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TEIL II: E THIK ALS E THIK . T HEOLOGISCHE E THIK ALS T HEORIE

8. N ATUR UND N ATURRECHT

8.1 Vier Vorstellungen von Naturrecht

8.1.1 natura rationis

Diese erste Naturdefinition, in die Böckle einführt, stammt von Thomas von Aquin und ist grundlegend für alle nachfolgenden Definitionen. Wie die antiken Vorlagen spricht Thomas von der Neigung aller Dinge (ihrer ›Natur‹) zu den ihnen eigenen Handlungen und Zielen. Die ganze Schöpfung bestehe in Teilhabe am ewigen Gesetz (lex aeterna) (S.Th. q. I–II 91, 2). Der Mensch aber ist auf ausgezeichnete Weise (excellentiori modo) dem göttlichen Gesetz unterstellt – er nimmt selber an der Vorsehung teil, »da er für sich und für andere ›vorsehen‹ kann«423. Was sagt das näherhin über die menschliche Erkenntnis aus? Bei Thomas und im Gegensatz zur Kosmologie der Stoa

421 Der Aufbau des thomanischen lex-Traktats ist nicht deduktiv zu verstehen, son-dern besitzt, laut Merks, Theologische Grundlegung der sittlichen Autonomie, 88, in der Zuordnung von metaphysischer und praktischer Erkenntnis »Grün-dungscharakter« in der Summa Theologiae.

422 Nach Merks, Theologische Grundlage der sittlichen Autonomie, 247, kommt dem intellectus »die ›einfache› Wahrheitserfassung zu, der ratio dagegen die dis-kursive Wahrheitsfindung (vg. S.Th. I q. 79, 8), dem intellectus das erblickende Erfassen – intuitus –, der ratio das forschende Nachsuchen – inquirere – (II Sent.

9, 1,8 ad 1)«.

423 S.Th. I–II, q. 91, 2 corpus articuli in der Übersetzung der Dt. Thomasausgabe.

Der lateinische Text heißt: Inter cetera autem rationalis creatura excellentiori quodam modo divinae providentiae subjacet, inquantum et ipsa fit providentiae particeps, sibi ipsi et aliis providens (eigene Hervorhebung).

schenkt die ›lex aeterna‹ keine tiefere Erkenntnis in eine vorgezeichnete Ordnung, sondern das prinzipielle Vermögen, evidente Prinzipien aus der eigenen Vernunft heraus logisch erschließen zu können. Wie bei Aristoteles ist die Handlung eine tätige Vollendung der Natur »im βίος der artspezifi-schen Praxis«424. Sie ist an gewisse Anlagen gebunden, aber bedeutender noch an den Willen. In Weiterführung des aristotelischen Modells löst Thomas den antiken Zirkel von ›Streben‹ (nach naturaler Vollendung) und

›Vernunft‹ zugunsten der Vernunft auf. Nach Thomas kann sich der Mensch im Gegensatz zu allen nichtvernünftigen Lebewesen eben nicht nur Ziele setzen und sie verfehlen, er kann für sich und andere gemäß selbsterschlosse-ner Regeln ›vorsehen‹. Die Vernunft, in deren Besitz der Mensch im Gegen-satz zum Tier ist, organisiert selbst, wonach gestrebt werden soll. Das Leben

›secundum naturam‹ ist ein noch zu entwerfendes Leben ›secundum ratio-nem‹.425

Die thomanische Konzentration auf den Menschen in dessen ausgezeich-neter Eigenständigkeit wird von Böckle über die Jahre verschieden darge-stellt. Systematisiert man seine Kommentierung des thomanischen Gesetzes-traktats426 in verschiedenen Stadien seines Werkes, erschließt sich dabei die Unterscheidung zwischen der letztbegründenden Vernunft des Menschen und seiner diskursiven Vernunftbegabung als neue Pointe von Böckles Thomas-exegese seit 1965 und seinen fundamentalmoralischen Abhandlungen über-haupt. Dies soll im Folgenden werkdiachron illustriert werden. Nach Böckle versinnbildlicht die Grundlegung der sittlichen Autonomie in der ›lex aeterna‹ die Bedeutung der Transzendenz für die Möglichkeit einer Letzt-begründung menschlicher Sittlichkeit, ohne dass ein theologisches Motiv die Selbstauslegung des Menschen nach immanenten Gesetzen behindern würde.427

Es wurde bereits erwähnt, dass sich die Exegese des Lex-Traktats bei Böckle in mehreren Schritten entwickelt. Der Lexikonartikel »Naturrecht in der Moraltheologie« steht in seiner Gliederung und Argumentation noch im Duktus der 1950er Jahre. Theologisch bedeutsam heißt »die Frage nach der

424 Honnefelder, Natur als Handlungsprinzip, 154.

425 Zur »ausschließlich(en)« anthropologischen Relevanz der ›lex naturalis‹, wie Böckle sie annimmt, vgl. die Erörterungen bei Merks, Theologische Grundle-gung der sittlichen Autonomie, 233. Eine Integration dieser, die unmissverständ-liche Vorordnung der Vernunft heraushebenden Position in ein Konzept der thomanischen Tugenden unternahm jüngst Georg Wieland, Vernunft und Natur.

Das Secundum naturam in der Thomanischen Strebens- und Güterlehre, in: Was ist das für den Menschen Gute? Menschliche Natur und Güterlehre (FS Honne-felder), hg. v. J. Szaif/ M. Lutz-Bachmann, Berlin/ New York 2004, 229–245.

426 S.Th. I–II q. 90–108.

427 Zur Bedeutung des ›actus humanus‹ im theologischen Horizont des Thomas vgl.

Merks, Theologische Grundlegung der sittlichen Autonomie, 75f.

8.1 Vier Vorstellungen von Naturrecht

Geltung des natürlichen Sittengesetzes in der übernatürlich geoffenbarten Sittlichkeitsordnung«428. Begrifflich verbindet Böckle mit dem Naturgesetz die Definition der Vernunftnatur sowie die Ableitung der allgemein-verbindlichen Grundgesetze des Handelns (das natürliche Sittengesetz).

Nach 1965 verschiebt sich der Schwerpunkt. Nun zeigt Böckle die theolo-gische Größe des thomanischen Modells in dessen differenzierter Darstellung der »Regelstruktur des Sittlichen«429, das die Formalität und Aufgegebenheit des Menschen bis in das Grundlegende seiner Moral hinein begründet. Die theologische Untersuchung der Gerechtigkeit menschlichen Handelns ist keine Frage mehr unter dogmatischen Vorzeichen, sondern die metaphysi-sche Grundlegung des Gesetzes des freien Handelns. Er untersucht den ethi-schen Auftrag der Kirche und der Theologie vor der Tatsache der Diversität der weltlichen ethischen Entwürfe. Durch das historische Bewusstsein, wel-ches Mitte der 1960er Jahre in den Wissenschaften wächst,430 werden seine Analysen sensibel für den »Sitz im Leben«431 von religiösen moralischen Aussagen. »Nur« das oberste praktische Prinzip, dass das unbedingte Verpflichtetsein des Menschen auf Wollen und Handeln besagt, erlaube in seiner ›Unbeweisbarkeit‹ (S.Th. I–II q. 91,3), religiös interpretiert zu werden.

Gegen den Hintergrund der Sekundärliteratur, die Böckle zur Bedeutung der ›lex natura‹ rezipiert, zeigt sich, dass er die thomanische Partizipations-these in ihrem theologischen Charakter nutzt, um das rechtsphilosophische Naturrecht konzeptionell zu flankieren. Böckle ist an der argumentativen Sicherheit des öffentlichen Rechts interessiert. Die thomanische Natur-vorstellung in ihrem theologischen Charakter begründet s.E. nicht nur die sittliche Autonomie des Menschen, sondern verhilft auch der politischen Ordnung der Welt zu ihrer Dignität.432 Böckles Kollege Arntz, der Böckle ja zu seiner naturrechtlichen Begriffsgenese angeregt hat, bevorzugt hingegen eine phänomenologische Entfaltung der prima principia in einer auf ›den Anderen‹ konzentrierten Ethik.433

428 Art. Naturrecht in der Moraltheologie, 826 (dort nicht kursiv).

429 Honnefelder, Natur als Handlungsprinzip, 175.

430 Man beanstandet eine metaphysische ›Konjunkturempfindlichkeit‹, vgl. Arntz, 113.

431 Natur als Norm in der Moraltheologie, 75.

432 In Rückblick und Ausblick, 126f., heißt es unter Verweis auf den Rechtsphiloso-phen Welzel, die Idee des Naturrechts liege »im Gedanken des unbedingten Verpflichtetseins einer Rechtsordnung«; vgl. zur Rezeption Welzels ebenfalls Fundamentalmoral, 256–258. In späteren Aufsätzen behandelt Böckle zusätzlich Autoren der kritischen linksorientierten Theorie bzw. sozialphilosophische Auto-ren (Marcuse, Plack), die in ihrem Bemühen, so Theonome Autonomie, 22, um das gesellschaftlich »reife Bewusstsein« engagiert sind.

433 Arntz, 118ff. zitiert Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception (1945), bei dem er die Kombination von rationaler und affektiver Begegnung

Anfang der 1970er kommen für Böckle einige philosophische Gesichts-punkte »noch klärend und präzisierend«434 zu den Differenzierungen von Arntz hinzu. Sie resultieren aus der Arbeit Wolfgang Kluxens zur theologi-schen Ethik des Thomas sowie deren Rezeption bei Ludger Oeing-Hanhoff.435 Spätestens 1972, mit Erscheinen des Aufsatzes »Theonome Au-tonomie. Zur Aufgabenstellung einer fundamentalen Moraltheologie«, stehen die Formulierungen fest, die Böckle beibehalten wird, um die Bedeutsamkeit der thomanischen Auslegung der Teilhabe an Gottes Gesetz darzustellen. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: In der christlichen Ethik seien zwei Fragestellungen zu unterscheiden, und zwar die Frage nach der inhaltlichen Begründung und Geltung moralischer Aussagen (Fragen der diskursiven Vernunft) von der Frage nach dem Grund sittlicher Beanspruchung überhaupt (Frage der letztbegründenden Vernunft). Während die erste Frage genuin ethisch sei, sei die »Frage nach dem natürlichen Sittengesetz primär nicht eine Frage der Ethik, sondern ein Problem der Metaphysik menschlichen Handelns.«436 In der Beantwortung dieser zweiten Frage sieht Böckle die eigentliche »Aufgabe der theologischen Ethik«437.

Kluxen hatte in seiner maßgeblichen Thomasstudie herausgestellt, wie Ethik und Metaphysik bei Thomas einander bedingen, wiewohl sie begriff-lich zu trennen sind. Nach Kluxen ist die Position der ›lex aeterna‹ »keine primäre und unmittelbare; sie muss aufgefaßt werden als das Ergebnis einer Reflexion auf die Gründung dessen, was sich in der praktischen Erfahrung zeigt«438. Der Spruch des menschlichen Urgewissens (synderesis439), das Gute

umgesetzt sieht. Die auslegende Vernunft sei auf Kommunikation angewiesen, die zur ›Ur-doxa‹ gehöre. Arntz rezipiert außerdem Emmanuel Levinas, Totalité et Infini (1961). Er spricht davon, dass die Voraffektivität und Unbedingtheit der Anerkennung des anderen rational anzuerkennen sei und durch bewusste Selbst-bindung an »inkarnierte« Subjekte in »der Kontingenz der Abschattungen«

(Arntz, 120) im Bewusstsein gehalten werde. Dass Arntz bereits seinerzeit die heute in der Theologie populäre Philosophie von Levinas rezipiert, verdient der Hervorhebung.

434 Natürliches Gesetz als göttliches Gesetz in der Moraltheologie, 174.

435 Vgl. Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Mainz 1964; Ludger Oeing-Hanhoff, Der Mensch: Natur und Geschichte? Die Grundla-gen und Kriterien sittlicher Normen im Licht der philosophischen Tradition, in:

Naturgesetz und christliche Ethik, 13–47.

436 Theonome Autonomie, 39. Böckle zitiert Kluxen, dessen Arbeit diese Differen-zierung so zum ersten Male ausführt.

437 Theonome Autonomie, 22.

438 Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, 234.

439 Vgl. den Begriff in Rückblick und Ausblick, 123. Das in der Scholastik gebräuch-liche ›synteresis‹ (synderesis) für ›Urgewissen‹ bezeichnet die Fähigkeit der menschlichen Vernunft zur Erkenntnis der ersten moralischen Prinzipien und Regeln im Unterschied zur Fähigkeit ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall,

8.1 Vier Vorstellungen von Naturrecht

sei zu tun und das Schlechte zu meiden, den Böckle den ›transzendentalen Sollensspruch‹ nennt, wird als das Grundprinzip der natürlichen Sittlichkeit als Vorbedingung der diskursiven Vernunft erörtert. Die Frage des

›Warum‹ der menschlichen Sittlichkeit wird von der Frage des diskursiv aufweisbaren ›Was‹ getrennt (S.Th. I–II q. 91,3 respondeo). Denn die thoma-nische Vorlage unterscheidet epistemologisch zwischen dem Status von Prin-zipien und Konklusionen. Folgesätze, also auch die Sätze des natürlichen Sittengesetzes, sind nach Thomas diskursiv erarbeitet. Ihre präskriptiven Aussagen gehören dem Bereich der Geschichtlichkeit an (ius gentium) und können Fehler aufweisen. Denn sie haben es nicht mit Notwendigem zu tun, sondern mit Einzelhaftem und Zufälligem und besitzen deshalb nicht jene unfehlbare Gewissheit, die den erwiesenen Folgesätzen der Wissenschaft eigen seien (S.Th. I–II q. 91,3 ad 3).

Kluxen gibt Böckle die systematische Unterscheidung an die Hand, um Ethik »innerweltlich«440 erfassen zu können, ohne den Autonomiebegriff Immanuel Kants bemühen zu müssen. Die scholastisch-metaphysische

›Gründung‹ der sittlichen Autonomie, so Kluxen, »gibt den Raum konkret-praktischen Verhaltens der freien und schöpferischen Bestimmung durch die Vernunft frei« (das ›Gegründete‹), »wobei die allgemeinen grundlegenden Prinzipien auch in der (hinsichtlich der Bestimmung im Einzelnen) freien Gestaltung des Handelns als maßgeblich und rahmengebend anwesend bleiben«441. Böckle verknüpft die Ergebnisse von Kluxen mit seinen eigenen Überlegungen zum sinnvollen Einsatz des theologischen Naturrechts. Das profane naturrechtliche Anliegen, Gesetze zur Konstitution der Gesellschaft zu entwickeln, werde, so Böckle, durch die Theologie des Aquinaten geschützt. Die Theologie diene dem Gemeinwohl. Wo die Rechtsphilosophie an die »Grenze des Naturrechts«442 rühre, erweist sich für Böckle die Theolo-gie als geistige Heimat des westlichen Freiheitsethos.