweite Nachweis focussiert auf die Perspektive der Akteure und Akteurinnen am Beginn der sittlichen Hand-lung. Böckle weist darauf hin, dass Handlungen, die in blindem Gehorsam ausgeübt werden, ohne den Wert, der in der Norm ausgedrückt ist, erfahren zu haben, diesen Handlungswert nicht wirklich realisieren. Solche Akte sind korrekt, aber nicht sittlich. Zur näheren Analyse dieses Vermittlungsvorgangs bemüht Böckle Überlegungen des Theologen Dietmar Mieth.594 Dessen

589 Vgl. Fundamentalmoral, 260.

590 Vgl. Fundamentalmoral, 24 Fn 15, 260 Fn 8 unter Bezugnahme auf die bundes-deutsche Grundwertediskussion Mitte der 1970er Jahre, vgl. ausführlicher Böckle u.a. in: Grundwerte in Staat und Gesellschaft, hg. v. G. Gorschenek, München 1977.

591 Fundamentalmoral, 272f. unter Anführung von Merks, Theologische Grund-legung der sittlichen Autonomie, 84 und 321.

592 Vgl. Fundamentalmoral, 274.

593 Vgl. Fundamentalmoral, 273.

594 In der Fundamentalmoral widmet Böckle den Thesen von Dietmar Mieth zur Erfahrung als Ansatzpunkt materialer Ethik ein ganzes Kapitel, vgl. Fundamen-talmoral, 274–278, eigentlich bis 281. Er rezipiert aber nicht dessen Gesamtkon-zept, wie es beispielhaft in Dietmar Mieth, Moral und Erfahrung, Freiburg i.B.

1977 veröffentlicht worden ist. Böckle beschränkt sich vornehmlich auf Thesen Mieths, wie er sie grundlegend in einem Artikel des Jahres 1976 in der Zeit-schrift Concilium, vgl. ders., Die Bedeutung der menschlichen Lebenserfahrung.

Plädoyer für eine Theorie des ethischen Modells, in: Concilium 12 (1976), 623–

10.1 Normen – Güter – Werte

zitierten Ausführungen zu den Bedingungen, unter denen aus Lebens-erfahrungen ein sittliches Modell entsteht, sind der Grundstock von Böckles These, ›Werte‹ seien verdichtete Reflexionen auf eigene und kollektive Erfahrungen.595

In der Entstehungszeit der ›Fundamentalmoral‹ spricht Böckle nur noch von ethischen ›Fixpunkte[n]›596 unter der Betonung, es handele sich hierbei um synthetische Urteile. Der Einfluss der kritischen (Sozial)theorie prägt ihn bis auf die Ebene der Handlungstheorie. Böckle nimmt überwiegend die konfliktive Seite der Pluralität sittlicher Erfahrungen wahr.597 Das von Mieth angezeigte Problem, dass das moderne Subjekt »längst« nicht mehr in der Lage sei, aus eigener Induktion und Reduktion »Erfahrungen zu verarbei-ten«598, thematisiert Böckle ausführlich. Unter diesen Vorzeichen nennt er es eine Pflicht des Staates zum Schutze des Gemeinwohls, die Bedeutung der Grundwerte im gesellschaftlichen Gedächtnis zu halten.599 Aus der

633, aufgestellt hat. Das Conciliumsheft zum Thema ›Werteinsicht und Normbe-gründung‹, das unter der Redaktion Böckles entstanden ist, repräsentiert die damalige moraltheologische Diskussion. In der selben Ausgabe findet sich auch der für Böckles Arbeit bedeutsame Artikel des Theologen Bruno Schüllers über die »Typen der Begründung sittlicher Normen« abgedruckt, s.o. Ähnlich wie im Falle der Studie Wilhelm Korffs über die empirischen und biopsychischen Vor-aussetzungen der moralischen Entwicklung, gewinnt Böckle durch Mieth theolo-gisch aufbereitete humanwissenschaftliche Informationen darüber, wie »Erfah-rungskompetenz« (Mieth, Die Bedeutung der menschlichen Lebenserfahrung, 626) bedeutsam wird für die Ethik. Wie Mieth unterscheidet Böckle zwischen mehreren Stufen der ethisch relevanten Erfahrung: Unter ›Kontrasterfahrung‹

versteht Böckle im Anschluss an Mieth eine Negativerfahrung, in der der Mensch mit den Grenzen seines Handelns und Seins konfrontiert werde. ›Sinn-erfahrungen‹, so Böckle, Fundamentalmoral, 277, eröffneten Möglichkeiten

»echter menschlicher Praxis«. Sie könnten sich aus der Negativerfahrung erschließen oder in positiven Situationen einleuchten – ein Zusammenhang, der auch für die Entscheidung für oder gegen einen Strafzweck interessant ist, s.u.

Teil III. Wo die »persönliche und gemeinschaftliche Erfahrung von den letztent-scheidenden und daher verbindlichen Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Gelingens menschlich-mitmenschlichen Daseins« als persönliches Hand-lungsmuss erlebt wird, so Böckle unter Anführung von R. Hofmann, Was ist Sitt-lichkeit? Zur Klärung des Begriffs, in: J. Sauer (Hg.), Normen im Konflikt, Frei-burg i.Br. 1977, 102–124, 121 in: Fundamentalmoral, 278, wird Erfahrung zur Motivation. Diese ›Intensitäts- oder Motivationserfahrung‹ nennt Böckle auch Gewissen, vgl. Fundamentalmoral, 278.

595 Werteinsicht und Normbegründung, 616.

596 Vgl. Die kulturgeschichtliche Bedingtheit theologisch-ethischer Normen, 129.

597 Vgl. Ethik mit oder ohne Transzendenz, 431.

598 Mieth, Die Bedeutung der menschlichen Lebenserfahrung, 629.

599 Vgl. u. Kapitel 13: Grundwerte in Staat und Gesellschaft.

lung seiner Arbeit resultiert auch, dass Böckle in der ›Fundamentalmoral‹

erstmalig die nachmetaphysische Diskurs-Ethik Apels in seine Ausführungen zur Begründung moralischer Einsichten integriert. Vorher hatte er Apel nur hinsichtlich der Letztbegründung sittlicher Normen rezipiert, also zum Phä-nomen des ›Faktums der Vernunft‹. Nun aber berücksichtigt Böckle die transpragmatische Sicht Apels auch handlungstheoretisch.600 Seine Ausfüh-rungen zur Entwicklung und Begründung normativer Ethik verlassen nicht mehr die horizontale Ebene transsubjektiv überprüfbarer Rationalität. »Wenn man überhaupt von einer Kontinuität von Werteinsichten« sprechen wolle, so heißt es nun sehr vorsichtig bei Böckle, »hinter die der Mensch nicht mehr zurück kann, wenn er sein Leben vernünftig human gestalten soll«601, dann könne eine solche Wertetafel nicht unter Missachtung der Subjekt-Subjekt-Beziehung generiert werden.