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13. G RUNDWERTE IN S TAAT UND G ESELLSCHAFT

13.2 Sittlichkeit im Rechtsdenken der Gegenwart

13.2.4 Sinn und Zweck von Strafe

Böckle votiert für einen sozialethisch orientierten Neuentwurf des Straf-rechts, weil dieser Abstand nimmt vom »reine[n] Maßregelrecht« und einen Schwerpunkt auf resozialisierende Maßnahmen setzt. Er hält diese Verlage-rung für adäquat, insofern sie aus der Einsicht resultiert, dass Kriminalität eine gesellschaftliche Realität ist, die man nicht abschaffen kann und für die Staat und Bürger gemeinsam Verantwortung tragen. In seinen Texten, die aus der Zeit der Strafrechtsreform stammen, treffen wir auf eine christlich-ethische Interpretationsweise von Schuldzusammenhängen, die einen pro-grammatischen Kontrapunkt zum juristischen Standpunkt setzt.

Böckle legt ein Weltbild zugrunde, das in der ›Fundamentalmoral‹ im Kontext der Erbsündenlehre begegnet. Menschliches Handeln wird dort als intergenerationales Geschehen verstanden, in dem das sittliche Subjekt Teil hat an einer gemeinsamen Menschheits- und Unheilsgeschichte. In einem

»strenge[n] Korrespondenzverhältnis von Gesellschaftsverständnis und Süh-neverständnis« wird Schuld zu einer Tatsache, die auf den Zustand der Ge-sellschaft zurückverweist. »Man sollte«, so Böckle in der ›Fundamental-moral‹, »die kriminogenen Faktoren unserer Gesellschaft nicht unterschätzen.

[...] Wenn begabte Schriftsteller voller Ironie feststellen, es gebe heute ›keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr‹ [Dürrenmatt], dann wol-len sie ja gerade den einzelnen auf die schlafwandlerische Gleichgültigkeit und das kritiklose Mitläufertum aufmerksam machen.«785 Alle sind schuldig.

782 Strafrecht und Sittlichkeit, 318. Die »sozialpsychologischen Mechanismen«, die eine Gesetzesänderung, also auch die Aufhebung eines Straftatbestands auslösen kann, so Zur anthropologischen und ethischen Grundlegung gesellschafts-politischer Entscheidungen, 198, seien vom Gesetzgeber zu berücksichtigen.

783 Recht und Sittlichkeit, 17.

784 Recht und Sittlichkeit, 14.

785 Recht und Sittlichkeit, 17f.

Deshalb spricht Böckle ›Sühne‹ nicht als Konsequenz von Vergeltung an,

»sondern vom Gedanken der Umkehr und Rückkehr für alle«786.

In der ›Fundamentalmoral‹ und ihren Vorstudien wird dieses Gemein-schaftsverständnis biblisch entfaltet. Böckle stellt dar, wie die Tatsache, dass der Mensch seine sittliche Freiheit verfehlen kann und deshalb einer gesetz-lichen Ordnung bedarf, biblisch als ein gemeinschaftliches Bedingungs-verhältnis verstanden wird. In den Texten der Heiligen Schrift stehe »alles Einordnen und Bewältigen der Schuld unter einem Solidaritätsverständnis, das nicht nur die Solidaritätsbereitschaft des einzelnen gegenüber dem Volk, sondern auch eine Solidaritätsbereitschaft des Volkes gegenüber dem einzel-nen kennt. Alle Umkehr des einzeleinzel-nen bleibt zugleich eingefangen in die Umkehr des Volkes als ganzem.«787 Der alttestamentliche Tatzusammenhang sei neutestamentlich bestätigt und auf die gesamte Menschheit ausgedehnt worden – in »brüderliche[r] Verantwortung füreinander«788. Böckle schluss-folgert aus der im biblischen Kollektivgedanken behaupteten Menschheits-idee, der Mensch, der seine menschliche Bestimmung nicht verfehlen wolle, dürfe sein Handeln »nicht nur aus seinem Selbstvollzug«789 heraus reflektie-ren. Vielmehr sei die Einzeltat stärker aus dem Gesamt »der voraus- und zugrunde liegenden individuellen, sozialen und geschichtlichen Dispositions- und Prägefelder«790 zu begreifen. Die ›schicksalshafte‹ Begrenzung der menschlichen Entscheidungsfreiheit schon bei der Geburt zeige den prinzi-piell autonomen Menschen in der Abhängigkeit von Institutionen, Ordnungen oder Sitten. Kollektive ›Schöpfungen‹791 guten oder schlechten menschlichen Freiheitshandelns beeinträchtigen das einzelne Subjekt.

Böckle, der einerseits auf die Bedingtheiten menschlichen Handelns hin-weist, setzt andererseits einen interessanten Fokus auf die Autonomie und Verantwortungsfähigkeit der Delinquenten. Gegen die Behauptung, ›der Staat könne vom Rechtsbrecher keine innere Umkehr fordern‹, vertritt Böckle die Meinung, wo die Gemeinschaft bei einzelnen Gliedern ein Defizit an wertbezogener Einstellung feststellt, dürfe sie diese Glieder »nicht aus der Mitverantwortung für die Werte entlassen. [...] Sie hat die Pflicht, mit ihrer Strafrechts- und Strafvollzugsordnung die äußeren Bedingungen zu schaffen, die den Menschen auf den Weg bringen, sich selbst und den anderen zu

786 Strafrecht und Sittlichkeit, 320. Dort heißt es weiter: »Eine Gesellschaft, die ihre Ordnungen und Gesetze unmittelbar als Ausdruck einer den Mitgliedern entzo-genen Ordnungsgesetzlichkeit begreift, muß notwendig einen Sühnebegriff pro-duzieren, der Satisfaktion fordert, ganz im Sinne des nach dem »ius talionis« ver-fahrenden Prinzips der Strafgerechtigkeit.«

787 Strafrecht und Sittlichkeit, 321.

788 Recht und Sittlichkeit, 19.

789 Strafrecht und Sittlichkeit, 320.

790 Strafrecht und Sittlichkeit, 320.

791 Vgl. Recht und Sittlichkeit, 18; vgl. Strafrecht und Sittlichkeit, 320.

13.2 Sittlichkeit im Rechtsdenken der Gegenwart

finden, anzunehmen und zu verwirklichen.«792 In seinen Vorlesungen zur speziellen Moral entfaltet er, warum er die Beschränkung des Strafzwecks

»auf die gesellschaftliche Eingliederung« ungenügend findet. »Eine Resozia-lisierung bedarf, wenn sie erfolgreich sein soll, einer Umerziehung und Ge-sinnungswandlung.« Der Täter müsse die Bereitschaft zeigen, den harten Prozeß innerer Wandlung auf sich zu nehmen. »Zumindest soviel an persön-lichem Einstehen für die Tat müßte auch im Verständnis der Strafe als Reso-zialisierungsmaßnahme enthalten sein.«793 In Kenntnis der theologischen Motive Böckles klärt sich seine rechtstheoretische Position. Böckle vertritt nicht das Konzept des ›lernenden Bürgers‹, der in einem festen Normsystem lernt, Versprechen einzuhalten. Böckle geht es um Prinzipien der sittlichen – inneren – Umkehr.794 Dass man sich politisch gegen diese Sichtweise sträube, findet Böckle zwar aus Sicht der Juristen verständlich, jedoch inkon-sequent, weil es die Idee der Wiedereingliederung – bei grundsätzlicher Anerkennung der milieu- und naturbedingten schuldeinschränkenden Fakto-ren – eigentlich zurücknehme.

Böckle, der die Notwendigkeit pluraler Strafzwecke nicht leugnet795, fordert vom Gesetzgeber den Willen, verstärkt zwischen Behandlungs- und Schuldstrafrecht abzuwägen. Alle extremen Standpunkte seien zu vermeiden.

Aus Sicht des Christentums müsse das neu zu entwickelnde Strafrechtskon-zept die Überwindung des ›alten Schuldausgleichsdenkens‹ unterstreichen.

»Unser Verständnis von Buße wie unsere Solidarität mit dem Rechts-brecher«, so Böckle, weisen einen zukunftsorientierten Weg. »Buße tut, wer umkehrt und in die Zukunft hinein sein Leben neu gestaltet. Gerade von diesem Spezifikum christlicher Buße her, daß allein die prospektive Verwirk-lichung des Willens Gottes heilsbedeutsam ist, ist das alte Schuldausgleichs-denken als überwunden zu betrachten.«796 Böckles theologische Annäherung an das Strafrecht und die Reformvorschläge, die er macht, vertiefen das

792 Strafrecht und Sittlichkeit, 322.

793 Vorlesungsskript Ausgewählte Fragen der Speziellen Moral II (1969), 54.

794 Vgl. zum Beispiel des ›lernenden Gefangenen‹ bei Thomas Hobbes die Anmer-kungen von Regina Harzer, Rezension zu W. Kersting, Die politische Philoso-phie des Gesellschaftsvertrages, Darmstadt 1994, in: Rechtstheorie 30 (1999), 123–136, 135.

795 Mit pluralen Strafzwecken ist gemeint, dass sich Affekt-, Trieb- und Intelligenz-handlungen strafrechtlich unterscheiden lassen. Was die Bestrafung von Krimi-nalität betrifft, lehnt Böckle, Recht und Sittlichkeit, 17, Vergeltungsdenken und

«metaphysischen Schuldausgleich” ab. Damit ist auch die kantische Strafbegrün-dung ausgeschlossen. In der Kürze seiner Aufsätze erörtert Böckle die ›meta-physisch absolute‹ Begründung der Kriminalstrafe durch Kant und Hegel nur in Anmerkungen, vgl. Strafrecht und Sittlichkeit, 317 Fn. 7 bzw. Recht und Sitt-lichkeit, 16 Fn. 8.

796 Recht und Sittlichkeit, 21.

Verständnis sowohl der strafenden Institutionen, wie der Delinquenten und des Strafvollzugs. Komplementär zur Rechtstheorie arbeitend, tariert er die richtige Ökonomie der Strafe auf Basis einer eigenen, ›metaphysischen‹ Sicht der Schuldzusammenhänge aus.797 Das ›integrationskritische‹ Profil der christlichen Ethik, wie er es in der ›Fundamentalmoral‹798 entwirft, konkreti-siert das christliche Liebesprinzip in einer Vernunftabwägung, die für den schonendsten Ausgleich der Güter optiert.

797 Vgl. zum Begriff ›metaphysische Schuld‹ Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidel-berg 1946.

798 Vgl. Fundamentalmoral, 228.