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Böckles Texte und die Diversität der personalistischen Entwürfe

4. S ITTLICHKEIT IM S PIEGEL DER P ERSON

4.1 Böckles Texte und die Diversität der personalistischen Entwürfe

aber auch schon davor, den ökumenischen Diskurs fachlich berücksichtigt.

Mit »Friede und moderner Krieg«196 wird ein Vortrag angeführt, mit dem Böckle thematisch über die Konzilsbeschlüsse hinausblickt. Den Geist des Konzils reflektiert auch der bereits zitierte Artikel »Worin besteht das unter-scheidend Christliche einer christlichen Ethik?«197.

4.1 Böckles Texte und die Diversität der personalistischen Entwürfe Der ›Personalismus‹ ist eine geistesgeschichtlich breite Strömung der Mo-derne, unter der seit dem 19. Jahrhundert sehr heterogene Entwürfe zusam-menfasst werden.198 Sie beginnt mit den religionsphilosophischen Entwürfen Friedrich Schleiermachers, Franz von Baaders und Søren Kierkegaards. Nach dem Ersten Weltkrieg werden mit dem Attribut »personalistisch« die Arbei-ten der »Dialogiker« bezeichnet – hier wären die ArbeiArbei-ten von Martin Buber, Eberhard Grisebach, Franz Rosenzweig oder Gabriel Marcel zu nennen.199 Die davon abweichende dialektische Wort-Gottes-Theologie rekurriert eben-falls auf das personale Ich-Du-Es-Gefüge, indem es die Ungleichartigkeit zwischen dem Ich und dem Du Gottes zu einem zentralen Thema macht.

Für Böckle ist der Personalismus der »wirkkräftige Faktor der Erneue-rung«200 der kirchlichen Moral in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Personalistische Kategorien finden in den Kommentaren des Zweiten Vatika-nischen Konzils Verwendung. Rückblickend haben die personalistischen Philosophien großen Anteil an der Erneuerung der Moraltheologie und regen die sog. ›Existentialethik‹ an. Das gesellschaftliche Wohlwollen, das vielen personalistischen Konzepten entgegengebracht wird, entspringt der allgemei-nen Ansicht, die religiöse und soziale Erziehung habe stärker die individuelle Entwicklung zu berücksichtigen.

Böckles Interesse am Personalismus folgt genau diesem Motiv. Böckle sieht die Möglichkeit und die Notwendigkeit, mit dem ›Person‹-Begriff die Moralität und Sozialität in der menschlichen Selbstwerdung fassen zu können. »In der Theologie der Gegenwart«, gibt Böckle in einem medizin-ethischen Artikel Auskunft, »zeigt sich eine auffallende Parallelentwicklung

196 Friede und moderner Krieg

197 Worin besteht das unterscheidend Christliche einer christlichen Ethik?

198 Der Personalismus steht in dem Ruf, eklektisch zu sein, wie Gerhard Gloege, Der theologische Personalismus als dogmatisches Problem. Versuch einer Frage-stellung, in: KuD 1 (1955), 23–41 seinerzeit formuliert. Dass das Thema trotz-dem für die Theologie unumgehbar ist, beweist die Fachzeitschrift ›Kerygma und Dogma‹ mit der Herausgabe eines ganzen Heftes zu diesem Thema bereits im Jahr ihrer Gründung.

199 Vgl. zum Begriff und seiner Heterogenität M. Theunissen, HWP 7 (1989), 338–

341.

200 Bestrebungen in der Moraltheologie, 425.

zur Medizin, es handelt sich um die Entdeckung oder Wiederentdeckung des Subjektes, der Person. Die Moraltheologie hat sich von einer reinen Aktmoral oder gar einer Sündenlehre abgewandt, sie will keine Symptombehandlung mehr treiben, sie entwickelt vielmehr wieder eine Lehre vom Menschen, von seiner gottgewollten Gestalt und Selbstverwirklichung.«201 In Kompensation der kasuistischen Notwendigkeit, das »konkrete Seiende« als den »bloße[n]

Fall des allgemeinen Sittlichen«202 zu reflektieren, unternimmt es Böckle, die theologische Aussage, dass jeder Mensch in der ihm aufgetragenen Weise dem individuellen Ruf Gottes zu antworten habe, personalistisch zu überden-ken.203

Aus Böckles transzendentaltheologischem Personverständnis resultiert eine Existentialethik, die nicht zu verwechseln ist mit der seinerzeit paradig-matisch durch Eberhard Grisebach verkörperten aktualistischen ›Situations-ethik‹. Grisebach führt die Ereignishaftigkeit der personalen Begegnung konsequent in einer situativen Ethik aus. Seine kritische Ethik »Gegen-wart«204 beginnt bei der elementaren Frage, »ob das ethische Feld überhaupt innerhalb unseres Wesens aufgewiesen werden kann?«205 Ihr folgt eine skep-tische Abhandlung darüber, warum der Mensch angesichts seiner Gebunden-heit an die Kontingenz der politischen, kulturellen und technischen Sphäre gar nicht zu einer konsistenten Allgemeindarstellung sittlichen Handelns gelangen könne. Konsequent bestimmt Grisebach deshalb den Augenblick der moralischen Herausforderung zur größten Erfahrungseinheit der Ethik.

Nur das vergängliche, gegenwärtige ›Jetzt‹ der Begegnung, so Grisebach, präge die Sittlichkeit. ›Wesensethik‹, die versucht, zu universalen Konven-tionen darüber zu kommen, was gutes und was schlechtes Verhalten aus-macht, lehnt er als Vergegenständlichung von Sittlichkeit ab.206 Grisebachs

201 Stellung der Gesundheit in der katholischen Morallehre, 140.

202 Karl Rahner, Über die Frage einer formalen Existentialethik, in: RahnerS II (71964), 227–246, 236 (Erstveröffentlichung 1955).

203 Vgl. Existentialethik, 1301.

204 Eberhard Grisebach, Gegenwart, Eine kritische Ethik, Halle 1928.

205 Grisebach, 18. Grisebachs Arbeit ist in ihrem Kern eine überaus konsequente Anwendung des pädagogischen ›Korrelationsprinzips‹, das einen wechselseitigen Informationsprozess zwischen Lehrenden und Lernenden verlangt; sie oder er sollen sich in der Auswahl der Unterrichtsinhalte affizierbar zeigen für die Fra-gen und Themen der Schüler/innen. Grisebach will in der Anwendung des Korre-lationsprinzips einem philosophischen Zirkelbeweis entgehen: denn »der Aus-gangspunkt einer Philosophie [gewinnt] nicht dadurch an Zuverlässigkeit, wenn man immer wieder zu ihr zurückkehrt. [...] Man kommt in Wirklichkeit nicht von der Stelle, wenn man in sich selbst beharrt« (454).

206 Norm und Prinzip werden von Grisebach nicht unterschieden, da beides denkeri-sche Synthesen darstellen. Die Antinomie der Wahrheit aber, die z.B. die »genia-lisch(en)« Entwürfe Hegels und Schellings, des Idealismus und des Realismus,

4.1 Böckles Texte und die Diversität der personalistischen Entwürfe

Feststellung, Prinzipienethik sei als Produkt eines erinnernden, nicht erleben-den Ichs notwendig imperative Sollensbegründung und deshalb ungenügend, löst eine lebhafte Debatte zwischen der katholischen und evangelischen Ethik über die Möglichkeit allgemeiner ethischer Aussagen aus. In seinen Texten nimmt Böckle das Anliegen Grisebachs auf, die Unmittelbarkeit der morali-schen Erfahrung nachhaltiger in der Morallehre zu berücksichtigen.207 Anders als Grisebach versteht er die philosophische Bedeutung der Situation als Teil einer existenzethischen Präzisierung der thomanischen reditio ompleta-Philosophie.208

Obwohl die existentialethischen Überlegungen, die Böckle anstellt, auf dem Boden des katholisch gebräuchlichen Substanzverständnisses wachsen, formt sich seine theologische Sicht in der Lektüre der so genannten ›Dialek-tiker‹ und evangelischen Theologen Karl Barth und Emil Brunner.209 Gemäß

der transzendentalen Methode und der phänomenologischen möglich macht, »er-schüttert ein für allemal den Glauben an die Zuständigkeit der theoretischen und spekulativen Erkenntnis und an die Verwirklichungsmöglichkeit ihrer wissen-schaftlichen Ergebnisse und Normen in der Gegenwart«; Grisebach, 281f.

Böckle teilt Grisebachs Konklusionen nicht, wiewohl seine Kritik an der Natur-rechtsentwicklung – vgl. Das Naturrecht im Disput – mit der gleichen skep-tischen Hermeneutik die Wirkungsgeschichte philosophischer Ideen problemati-siert.

207 Es spricht für die theologische Offenheit Böckles, dass er sich undogmatisch mit den Inhalten der Situationsethik beschäftigt, vgl. seinen Artikel Existentialethik.

Zum Zeitpunkt des Erscheinens (1959) des Artikels war die Situationsethik innerhalb der katholischen Kirche bereits verboten, vgl. AAS 44 [1952], 413ff.

208 In Ver. 1,9 führt Thomas aus, dass die geistigen Substanzen in einer vollständi-gen Umkehr zum eivollständi-genen Wesen zurückkehren (redeunt ad suam essentiam redi-tione completa). Die Fähigkeit des Intellekts, das sinnlich Wahrgenommene zu beurteilen und damit »den Erkennenden erst zum Subjekt, d.h. zu einem zu ma-chen, der bei sich selber und nicht beim andern ist«, diese Möglichkeit ist für Thomas »die metaphysisch entscheidenste Auszeichnung des Intellekts gegen-über der Sinnlichkeit«, so Karl Rahner, Geist in Welt, München 1957, 130. Rah-ner teilt das jüngere thomistische Anliegen, Subjektwerdung in der Auseinan-dersetzung mit der Sinnenwelt situativ und unter Einfluss zeitgenössischer Seinstheorien darzustellen. In seiner Arbeit geht er darauf ein, dass für Thomas das Wissen vom Dasein Gottes die Eröffnung des Seins voraussetze.

209 Vgl. zur dialektischen Theologie im 20. Jahrhundert HDThG (21998), 237–251.

Böckles Interesse an der Erkenntniskritik Barths spiegelt Böckles eigene Sub-stanzkritik. Wie Barth wehrt sich Böckle gegen eine Analogia-entis-Philosophie, die Gott und Mensch »im suarezianischen Sinn« – so Karl-Heinz Menke, Analo-gia Fidei, in: LThK 1, (31993), 574–577, 576 – unter einen univoken Seinsbegriff zusammenfasst. Seine Wertschätzung Barths und Brunners drückt sich m.E. dar-in aus, dass er beiden Autoren die Fähigkeit nachsagt, zwischen Sedar-in und sittli-chem Sein theologisch zu unterschieden. So möchte ich Böckles Ausführungen in Das Verhältnis von Norm und Situation, 64, interpretieren, beide Autoren

der Theorie der dialektischen Theologie wohnt jeder Form der ›natürlichen‹

Prinzipienethik die Gefahr inne, das interpersonale Geschehen des Glaubens und die Tatsache, dass letztlich nur Gottes Gerechtigkeit Recht spricht, zu leugnen. Ethik wird infolgedessen unter die Pflicht gestellt, ohne »Objekti-vierung des Du durch das Ich; der Ableitung des Ich aus dem Du; und der Aufhebung von Ich und Du in das ›Zwischen‹ der Beziehung«210 zu arbeiten.

Im Zusammenhang mit diesem Anspruch erhält die Gegenwart der sittlichen Handlung im Grenzfall Vorrang vor der ethischen Norm. Karl Barths strenge Erkenntniskritik, die unter Berufung auf den unbedingten Willen Gottes jede analoge Urteilsfähigkeit zwischen Gott und Mensch verneint, ist verantwort-lich für Böckles Behutsamkeit, die übernatürverantwort-liche Berufung des Menschen zur Gotteserkenntnis philosophisch darzustellen. Böckles Hinweis, dass sich jedes konstruierte Naturrecht seines Charakters als »theologische Hilfskon-struktion«211 bewusst sein müsse, ist im Zusammenhang seiner Barthrezepti-on zu sehen.

Der Personalismus, wie er von Böckle katholischerseits vorgefunden wird, kennzeichnet mit ›personal‹ die eigenständige geheimnisvolle Existenzweise des Individuums. Der katholische Theologe Romano Guardini hat diese personale Sichtweise pädagogisch fruchtbar machen können.212 Böckles stark praktisch-philosophische Interessen am Personbegriff nehmen keinen Bezug auf die Phänomenologie Schelers, die Guardini inspiriert, sondern orientieren sich an der jesuitischen Arbeitsweise der ›nouvelle théologie‹. Böckle

nähmen zwar allgemeine Normen an, wüssten aber darum, dass »diesen Normen nur eine richtungweisende Funktion zukommt, die niemals gesetzlich missver-standen werden darf«. Eher verweisend spricht Böckle über Friedrich Gogarten.

Nach einer zeitgenössischen Einschätzung von Gloege, 29 ist Gogarten der ein-zige (evangelische) Theologe, »der zu einem eigenständig durchformten persona-len Denken gelangt« sei. Der spekulative Gesamtentwurf Gogartens, der das

›Miteinander‹, wie Hunold, Ethik im Bannkreis der Sozialontologie: eine theolo-gisch-moralanthropologische Kritik des Personalismus, Bern 1974, 64, analy-siert, zur einzigen »konstitutiven Vollzugsweise menschlichen Personseins«

macht, könnte dem damaligen Böckle in seiner Eigenständigkeit und in seiner Verneinung jeglichen funktional-sachhaften Umgangs von Menschen zu fern stehen.

210 Karl-Heinz Menke, Personalismus III. Systematisch-theologisch, in: LThK 8, (31999), 57–59, 58.

211 Bestrebungen in der Moraltheologie, 443.

212 Vgl. Romano Guardini, Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom Menschen, Würzburg 1939. Böckle kommt in Bestrebungen in der Moraltheolo-gie, 428 auf Guardini zu sprechen. Er nennt Guardinis Verdienste explizit, nimmt aber inhaltlich kaum Bezug auf den Autor Guardini, bei dem die philosophische Anthropologie Max Schelers zum Tragen kommt. Zum Personverständnis Guar-dinis vgl. Bruno Kurth, Das ethische Denken Romano GuarGuar-dinis, Gehorsam ge-genüber Gott und Freiheit des Geistes, Paderborn 1998, 139–183.