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4. S ITTLICHKEIT IM S PIEGEL DER P ERSON

4.2 Die Person und die Ontologie des Seienden

4.2.2 Überwindung evangelischer Aporien

In Opposition zu einer speziellen Richtung evangelischer Persontheologie, die aufgrund der Latenz des göttlichen Gesetzes Ethik dialektisch begreift, sieht Böckle die eigentliche Reformaufgabe des Personalismus in der theolo-gisch korrekten Begründung der Synthese von kreatürlicher Sittlichkeit und Gottes vollkommener Güte (analogia entis).233 Die Menschwerdung Gottes in Jesus soll theologisch als Standpunkt begriffen werden, der die Ethik berech-tigt, den Menschen in der Logik des Seins zu beschützen. Die Stärkung der Individualität darf nicht den Verzicht auf normative Ethik nach sich ziehen. Böckle versteht ›Person‹ immer auch als eine schöpfungsmäßig ge-gründete, objektive Größe, die nicht mit ihren Akten identifiziert werden darf. Der sittliche Akt sei vielmehr ein »konstitutives Zeichen«234 der Person und in diesem Sinne Teil seiner Personwerdung.

Böckle gründet seine Thesen auf die Persondefinition des Thomas von Aquin (S.Th. I q. 29, 1), die er im Duktus der Seinstheorien der Zeit einführt.

Er verhandelt Individualität (s.u. ›Subsistenz‹) und Identität (s.u. ›Existenz‹) geschieden. Diese Stufung, die die thomanische Vorlage zulässt, bietet sich Böckle als Weg, Essenz- und Existenzethik komplementär zu denken.235

231 Das Zitat aus Emil Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 33, ist abgedruckt in: Das Verhältnis von Norm und Situation in kontroverstheologischer Sicht, 89.

232 Grundprobleme evangelischer Ethik in katholischer Sicht, 20. Böckles Ansatz zeigt hier einen Antipaternalismus, der in dieser Zuspitzung nicht typisch ist für sein Werk. Siehe unten, 70, Böckle mit einer etwas anderen Sichtweise von Brunners Arbeit.

233 Damit der Mensch die Liebe, die Gott selbst ist, empfangen kann (und damit die Forderungen, die dieser Liebeserfahrung implizit sind), muss der Mensch eine

›Kongenialität‹ für solche Liebe haben. Vgl. zu dieser Überlegung Karl Rahner, Über das Verhältnis von Natur und Gnade, 338f., vgl. zu ihrer Entfaltung bei Böckle Friede und moderner Krieg, 384.

234 Das Personverständnis in der Moraltheologie, 184.

235 Zur schwierigen Definition von ›Komplementarität‹ vgl. Friede und moderner Krieg, wo Böckle ein Wort der Evangelischen Kirche Deutschlands zitiert, in dem von dem Problem gesprochen wird, dass bestehende Gegensätze zwischen der theologischen und der ethischen Einschätzung von Krieg mit dem Begriff

›Komplementarität‹ wegdiskutiert werden könnten (384).

4.2 Die Person und die Ontologie des Seienden

Kennzeichnend für seine »existenzphilosophische« Thomasinterpretation, die sich auf Lotz stützt, ist, dass die ›Weltoffenheit‹ des Menschen zur Sprache kommt. Der »freie reditus der Kreaturen zu Gott«236 wird dargestellt als Ent-wicklung des Menschen zu seinem eigenen sittlichen Wesen im Bezug zum Sein und Vollzug des Seins.237

Die Eigenständigkeit (Subsistenz238) der Person

Böckle führt die ›Person‹-Definition des Thomas erstens an, um über das Einzelne als Seinshaftes in der geistigen Ordnung zu sprechen. Auf dieser primären Ebene wird keine Aussage über die persönlich-willentliche Ent-wicklung des Menschen als ›ens morale‹ getroffen, sondern es wird die me-taphysische Struktur des Lebendigen postuliert.239 ›Person‹ sei immer dort,

»wo eine vernunftbegabte Substanz den Grund ihres Individuell-Seins und ihres Tätig-Seins in sich selber habe« (S.Th. I q. 29,1). Mit dem Personbeg-riff wird »jenes Minimum«240 ausgesagt, das den Menschen als Menschen in seiner ›dignitas‹ konstituiert: dass der Mensch seiner Natur nach Individuum sei, und dass ihm das Prinzip der Bewegung und Erkenntnis inhärent sei. Das Theorem, das Böckle mit dem scholastischen Terminus ›Subsistenz‹ nennt, bildet den Hintergrund, vor dem seine Rede vom ›individuellen‹ Anruf Got-tes das ursprüngliche Personsein des Menschen meint.241 Noch bevor die Person zu Bewusstsein kommt, so das Verständnis Böckles, ergreift die Geistnatur Mensch, weil sie vom Sein zum Seinsvollzug gerufen ist, ihre

236 Merks, Theologische Grundlegung der sittlichen Autonomie, 74.

237 Vgl. Lotz, 74.

238 Mit dem Begriff der ›subsistierenden‹ Substanz wird ausgedrückt, dass der Mensch bleibend abhängig ist von einem transzendenten Grund, dem er seinen Selbststand verdankt. Thomas unterscheidet zwischen dem ›modus substantiae‹, der nur Gott zukommt und dem ›subsistere‹ der menschlichen Person.

239 Böckle steht im Substanzdenken der aristotelisch-thomanischen Metaphysik, in dem dem ontogenetischen Werdeprozess die subsistierende Substanz der Seele zugrunde gelegt wird. Vgl. zum Substanzbegriff S.Th. I, q. 3,5 ad 1.

240 Ludger Honnefelder, Der Streit um die Person in der Ethik, 252f.

241 S.Th. I q. 29,1 resp: Allgemeines und Besonderes gibt es in jeglicher Gattung; in einer besonderen Weise aber findet sich das Individuelle in der Gattung der Substanz. Denn die Substanz trägt den Grund ihres jeweiligen Individuellseins in sich selbst (per se ipsam), während die Akzidenzien individuell sind durch ihr Subjekt (per subjectum), das die Substanz ist (quod est substantia). Darum tragen die Individuen aus dem Bereich der Substanz vor allen anderen Individuen einen besonderen Namen, nämlich ›hypostases‹ oder ›primae substantiae‹. Das Beson-dere und Individuelle findet sich noch vollkommener im Bereich der vernunftbe-gabten Substanzen, die ihr Tätigsein beherrschen (quae habent dominium sui actus) und aus eigener Initiative agieren (per se agunt). Sie erhalten den besonde-ren Namen ›persona‹.

Leiblichkeit (in einer ›reditio completa‹242) – sie wird individuell. Rahner interpretiert diesen Zustand theologisch als das übernatürliche Existential des Menschen. Der Mensch als ›Person‹ sei schon in der Anlage »dauerndes Subjekt der Heilsseelsorge«243.

Die Selbstverwirklichung der Person (Existenz)

Zur vollen Konstituierung seiner Person kommt der Mensch aber erst im aktuellen Vollzug des Seins. In der ›Person‹-Idee, wie Böckle sie rezipiert, bestehen zwei Formen zu existieren: erst- oder vollkonstituiert (Lotz) als ursprüngliche oder als endgültige Person (Rahner). In der endgültigen Person entfaltet sich in seiner Vollständigkeit, was der Mensch als vernunftbegabte Substanz dauernd ist. Da der Mensch noch vor jedem eigenen Akt der ›Heili-gung‹ durch Gottes Gnade in Christus aus der Ordnung der Erbsünde in die Ordnung des Heils gestellt gedacht wird, ist auch sein Handeln keine

»Krankheit zum Tode« mehr.244 Unter Bezugnahme auf das System des Thomas von Aquin wird die Gnade zur ›qualitas‹ des Menschen.245 Leibliche

242 Vgl. zur ›reditio completa‹ Ver 1,9. Lotz will die reditio als ein »onto-logisch«

vorbewusstes Innestehen in »der Wahrheit des Seins« (Lotz, 343) verstanden wissen, wie er in kritischer Rezeption von Martin Heidegger, »Über den Huma-nismus« ausführt. Nach Lotz könne so in der ›reditio‹ von einer »Überwindung des Gegensatzes von Individualität und Essentialität im Akte« gedacht werden oder von der »Gegensatzeinheit, die in etwa besagen würde: wesenhafte Einma-ligkeit« (343). Paradox an dieser Onto-logie der Person, so Lotz, ist das »gegen-seitige Bedingungsverhältnis«, das zur Person gehöre: »durch ihren Selbstvoll-zug ist das Sein eröffnet, und durch die Eröffnung des Seins ist ihr SelbstvollSelbstvoll-zug ermöglicht; immer zeigt sich das eröffnete Sein als der Logos oder Grund des be-stimmten Seienden, als das sich die Person darstellt« (345).

243 Karl Rahner, Art. Existential, übernatürliches, in: LThK 3 (21959), 1301, vgl. zur Idee des ›übernatürlichen‹ Existentials Rahners Erörterungen in: Über das Ver-hältnis von Natur und Gnade.

244 Die Redewendung geht auf einen Römerbrief-Kommentar Karl Barths zurück.

245 Otto Hermann Pesch, Die Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs = Walberberger Studien der Albertus-Magnus-Akademie 4, Mainz 1967, 520f., erläutert die Annahme der Gnadenexistenz der (menschlichen) Natur wie folgt:

Das neue Leben in Christus sei in der Theologie des Thomas die gnadenhafte Verwandlung des menschlichen Willens von der Sünde weg zurück auf Gott.

Und zwar im Sinne einer personalen Treuehandlung Gottes an sich selbst. Ginge man von der unvollendeten Natur als Gottes Wille aus »und daß in diesem Sinne die Gnade absolut ›zusätzlich‹ wäre, dann stünde man vor dem im Hinblick auf die Vorsehung Gottes nur schwer zu lösenden Rätsel, daß gerade das ranghöchs-te unranghöchs-ter den sichtbaren Geschöpfen hinsichtlich seiner Naturvollendung gegen-über den in ihrem Naturbestand durchaus vollendeten [...] untermenschlichen Kreaturen proportional gesehen in unerträglicher Weise ins Hintertreffen geriete.

4.2 Die Person und die Ontologie des Seienden

Einschränkungen in der Umsetzung der transzendentalen Freiheit oder menschliches Scheitern können nach dieser thomistischen Vorstellung die prinzipielle Gutheit der Schöpfung nicht korrumpieren.

Mit der ›Person‹-Idee wird ein Moment der Unnachvollziehbarkeit Bestandteil von Böckles Menschenbild. Die innere Teilnahme am Akt, »das Sichhineingeben der Person in Intensität und Liebe«246 wird als Seinsvollzug dargestellt, der eine nur objektive Erfassung übersteigt. Böckles anthropolo-gische Thesen aktualisieren das scholastische Postulat vom ›Geheimnis der Person‹247. Aus der theologischen Annahme, der Mensch sei in seinem Wesen übernatürlich modifiziert, resultiert eine Grenze der ethischen Theo-rie, eine Grenze, die anzeigt, dass zwischen theoretischer und praktischer Wahrheit ein Unterschied besteht. Theologisch gesehen, erklärt Böckle, ist nicht sicher aussagbar, dass die intelligible Freiheit real zur Todsünde fähig sei. Wirkliche Selbstverfügung, so Böckle, wird es vielleicht erst »im letzten total personalen Akt, den wir Tod nennen« geben. Vorher lasse sich nicht völlig ausschließen, dass die auf das Gute ausgerichtete Natur verhindere, dass die »ursprüngliche Freiheitstat jene Intensität erhält, die für die schwere Sünde notwendig wäre«248.

Die Verantwortlichkeit der Person (Transzendenz)

Die Person steht »abgrenzend in Beziehung«249 zu dem, was sie nicht ist.

Ihre Fähigkeit, sich auf andere zu beziehen und grundsätzlich antwortfähig zu sein, entspricht ihrer Berufung zur Sittlichkeit. Die Möglichkeit, sich einer

[...] Nun kann freilich die Gnade unmöglich in der Funktion des ›Mittels‹ zum

›Zwecke‹ der Naturvollendung aufgehen. [...] Wenn es Gnade gibt und wenn die Natur daher in einer positiven Zuordnung auf die Gnade steht, dann muß die Gnade als Ziel der Natur angesehen werden. Da aber die Gnade dieses nicht sein kann gemäß der Eigenmacht der Natur selbst, muß sie der Natur von außen, das heißt durch geschichtlich-freien Beschluß Gottes als Ziel zubestimmt sein. [...]

Aus der Tatsache, daß Gott sich selbst zur gnadenhaften Gemeinschaft schenkt, muß geschlossen werden, daß er auf deren geschichtliche Verwirklichung hin die Natur erschaffen hat.«

246 Das Personverständnis in der Moraltheologie, 184. Böckles Ausführungen tragen bisweilen Züge eine intuitiven Ethik, so in Existentialethik, 1304: Der Mensch ›spüre‹, wie er eigentlich sein müsste. Er »empfindet deutlich, dass er einem echten personalen Leben nur genügen kann, wenn er sich erst einmal zu einer grundsätzlichen Einstellung zu den religiösen und sittlichen Werten durch-gerungen hat«.

247 Zur Inkommunikabilität der Person vgl. Thomas von Aquin, S.Th. II q. 3, 1 ad 2.

248 Das Personverständnis in der Moraltheologie, 185. Zur Schwierigkeit, das Ver-hältnis von Heilsmöglichkeit und Heilswirklichkeit zu bestimmen, vgl. weiter unten Kapitel 5: Die Ordnung der Welt.

249 Das Personverständnis in der Moraltheologie, 185.

Antwort zu widersetzen, verweist auf den Subjektstatus der Person, sie muss sich nicht sittlich verhalten, sie soll es. Dass Böckle in diesem Sollens-anspruch mehr sieht als einen kategorischen Imperativ, zeigt in seinen frühen Schriften der kontrastreich gestaltete Vergleich mit der Pflichtethik Imma-nuel Kants.250 »Weder der kategorische Imperativ noch die idealistische Iden-titätsmetaphysik«, so Böckle, ließen Raum »für eine echte personale Verant-wortung«251. Als Spiegelbild seiner Intentionen ist Böckles Kritik, trotz ihrer argen Schematik, von Interesse. Böckle versteht den Sollensanspruch, unter dem der Mensch steht, als eine »imperativisch zur Tat drängend[e]«252 Glau-bensäußerung. Die Möglichkeit der Aneignung des göttlichen Wortes im Glauben (analogia fidei) ist aber ein wirklichkeitserschließendes praktisches Geschehen, das seine Gewissheit, wenn auch diskursiv vermittelbar, nicht diskursiv bezieht.

250 Die Schematik seines Kantbildes steht im Horizont der Zeit und wird später revidiert. Vgl. z.B. die Kantsicht Werner Schöllgens, die deutlich macht, wie sehr die kantianische Philosophie durch die Pflichtvorstellungen des Dritten Reiches in Verruf geraten war. Schöllgen sah sowohl »die preußisch soldatische Moral« von einem ablehnungswürdigen »gesinnungsethischen« Kantianismus geprägt (ders., Schuld und Verantwortung. Nach der Lehre der katholischen Moraltheologie, Düsseldorf 1947, 39), als auch das Ethos der Bürokratie in der NS-Zeit (vgl. ders., Der Richter und das Gesetz, in: Aktuelle Moralprobleme, Düsseldorf 1955, 220–229).

251 Bestrebungen in der Moraltheologie, 436. Ein ›echtes‹ sittliches Verhältnis (vgl. 437) im Horizont der Substanzmetaphysik ist inhaltlich unbeschreibbar.

252 Das Personverhältnis in der Moraltheologie, 176.