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TEIL II: E THIK ALS E THIK . T HEOLOGISCHE E THIK ALS T HEORIE

9.1 Das ›Faktum‹ der Vernunft

Auf der Suche nach philosophischen Arbeiten, die sich dem unbewältigt hinterlassenen Theorie-Praxis-Problem des traditionellen Naturrechts wid-men, kommt Böckle mit Konzepten in Kontakt, welche universale Verbind-lichkeit unter dem Subjektivitätsparadigma der Aufklärung thematisieren.

Ihre Optionen interessieren ihn, die menschliche Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft vor einem »willkürlichen Dezisionismus oder einer Proliferation in einen uferlosen Systempluralismus«489 zu bewahren. Vor allem in Auseinandersetzung mit dem Kantkommentar Maximilian Forsch-ners490 und der auf der kantianischen Rationalität gründenden Arbeit von Karl-Otto Apel gewinnt Böckles ethisches Konzept seine für die Periode

487 Exemplarische Werke, wie sie der Diskussion zugrundeliegen, sind Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968; Karl-Otto Apel, Transforma-tionen der Philosophie II, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frank-furt 1973; Hans Albert, Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprach-spiele und sein hermeutischer Gott, Hamburg 1975. Kritik an Albert auch von Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, 1967, 251ff.

488 Maximilian Forschner, Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei I.

Kant, München 1974, 256.

489 Theonomie und Autonomie der Vernunft, 71.

490 Die Einbeziehung der Kantstudie von Forschner verändert Böckles Kantrezep-tion hin zum Positiven. 1972 nimmt Böckle verschiedentlich Bezug auf Oswald Schwemmer, Philosophie der Praxis, Frankfurt am Main 1971. Diese Studie unternimmt den Versuch, in der Tradition der kantischen Vernunftkritik die operationalen Bedingungen des rationalen Diskurses zu rekonstruieren. Böckle benutzt den Entwurf Schwemmers als Negativfolie, um die Grenzen des kriti-schen Rationalismus aufzuzeigen. 1973 verweist Böckle erstmals auf praktisch-philosophische Studien der Aufsatzsammlung von Riedel, die auf der kantiani-schen Rationalitätsgrundlage argumentieren. Wirklich in seine Argumentation integriert Böckle kantianische Gedankengänge erst seit der Forschner-Studie aus dem Jahre 1974, vgl. z.B. Theonomie und Autonomie der Vernunft, 70 im Ver-hältnis zu Moraltheologie und philosophische Ethik, 260.

9.1 Das ›Faktum‹ der Vernunft

nach 1965 charakteristische Gestalt. Böckle lässt die kantianische Trennung der praktischen von der reinen Vernunft mit der Annahme einer auf »Befrei-ung«491 angelegten Erkenntnis der durch Christus neu Geschaffenen korres-pondieren. Er erkennt im ›Faktum der Vernunft‹492 den kreatürlich begrenz-ten, aber begnadeten Status des Menschen, wie er ihn selbst im Theorem der theonomen Autonomie beschreibt. Die von Forschner und Apel unternom-menen Untersuchungen zum Paradox der praktischen Vernunft rezipierend, nimmt die Arbeit Böckles Abstand von einem undifferenzierten Vernunftbe-griff, den seine frühen Veröffentlichungen bisweilen verwendeten. Außerdem werden die theologisch-anthropologischen Pointen seines Konzepts noch unterstrichen.

Für Kant ist die Ordnung ›im praktischen Verstande‹ – die sittliche Ord-nung – aufgrund ihrer Bindung an den Willen eine FreiheitsordOrd-nung. Ihre Existenz beweist sich im praktischen Gesetz von Gut und Böse, welches das intelligible Subjekt als Vermögen erkennt, »sich unabhängig von der Nöti-gung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen«493. Ihre Kausalität steht unabhängig von der Kausalität »nach der Natur«494. Während also aprio-ri Naturpaprio-rinzipien deduzierbar sind, und dies ist für Böckle der entscheidende Ertrag der kantianischen Lehre gegenüber dem Neuthomismus, gilt dies nicht für die moralisch-praktischen Prinzipien der Freiheitsordnung.495

Das Paradox ist nun, dass praktische Vernunft sich nur in Freiheit verste-hen kann, obschon sie die eigene Freiheit theoretisch nicht zu beweisen ver-mag. Sie setzt ein Prinzip a priori voraus, über das sie »wider alle Grund-regeln des philosophischen Verfahrens« entschieden hat, dass es gut sei.496 Maximilian Forschner schreibt in einem Beitrag zum Problem der Autonomie bei Kant: »Menschliche Vernunft ist eine Sehnsucht nach Vernunft, ohne sie

491 Glaube und Handeln, 54 unter Bezugnahme auf Gal 5, 1: »Zur Freiheit hat Christus uns freigemacht.«

492 Vgl. Dieter Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken (FS H.-G. Gadamer), hg. v. D. Henrich/ W. Schulz u.a., Tübingen 1960, 77–115.

493 KrV B562 A 534 (Weischedel 4, 489).

494 Kant, KrV B 560/ A 532 (Weischedel 4,488) unterscheidet »in Ansehung dessen, was geschieht« zweierlei Kausalität: »nach der Natur, oder aus Freiheit«.

495 Die Sittenlehre Kants kennt nur das negative Gesetz der bloßen Engegensetzung;

vgl. KU B XI, XII A XI, XII (Weischedel 8, 242): Der Freiheitsbegriff führt das negative Prinzip der bloßen Entgegensetzung schon in seinem Begriffe bei sich:

entweder etwas ist frei oder eben nicht frei.

496 Zum Paradoxon der Methode ‚in einer Kritik der praktischen Vernunft‹, KpV A 110 (Weischedel, 6, 180): »daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem es dem Anschein nach so gar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern nur nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse«.

wirklich zu sein; sie ist ein Faktum und auf Faktizität verwiesen, obwohl allem vernünftigen Sein ex definitione alle Faktizität und Angewiesenheit auf Anderes widerspricht. Der einzige Garant, daß sie das, was sie theoretisch entwirft und fordert, auch in Wirklichkeit der Möglichkeit nach ist, ist das Bewußtsein des unbedingten Gesetzes, daß sie vernünftig handeln soll [das Faktum der Vernunft].«497

Die denkerische Grenze, die die kantianische Vernunftlehre annimmt, ist in prominentem Maße bei der Begründung ethischer Aussagen durch den Philosophen Karl-Otto Apel thematisiert. Er wird der bevorzugte Gesprächs-partner Franz Böckles, wenn es darum geht, die Bedingungen der Moderne praktisch-philosophisch zu berücksichtigen.498 Unter kritischer Aufnahme des philosophischen Pragmatismus von C.S. Peirce strebt Apel eine Transforma-tion«499 der Transzendentalphilosophie an, ein Anliegen, das Böckle als Kri-tiker der metaphysischen Naturrechtslehre teilt. In einer transzendental-pragmatischen Reflexion auf die apriori in jedem Diskurs unterstellten rationalen Prinzipien weist Apel ein auf »diskursive Einlösbarkeit« zielendes Sollen des Menschen nach. Dieses bestimmt Apel zum Grundmuster der Vernunft. Da das von jedem Diskurs unterstellte Sollen nach Apel »nicht den Charakter eines Humeschen ›Faktums‹, sondern den Charakter des Kanti-schen ›Faktums der Vernunft‹«500 besitze, überschreitet es die deskriptive Dimension und rechtfertigt Moral als das Eigentliche der Kommunikation.501 Böckle erkennt in diesem »Immer-schon-angenommen-Haben«502 der idealen Sprechsituation eine selbstreflexive Möglichkeit, den thomanisch angenom-menen Geltungsanspruch der diskursiven Rationalität zu begründen. Mit Hilfe der engagierten Sozialphilosophie Apels, die gegen die rigorose Aus-gliederung der Morallehre aus der Philosophie ist, unterstreicht Böckle den Sozialbezug seines eigenen theologischen Modells weltlicher Verantwortung.

497 Forschner, 256.

498 Böckle und Apel lehren beide in Bonn und stehen in schriftlichem Kontakt.

Böckle hatte Einsicht in das Manuskript »Das Apriori der Kommunikations-gemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, auf dem seine Apelrezeption basiert, noch vor dessen Publikation, vgl. Theonomie und Autonomie der Ver-nunft, 63 Fn. 1.

499 Vgl. die Veröffentlichung »Transformation der Philosophie«, 2 Bde, Frankfurt a.M. 1973.

500 Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, 417.

501 Die Behauptung, Ethik sei philosophisch nicht erörterbar, erörtert Böckle, Wege analytischer Argumentation, 68f., anhand der bekannten Thesen von George E.

Moore und Ludwig Wittgenstein. Moore, so Böckle, behauptet, ›gut‹ sei eine intuitive Kategorie, die sich in keiner verallgemeinerbaren Weise empirisch nachweisen lasse. Wittgenstein spreche in dessen Sinne von der Sinnlosigkeit jeder Wertaussage.

502 Wege analytischer Argumentation, 80.

9.1 Das ›Faktum‹ der Vernunft

Die für die Ethik konstitutiven Voraussetzungen, die Apel annimmt, nämlich diskursive Rationalität und die Anerkennung ›der anderen‹ als Kommunika-tionspartner, postuliert Böckle analog für die christliche Ethik. Auch in der christlichen Schöpfungsvorstellung sei der Mensch, so Böckle, ein relatio-nales Wesen, zur freien Antwort und also zum kommunikativen Umgang mit Sittlichkeit befähigt und aufgerufen.

Das Thema ›Faktum der Vernunft‹ hilft Böckle, die theologische Grund-legung seines Konzepts wissenschaftstheoretisch zu veranschaulichen. Die kantianisch erkannte Grenze des Erkenntnisvermögens, das Paradox, »dass ein bedingtes Subjekt durch sich selbst oder durch andere bedingte Subjekte unbedingt«503 beansprucht wird, bleibe auch bei Thomas im philosophischen Sinne bestehen. Böckle kann dies dank der Herausstellung von Kluxen, der Thomismus ›als Ganzes‹ sei eine »‹Synthese‹ ganz eigentümlicher Struktur, in welcher der durchgehend maßgebliche Zusammenhang der theologischen Ordnung Elemente philosophischer Herkunft nach sich zieht, die doch ihren Bezug auf die eigene Sinnebene und somit Eigenrecht und Eigenbedeutung behalten«504, behaupten. Wenngleich Böckle darauf Wert legt, die Ethik au-tonom betrachten zu können, erlaubt er sich durch die thomistische Rationali-tätsbegründung einen Rückzug auf Gott. Böckle unternimmt keine metaphy-sische Begründung der Möglichkeit der normativen Geltungseinsicht, sondern erläutert die ultimative Frage, warum etwas zu sollen sei, theolo-gisch.505 Er interpretiert die Aussagen Forschners und Apels zum ›Faktum‹

der Vernunft »komplementär«506, indem er es das Geschenk des Kreators nennt. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre hatte das Verhältnis von Kreator und Kreatur einmal in Böckles Veröffentlichungen das Recht des Menschen auf sittliche Eigenverantwortlichkeit präsentiert.507 Nun, zu Beginn der 1970er Jahre, taucht der Terminus im Kontext der sprachanalytischen Infra-gestellung moralischer Aussagen erneut auf. Der unbedingte Sollensanspruch zeigt für Böckle, was das Christentum die Abhängigkeit der Kreatur nennt,

»die Abhängigkeit eines personal freien Selbst«, das »in dieser seiner Freiheit total beansprucht ist, über sich in Freiheit zu verfügen«508. Böckle vergleicht den philosophischen Gedankengang mit einem christlichen Inhalt. Erst in

503 Wege analytischer Argumentation, 83.

504 Kluxen, XX.

505 Vgl. Theonomie und Autonomie der Vernunft, 71; vgl. Zur anthropologischen und ethischen Grundlegung gesellschaftspolitischer Entscheidungen, 193.

506 Moraltheologie und philosophische Ethik, 267; vgl. Wege analytischer Argumen-tation, 82.

507 Vgl. Kapitel 5.2.b. Damals ging es um die Frage, inwieweit der Mensch gerecht sein könne vor Gott. Der Begriff ›Kreatürlichkeit‹ versuchte die totale Beanspru-chung des Geschöpfes und seine sittliche Freiheit auszudrücken.

508 Der neuzeitliche Autonomieanspruch, Ein Beitrag zur Begriffsklärung, in:

Estratto da Studia Moralia XV, Rom 1977, 57–77, 75.

seinem Hauptwerk ›Fundamentalmoral‹ und der dazugehörigen Vorstudie

›Glaube und Handeln‹ erzielt Böckle auch methodischen Gewinn aus der theologischen Botschaft von der freimachenden Freiheit für die Theorie der transzendentalen Freiheit.