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TEIL II: E THIK ALS E THIK . T HEOLOGISCHE E THIK ALS T HEORIE

8. N ATUR UND N ATURRECHT

8.1 Vier Vorstellungen von Naturrecht

8.1.4 natura biologica physiologica

Böckles letzte Einführung in die Geschichte des Naturrechts hebt auf ein Modell ab, das sich mit der »Relevanz biologischer Gesetze zu einem ver-nunftgemäßen Leben«463 beschäftigt. Diesem Modell liegt die Motivation zugrunde, den ganzen, Geist und Leib vereinenden Menschen innerhalb einer göttlichen Schöpfungsordnung zu betrachten. In der Art, wie »das formale Prinzip ›secundum naturam‹ durch den Rückgriff auf die ›inclinationes naturales‹«464 ergänzt wird, zeugt dieses Modell von einem Weltbild, in dem

460 Rückblick und Ausblick, 135.

461 Rückblick und Ausblick, 135.

462 Böckle distanziert sich ausdrücklich von Versuchen, die Wesensnatur des Aktes metaphysisch zu bestimmen. Seines Erachtens speisen sich solche Versuche aus dem Motiv, den Menschen aus seiner sittlichen Aufgabe zu entlassen. Böckle nimmt Bezug auf Papst Pius XII., AAS 44 (1952), 784. Von einer ›inner-organischen Zweckordnung‹ zu sprechen, ging nach Böckle nicht »auf das Konto der wissenschaftlichen Moraltheologie«, sondern entsprang »dem Bemühen, das Ergebnis abstrakter Überlegungen dem ›Volk‹ einsichtig zu machen« (Rückblick und Ausblick, 139). Vgl. ähnlich in Theonome Rationalität als Prinzip der Normbegründung bei Thomas von Aquin und Gabriel Vazquez, 226. Dort heißt es, Ethik als Bewahrung der Natur des Aktes könne nur aus pastoralen, nicht aus philosophischen Erwägungen »versuchen, von der Gefährdung der Gesamt-ordnung (ex periculo communi) aus gegen jede Zulassung einer Ausnahme zu argumentieren«.

463 Theonome Rationalität als Prinzip der Normbegründung bei Thomas von Aquin und Gabriel Vazquez, 218.

464 Rückblick und Ausblick, 139; Natur als Norm in der Moraltheologie, 88f.

die »vorgegebene Wirklichkeit«465 bis in biologische Regelmäßigkeiten hin-ein Gottes Willen offen zu legen vermag. Böckle setzt diese normative Sicht auf die faktische Natur mit dem Neo-Thomismus des 20. Jahrhunderts gleich.466 Dort habe man im Rekurs auf die ›faktische‹ Natur des Menschen und seine Akte dessen biologisch-physiologische Natur überbewertet und ihr mehr Bedeutung zugesprochen als der Tatsache, dass die Person ihre Natur erst zu deuten habe. Die Relativität der Gültigkeit, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse besitzen, so sein Vorwurf, bleibt so strukturell unberücksichtigt.

Die geschaffene Welt wird divinisiert.467 Dass es sich bei den natürlichen Neigungen um ein Dispositionsfeld der praktischen Vernunft und das heißt um aufgegebene Bedingungen handelt, wird dabei unterschätzt.468

465 A. Vermeersch, De castitate et de vitiis contrariis, Rom 21921, n. 305 zitiert nach Theonome Rationalität als Prinzip der Normbegründung bei Thomas von Aquin und Gabriel Vazquez, 227. Böckle fasst die Vorstellung von Vermeersch, die wirkliche Ordnung sei metaphysisch zu denken, wie folgt zusammen: »Die Wesensordnung, die aus dem Wesen der Dinge bestimmt wird, [sei] als Gottes Ordnung selbst [zu sehen]. Diese Ordnung könne in ihrer Substanz oder auch nur in ihrer Integrität verletzt werden. Jede Verletzung, [...] die den Menschen und seine Naturanlage betrifft, [sei] als substantielle Verletzung objektiv immer schwere Sünde« (ebd.).

466 Nach Böckles Einschätzung setzte nicht Gabriel Vázquez und dessen Prinzip der inneren Widerspruchslosigkeit der Wesensnatur den Beginn der absoluten Auto-nomie des Naturrechts, sondern das neuscholastische Naturrecht des 20. Jahr-hunderts. Bei Vázquez bleibe Gott Garant der inneren Wesensnotwendigkeit der Dinge, während das neothomistische Naturrecht eine unabhängige transzendente Ordnung darstelle. Vgl. Theonome Rationalität als Prinzip der Normbegründung bei Thomas von Aquin und Gabriel Vazquez, 222; Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 41962, 97.

467 Theonome Rationalität als Prinzip der Normbegründung bei Thomas von Aquin und Gabriel Vazquez, 227: »Wir stehen hier bei der neothomistischen Theorie vom natürlichen Sittengesetz, wie sie die Verlautbarungen des kirchlichen Lehr-amtes in diesem Jahrhundert weitgehend bestimmt hat.« Prominentes Beispiel ist die Enzyklika ›Humanae Vitae‹ von Papst Paul VI., in der unter Verweis auf die

»Natur des Menschen« davon gesprochen wird, dass die Meinung »völlig irrig«

sei, »ein absichtlich unfruchtbar gemachter und damit in sich unsittlicher ehe-licher Akt könne durch die fruchtbaren ehelichen Akte des gesamtehelichen Lebens seine Rechtfertigung erhalten« (HV 14).

468 Vgl. Theonome Rationalität als Prinzip der Normbegründung bei Thomas von Aquin und Gabriel Vazquez, 218 unter Anführung einer These von J. Endres, Deutsche Thomas Ausgabe 20, Heidelberg 1943, 429.

8.1 Vier Vorstellungen von Naturrecht

Für Böckle handelt es sich hier deshalb »um eine Fehlentwicklung aus dem dritten Naturbegriff«469. Die Vorordnung der Vernunft, wie sie Thomas

469 Rückblick und Ausblick, 139, genauso Wilhelm Korff, Norm und Sittlichkeit, Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft = TTS 1, Mainz 1973, 62–

112; ders., Wege empirischer Argumentation, in: HCE 1 (1978), 83–125, 89.

Böckle eignet sich eine Deutung der thomanischen ›inclinationes naturales‹ an, die von Korff vorgeschlagen worden ist. Korff versteht die natürlichen Neigun-gen als der Beliebigkeit entzoNeigun-gen und als »empirische Basis aller Moralität«. Sie sind ein »elementares Dispositionsfeld menschlichen Seinkönnens« (84), das je-doch noch der normativen Bestimmung bedarf. Anderer Meinung ist Martin Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, Die personale Struktur des Natur-gesetzes bei Thomas von Aquin: Eine Auseinandersetzung mit autonomer und teleologischer Ethik, Innsbruck 1987. Rhonheimer expliziert seine Kritik an den Texten Franz Böckles. Er lässt die Arbeit Korffs, durch die Böckles eigene Posi-tion angeregt ist, außen vor. Im Kern wirft Rhonheimer, 111, Böckle vor, dass bei ihm jede willentliche Stellungnahme zum Leben prinzipiell auf der ›vor-sittlichen‹ Ebene bleibe. Rhonheimers Untersuchung der Bedeutung der ›lex naturalis‹ bei Thomas stellt sich die Frage, ob eine solche Vorordnung der Ver-nunft vor der Natur praktisch möglich sei. Realiter könne die natürliche Neigung nicht inhaltslos sein (vgl. 79–84). Indem die Vernunft eine ursprünglich nicht-geistige natürliche Neigung als Gut wahrnehme bzw. vergegenständliche, erschließe sich diese Neigung in einer materialen Form personal. Bei der Kritik Rhonheimers müssen drei Ebenen unterschieden werden. Begrifflich wird ihr durch die Fundamentalmoral zum Teil das Fundament entzogen, auch wenn Rhonheimer nicht zur Kenntnis nimmt, dass Böckle dort, im Unterschied zu den vorhergehenden Veröffentlichungen zur ›theonomen Autonomie‹, nicht mehr von ›vorsittlichen‹, sondern von sittlich relevanten Werten spricht, in dem Anliegen, ›Normativität‹ in einem ontologisch-existentiellen Sinn begrifflich besser berücksichtigen zu können. Auf philologischer Ebene muss nüchtern fest-gehalten werden, dass Böckle unverhältnismäßig weniger ausführlich als Rhonheimer über die ›inclinationes naturales‹ arbeitet; vgl. deshalb zu deren Interpretation und zum kritischen Gespräch mit Rhonheimers Thesen Honne-felder, Die Relevanz der Natur für die Ethik, bes. 178–180; Wolfgang Kluxen, Normative und entwerfende Vernunft: Das Ethos und die Tugend, in: L. Honne-felder (Hg.), Sittliche Lebensform und praktische Vernunft, Paderborn 1992, 105–123; Georg Wieland, Secundum naturam vivere. Über das Verhältnis von Natur und Sittlichkeit, in: B. Fraling (Hg.), Natur im ethischen Argument, Frei-burg i.B. 1990, 13–32, bes. 21–26. Auf der theologischen Ebene, und durch sie sind die ethischen Anliegen Böckles hauptsächlich gespeist, verkennt Rhonhei-mer, der sich ja um den Schutz christlicher Werte verdient machen will, sowohl Böckles Motive als auch die Stärken seines Konzepts. Böckles Autonomie-denken ist von dem ›justa-autonomia‹-Gedanken der Konzilsväter (vgl. GS 36) her zu interpretieren. Wie gerade die frühen Schriften zeigen, ist es genuin theo-logisch. Ihm geht es um eine theologische Haltung, die die Gesellschaft und Wissenschaft in ihrer Autonomie anerkennt und ihre Beständigkeit, Wahrheit, Gutheit und Ordnung hervorhebt. Es geht ihm, wie Mieth, Art. Autonomie, in:

vertritt, werde durch die Annahme einer doppelten Partizipation – der Ver-nunftnatur am göttlichen Gesetz und der Leibnatur am biologischen – aufge-hoben.

Bei Böckle ist nicht die Natur normativ, sondern das Verständnis, das sich die Vernunft über sie macht.470 Dies gibt ihm die Freiheit, einen biologisch-naturalen Sachverhalt nach der Bedeutsamkeit des Zusammenhangs zu bestimmen. Um im menschlichen Dasein sinnvoll zu handeln, könne es z.B.

notwendig sein, dass der Arzt zeitweise gegen die Natur agieren müsse um für die Natur, nämlich für die Heilung zu sein.471 Für Böckle besitzt die leib-liche Struktur ›an sich‹ keine ethische Normkraft.472

NHthG 1 (1991), 139–148, 141 es ausdrückt, um »eine Befreiung zum Dialog«.

In der Tat versteht Böckle diese Befreiung nicht in der metaphysischen Feststel-lung von Gütern verwirklicht, wie Rhonheimers Thesen zur Natur als Grundlage von Moral beinhalten, sondern umgekehrt in der Offenheit des Wertediskurses;

vgl. in gleichem Sinne die Rezension von Josef Römelt in: ZKTh 2 (1989), 211–216, 216; vgl. Merks, Theologische Grundlegung der sittlichen Autonomie, 108 zur thomanischen Ethik als einer »Ethik des Könnens«.

470 Erster »unmittelbarer Maßstab für die Sittlichkeit«, Oeing-Hanhoff, Der Mensch:

Natur oder Geschichte?, 35, ist die »humane Existenz«; vgl. Rückblick und Aus-blick, 140.

471 Vgl. Kritische Überlegungen zum Naturbegriff, 1.

472 Auch in Böckles Texten werden biologische Informationen gebraucht, wenn es darum geht, Position gegen eine biologisch argumentierende ethische Beurtei-lung zu beziehen. So unterbaut er seine Meinung, der einzelne Geschlechtsakt dürfe nicht als abstrakter Akt beurteilt werden wie folgt: In der weiblichen Natur selbst gäbe es Zeiten der Unfruchtbarkeit, weshalb man »lediglich von einem hormonalen Zyklus, der in seiner Gänze total auf Fruchtbarkeit hin angelegt«

(Natur als Norm in der Moraltheologie, 88) sei sprechen sollte. Böckle entwirft jedoch mit biologischen Argumenten keine Ethik. Die Missverstände, die s.E.

aus dem heterogenen Gebrauch des Naturbegriffs resultieren, führen dazu, dass er 1987, in seiner letzten Veröffentlichung, die sich speziell mit dem Naturrecht beschäftigt, vgl. Der umstrittene Naturbegriff, den Begriff ›Natur‹ ausdrücklich vermeidet.

9. Die Möglichkeit der Letztbegründung von