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3. Sittlichkeit im Spiegel der Bibel

3.1 Die Inspirationslehre

Die Lehre der Inspiration und Irrtumsfreiheit der Bibel (Inerranz) hat ver-schiedene Stadien durchlaufen.122 Früh schon wird die Frage, welche Texte als göttlich inspiriert zu kanonisieren seien, zur Entscheidung, was christlich wahr ist und »der Erziehung der Gerechtigkeit« (2 Tim 3,16) dient.

Der Glaube an die Inspiration des Ersten Testamentes wird von den ur-christlichen Gemeinden aus der Geschichte Israels tradiert.123 Im Zweiten Brief an Timotheus nennt der Verfasser Schriften, die »von Gott ein-gehaucht« (θεοπνευστος) sind (2 Tim 3,16). Diese Stelle wird gemeinhin als die älteste urchristliche Darstellung der Inspiration bezeichnet. Der Zweite Petrusbrief unterscheidet zwischen Irrlehrern und denjenigen, die »vom Hl.

Geist getrieben« (υπο πνευµατος αγίου φεροµενη) im Auftrag Gottes sprechen (2 Petr 1,21). Die sog. Pastoralbriefe zeigen, wie die Schriftlesung

»zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der -Gerechtigkeit«124 (2 Tim 3,16) eingesetzt wird. Nach dem Tod der Augen-zeugen und Augenzeuginnen sind es diese Schriftzeugnisse, mit denen die

›Wahrheit‹ des Glaubens tradiert wird. In der Abwehr von Häresien und zu missionarischen Zwecken entstehen erste Sammlungen kanonisierungs-würdiger Texte. Als älteste Zusammenstellung »inspirierter« Schriften gilt der Codex Muratori (um 200). Alttestamentliche Texte werden in die christ-liche Sammlung integriert, indem man sie im neuen Offenbarungsrahmen auslegt. Die Schrift wird im Lichte der Christusereignisse neu gelesen. Man sieht im Vergangenen die Vorausbilder oder ›Typen‹ des Zukünftigen. Bei Klemens von Alexandrien und Tertullian finden sich die ersten Gesamt-kompositionen beider Testamente.125

122 Vgl. Heribert Haag, Die Inspiration der Heiligen Schrift, in: MySal 1 (1965), 335–357; Johannes Beumer, Die Inspiration der Heiligen Schrift = HDG I Faszi-kel 3b, Freiburg i.B. 1968; R. Gunse, The Authority of the Bible. Theories of In-spiration, Revelation and the Canon of Scripture, New York 1985.

123 Im Hebräerbrief heißt es: »Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten« (Hebr. 1,1). Die Vorstellung göttli-cher Inspiration ist gut belegt, vgl. die Texte vom Bundesschluss Ex 24,4 und Ex 32,16 bzw. Dtn 5,22; als prophetisches Beispiel zur ewigen Gültigkeit von Got-tes Wort vgl. Jes 59,21.

124 Der sog. Zweite Pastoralbrief an Timotheus trägt den Charakter eines Testa-ments. Er wurde wahrscheinlich nicht zu Lebzeiten Paulus geschrieben. Gemein-sam mit dem Ersten Timotheusbrief und dem Titusbrief nimmt er Stellung zu Leitung und Amt in der Kirche.

125 Vgl. Beumer, 11.

3.1 Die Inspirationslehre

Mit Werken wie Origenes’ »Peri Archon« erreicht die theologische Schriftlesung eine systematische Stufe, die bis ins Mittelalter Bestand hat.

Die v.a. in der Ostkirche bedeutsame Schule des Origenes lehrt in der Über-zeugung, dass bibelexegetische Fehler entstünden, wo die Schrift nicht

»geistlich«, sondern »nach dem bloßen Buchstaben aufgefasst wird«126. Die Schrift wird als Medium begriffen, um den Menschen zu verwandeln.127 In dieser Idee ist eine Kosmologie impliziert, die exemplarisch für Origenes’

pädagogische Vorstellung von ›Gotteskindschaft‹ ist. Danach steht Gottes Vorsehung von ihren ersten Anfängen unter einem pädagogischen Ziel und ist zugleich Vorsehung (προνοια) und Erziehung (παίδευσις). Dank der großen Pädagogik Gottes transzendiere die wahre christliche Exegese die

»Weisheit dieser Welt«128. Origenes nennt nicht nur die prophetische Rede, sondern auch die Lehre der Evangelisten und Apostel »gottgehaucht«

(θεοπνευστος) und »im Geiste de[s] Logos vorweg erschaut«129.

Im Westen ist es Augustinus, der den biblischen Text renommiert gegen

›einfältige‹ Missinterpretation schützen will. In Reaktion auf die Rigorismen der Donatisten und Manichäer gestaltet sich seine moralische Schriftexegese

126 PA IV 2,2; Origenes, Vier Bücher von den Prinzipien, hg., übers. u. mit kriti-schen und erl. Anmerkungen vers. v. Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp = Texte zur Forschung 24, Darmstadt 1976, 701. Origenes wendet sich explizit ge-gen die jüdische, die marcionitische und die »einfältig christliche« (ebd.) Schrift-auslegung.

127 Die rigorosen Lehren des Montanismus und Markionismus, die mit Hilfe der Schrift ihren ethischen Forderungen Dignität verschaffen wollten, widersprechen der Theorie des Origenes. Dieser wendet sich gegen die ekstatische Verbal-inspiration. Entgegen Markion, der das Alte Testament und andere jüdische Schriften aus dem biblischen Kanon auszuscheiden versucht hatte, verteidigt Origenes die Inspiration der ganzen Heiligen Schrift; die Kirche sei mit den Patriarchen und Propheten des Alten Bundes begonnen.

128 Vgl. PA IV 2,6 (Görgemanns, 715). Die Schrift enthält die »Weisheit im Ge-heimnis«, wie Origenes in Bezugnahme auf 1 Kor 2,7 erklärt. Nach Eberhard Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit. Theologie des christlichen Handelns bei Origenes = TTS 33, Tübingen 1990, 133, 103 besitzt Origenes ein »Freiheits-denken« ganz eigener Art, das in seiner zeitgenössischen Umwelt kein Vorbild finde. Es erlaube ein neues Dialogverständnis zwischen Gott und Mensch. Die heutige Vorstellung, dass der Heilige Geist im Schriftsteller wie im Leser/ in der Leserin wirksam ist, wird durch Origenes’ Lehre der pneumatologischen Dimen-sion der Schriftlesung geformt. Origenes’ Inspirationslehre versteht das inspirier-te Gotinspirier-teswort der Heiligen Schrift als ›Wort‹ in den Worinspirier-ten des vom Geist erfüll-ten Menschen. Die »Propheerfüll-ten reden nämlich, indem sie von der Fülle nehmen, [...] und es gibt nichts, in der Prophetie oder im Gesetz oder im Evangelium oder im Apostel, was nicht von der Fülle wäre« (In Jeremiam 21,2, GCS 13, hg. v. E.

Klostermann, Leipzig 1901, 195f. Zitiert nach Beumer, 17).

129 PA 3,3, 1 (Görgemanns, 256).

moderat.130 Hinsichtlich des moralischen Schriftsinnes ist er für die allegori-sche Entschärfung derjenigen Bibelstellen, die weder zur Tugendhaftigkeit noch zur Wahrheit im Glauben beitrügen.131 Gottes Geist negiere nicht das Selbstbewusstsein der biblischen Autoren, sondern diese seien Mitautoren des geschriebenen Wortes. »Gott spricht durch einen Menschen nach Art der Menschen, weil er auch in einem solchen Sprechen uns sucht.«132

Die Kirche des Mittelalters unternimmt keine eigenen Versuche, die Inspi-rationslehre von Grund auf neu zu überdenken. Gemeinsam mit dem patristi-schen Traditionsgut wird die Autorität der Bibel anerkannt.133 Mittelalterliche Autoren unterscheiden je nachdem, welche patristische Tradition sie rezipie-ren, zwischen einem dreifachen bzw. einem vierfachen Schriftsinn.134 In beiden Systemen wird der moralische Schriftsinn, der die biblischen Gebote und Handlungen unter dem Gesichtspunkt der Sittlichkeit erörtert, tropolo-gisch, ›uneigentlich‹ genannt. Er unterscheidet sich wie folgt von den ande-ren Schriftsinnen:

Littera gesta docet, quid credas allegoria, Moralis quid agas, quo tendas anagogia.135

Die allegorische Lesart bezeichnet fortan nicht mehr den Gegensatz zur einfältigen Lesart, sondern eine spezifisch heilsgeschichtlich interpretierende Schriftlesung.136 Diese doppelte, nämlich weite und enge Anwendung des Allegoriebegriffs ist Ausdruck einer wissenschaftlichen Interessenverschie-bung. Indem die scholastische Lehrform »das ganze christliche Erbe,

130 Vgl. Henning Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, 243.

131 Aurelius Augustinus, De doctrina christiana III, X = PL XXXII : Neque ad morum honestatem, neque ad fidei veritatem.

132 Aurelius Augustinus, De civitate Dei 17,6 = PL XLVIII : Non autem quasi nesciat ubi sit, ita sibi hominem Deus quaerit; sed per hominem more hominum loquitur, quia et sic loquendo nos quaerit. Böckle nimmt in seinem Frühwerk über einige Verweisstellen aus der Summa des Thomas von Aquin Bezug auf Augustinusexegesen. Die augustinische Tradition, vgl. Nethöfel, 169, verbindet ihn mit Karl Barth.

133 Vgl. Leo IX in seinem Brief »Congratulamur vehementer« an den Patriarchen von Antiochien: »Ich glaube auch, dass der allmächtige Gott und Herr der eine Urheber des Neuen und Alten Testamentes, des Gesetzes, der Propheten und der Apostel ist« (DH 685).

134 Zu den einzelnen Schriftsinnen vgl. Henri de Lubac, Exégèse médievale: Les quatre sens de l‹Écriture, 4 Bde, Paris 1959–1964; Beryl Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages, Hammond 1964 (Oxford 21952).

135 Augustinus von Dacia verfasst diesen Merksatz um 1260, vgl. Riedlinger. Nach Brinkmann, 171, stellt der Merksatz mittelalterliches Allgemeingut dar.

136 Vgl. Brinkmann, 244–259, mit einer Gegenüberstellung der Positionen von Friedrich Ohly und Henri de Lubac.

3.1 Die Inspirationslehre

schließlich der diesem [Erbe] zugehörigen philosophischen Doktrinen«137 zur Grundlage bestimmt, wird die Heilige Schrift zu einer Erkenntnisquelle ne-ben der Väterliteratur und den Sätzen der philosophischen Analytik. In der Quaestionenliteratur wird das zunehmende Interesse an systematischen Fragestellungen anschaulich. Die ›Summa‹ versucht, die Gesamtheit der Theologie unter bestimmten spekulativen Fragen zu ordnen und den Willen Gottes in den Kategorien der menschlichen Vernunft abzubilden. Das Ver-ständnis »des geistigen Baus«138 der Offenbarung liegt nun vornehmlich in der Erkenntnis des Wortsinns. Der stärkere Kontakt mit der nichtchristlichen Welt fördert diese Entwicklung.139

Die reformatorische Bewegung des 16. Jahrhunderts, in der die Lehrform der ›Disputatio‹ weit verbreitet ist, übernimmt zunächst die Inspirationslehre der Scholastik. Nach dem Bruch Martin Luthers mit der katholischen Kirche geht dies nicht mehr. Die Schrift avanciert zum einzigen Ordnungsprinzip (sola scriptura), ohne dass eine eigene Theorie der Schriftinspiration vertreten wird. Nachfolgend lässt sich die Tendenz beobachten, die Schrift verbalinspi-riert zu verstehen.140 Im 18. Jahrhundert bricht die evangelische Theologie weitgehend mit dem Modell der Verbalinspiration. Rationalismus und Pietismus hinterfragen auf je eigene Weise den Zusammenhang von Bibel-lesung und Dogmatik. Da das Subjekt als inspiriert gilt, bedarf es keiner institutionellen Inspirationslehre mehr. Die Verbalinspiration wird als

›Schriftmechanisierung‹ ausgeschlossen.141 Der Religionsphilosoph

137 Wolfgang Kluxen, Thomas von Aquin, in: LThK 9 (32000), 1509–1517, 1510.

138 Die »Entschlüsselung der allegoria«, so Brinkmann, 230, führt »zum Aufbau des Glaubens: ad aedificationem catholicae fidei, wie Johannes Scotus sagt«. Die scholastische Unterscheidung von Zeichen erster (natürlicher) und zweiter (über-natürlicher) Ordnung erhöht die Bedeutung des Wortlautes (litterae), ohne seine Verbalinspiration annehmen zu müssen. Vielmehr gilt es, sich um den übertrage-nen Sinn (intelligentia spiritualis) zu bemühen, vgl. ebd., 270f.

139 Die Begegnung mit der hebräischen und arabischen Wissenschaft und deren eindrucksvoller Rezeption der griechischen Philosophie bringt eine stärkere Be-schäftigung mit Originalsprachen und die Konzentration auf den Literarsinn mit sich, vgl. Smalley, 292–308 (Aristotle and the letter) unter Anführung von Hugo von St. Victor.

140 Für die protestantische Theologiegeschichte zur Schriftinspiration hält Beumer, 51 fest, dass das Phänomen der Identifizierung von ›scriptura‹ und ›verbum‹ ei-nem allmählichen Auseinanderrücken der Bedeutungen Platz macht. »Scriptura«

und »verbum« rücken »je länger desto mehr auseinander [...] Die Folge ist, dass Melanchthon und seine Schüler das verbum dei aus dem dogmatischen Ansatz verschwinden lassen.«

141 Vgl. Beumer, 55 unter Verweis auf ›Der christliche Glaube nach den Grundsät-zen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt‹ (Hl 21830) II 277.

E. Hirsch nennt exemplarisch S.J. Baumgarten (1706–1757), mit dem die evan-gelische Theologie »in das entscheidende Stadium des Übergangs vom

macher, mit Sympathien für den Pietismus, lässt für das Verstehen von Bibel-texten keine anderen hermeneutischen Regeln zu als für andere Texte.

Gegen Schleiermacher und die sog. »positiv-liberale oder liberal-positive Theologie des Neuprotestantismus des Jahrhundertanfangs«, deren »Heilig-tum« ein »Menschengott«142 sei, opponiert nach dem Ersten Weltkrieg die

›dialektische‹ Theologie, die sich um die Zeitschrift »Zwischen den Zeiten«

formiert. Die dialektische »Wort-Gottes-Theologie« spielt in Böckles Werde-gang eine elementare Rolle. Ihr gehören deutsche und schweizerische evangelische Theologen an, darunter Karl Barth, Emil Brunner, Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten. Sie entstammen überwiegend dem Pfarr-amt und vertreten Fragestellungen, die den in der Priesterausbildung tätigen jüngeren Böckle beschäftigt haben werden.143 Die dialektische Theologie hat keine einhellige Position zur Inspiration entwickeln können, bevor die Gruppe auseinanderfiel.

Für die katholische Kirche nimmt erst das Zweite Vatikanum Mitte der 1960er Jahre ausführlich Stellung zur Inspirationslehre. »Jegliche Erinnerung an alte Theorien einer Verbalinspiration soll ausgeschaltet werden, damit auch jede Form einer unpersonalen, mechanistischen Deutung der Entstehung

glauben zu einem Offenbarungsglauben getreten« sei (zitiert nach Beumer, 54).

Um eine Einsicht in die thematisch relevanten evangelischen Hauptströmungen des 18. und 19. Jahrhunderts zu erhalten siehe HDG 3 (21998), bes. Kapitel II, Der Pietismus, 97–115, und Kapitel V, Schleiermacher und Hegel, 147–156.

Bezogen auf die dortigen Ausführungen, betonen alle der an sich sehr verschie-denen Reformbewegungen der protestantischen Orthodoxie die Eigenart und Wandlungsmacht des persönlichen Glaubenserlebnisses. Man ist weder bibel- noch kulturfeindlich, sondern inspirationskritisch i.S. einer Distanz gegenüber institutionalisierter Gnadenvermittlung. ›Inspiration‹ wird als »causa efficiens«

begriffen. Das heißt z.B. im pietistischen Verständnis, dass jeder Bibelleser/ jede Bibelleserin ›unfehlbar‹ (positiv oder negativ) der »völlige[n] Charakterverän-derung« (Beumer, 66) untertan sei. Schleiermacher bringt den Inhalt der Institu-tionenkritik in einem protestantisch-katholischen Lehrgegensatz auf den Punkt.

Der Protestantismus, so Schleiermacher nach: M. Rade (Hg.), Die Leitsätze der 1. u. 2. Auflage von Schleiermachers Glaubenslehre nebeneinandergestellt, Tübingen 1904, § 24, mache »das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche abhängig von seinem Verhältnis zu Christo«, während der Katholizismus umgekehrt »das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig [mache] von seinem Verhältnis zur Kirche«.

142 Karl Barth, Abschied: ZZ 11, 1933, 536 = Anfänge der dialektischen Theologie II, 313.

143 In den Worten Barths will der Kreis eine Theologie des Wortes schaffen, »wie sie sich uns als jungen Pfarrern von der Bibel her allmählich als geboten aufge-drängt hatte und wie wir sie bei den Reformatoren vorbildlich gepflegt fanden«

(Barth, Abschied, 313).