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13. G RUNDWERTE IN S TAAT UND G ESELLSCHAFT

13.1 Christlich orientierte Politik

In Anbetracht der Entscheidung des Staates, den Schwangerschaftsab-bruch nach §218 StGb unter bestimmten Auflagen straffrei zu stellen, vertre-ten die deutschen Bischöfe 1976 die Meinung, der Schutz des Lebens sei eine staatliche Pflicht gegenüber dem Gemeinwohl, von dem sich der Staat nicht entbinden könne.732 Die deutschen Bischöfe nehmen einen Mindeststandard an ethischer Homogenität an, der staatlich zu gewährleisten sei. Der Vorgang der Aufhebung der Sanktion erschüttere »das Fundament unseres Rechtsstaa-tes; er zerstöre das sittliche Bewußtsein und mache die Gesellschaft un-menschlicher«733. Die breite Diskussion, die das Schreiben der Bischöfe aus-löst, veranlasst Böckle, seine Vorstellung christlich verantworteter Politik zu definieren. Für Böckle sind Christen und Christinnen dazu angehalten, in

»entschiedener Mitverantwortung«734 politisch einzuklagen, was sie für die Grundlage des freiheitlichen Umgangs und der Humanität halten. Ihre Einflussnahme vollzieht sich nach Böckle in Anerkennung der Autonomie des Politischen. Christen artikulieren ihre Gewissensanliegen innerhalb des institutionalisierten Diskurses.

In Böckles politischen Texten finden wir das christliche ›Proprium‹ im Menschenbild ausgedeutet. »Es ist für das politische Handeln nicht

729 Hans Maier, Zur Diskussion über Grundwerte, in: Gorschenek, 172–190, 174.

730 Helmut Schmidt, Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft, in: Gorschenek, 13–

28.

731 Franz Böckle in der Diskussion im Anschluss an den Vortrag von Schmidt, Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft, in: Gorschenek, 28–51, 31.

732 Vgl. das Wort der deutschen Bischöfe ›Gesellschaftliche Grundwerte und menschliches Glück‹.

733 Diskussion, in: Gorschenek, 31.

734 Christ und Politik, 120.

13.1 Christlich orientierte Politik

gültig«, so Böckle, »ob ich mit Thomas Hobbes im Menschen nur des Menschen Wolf sehe, oder ob ich bereit bin, in ihm auch den Bruder zu erkennen«. Bei Böckle stiftet die christliche Anthropologie eine besondere, eine ›andere‹ Kommunikabilität. Wer nach der Wolfsgesinnung lebt, sucht Sicherheit in der Übermacht, wer aber ›brüderlich‹ gesinnt ist, »setzt alles ein«735, um im Gespräch zu bleiben. Dieser anthropologischen Eigenart ange-sichtig, lassen sich Gestalt und Ziele einer christlich orientierten Politik nach Böckle wie folgt schlussfolgern:

13.1.1 Demokratie und Menschenwürde

Christen und Christinnen unterstützen einen Staat, der in der Anerkennung der Würde der Person das Fundament hat. Die Würde der Person ist von ihrer Freiheit nicht zu trennen, weshalb Christen akzeptieren, dass die grundsätz-liche Bejahung der Freiheit aller – in einem religiös pluralen Land – die welt-anschauliche Neutralität des Staates bedeuten muss. Da die Freiheit der Person in den Funktionssystemen der Gesellschaft zu realisieren ist, sieht Böckle es als Aufgabe namentlich der Kirchen, aus ihren praktischen Arbeitsfeldern heraus die Mechanismen freizulegen, in denen die persönliche Entscheidungsfreiheit aufgrund größerer institutioneller Belange strukturell eingeschränkt wird.736 Der tiefere Grund seiner Argumentation ist der Folgende: Wo die personale Verantwortung nicht ernst genommen wird, geschieht nicht nur subjektives Unrecht, sondern es wird eine Beliebigkeit suggeriert, die das Verhältnis der Einzelnen zur Gemeinschaft aus der Balan-ce bringt und die Grundbedingung des Rechts – eine Ordnung in Freiheit zu sein – bedroht. Für Böckle ist es nicht nur ein Akt der realen, sondern auch der transzendentalen Freiheit, sich auf gemeinsame Gesetze und Normen zu einigen. Diesem zentralen Punkt seines Staatsverständnisses sieht er ungenü-gend in der Idee entsprochen, der Mensch verpflichte sich aus der Notwen-digkeit der Überwindung der Willkür an ein allgemeines Gesetz. »Sittliche Pflicht entsteht nicht aus einem Konglomerat von Notwendigkeit und Zu-fall«737. In Ausdeutung der philosophischen Annahme, dass nur im Entschluß zu anderer Freiheit sich Freiheit selbst ihrer vollen Form nach durchsetzt,738 sieht er in der Person, die sich auf ein Gegenüber angewiesen versteht, den vorbildhaften Christen.

735 Wie christlich kann Politik sein, 116.

736 Vgl. Grundhaltungen – Grundwerte, 171f.

737 Grundhaltungen – Grundwerte, 180.

738 Vgl. Krings, 232 in: Fundamentalmoral, 82.

13.1.2 Grundwertekonsens als Voraussetzung

Weltanschauliche Neutralität bedeutet nicht Wertneutralität. »Die Trias Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität prägt das Programm aller großen Parteien.

.. [D]ie jeweilige Ausdifferenzierung ist dabei unterschiedlich. Sie ergibt sich notwendig aus dem weltanschaulichen Referenzsystem der einzelnen Partei-en.«739 Aber ein Begriff von Grundwerten ist allgemein anerkannt und evalu-ierbar in den konkreten Maßnahmen der Parteien. Für Böckle besteht ein Minimum an gemeinsamen Standards, das inhaltlich unbeliebig ist, weil es Werteinsichten verdichtet, deren Evidenz für die Menschheit de facto unhin-tergehbar ist. Es umfasst die Personwürde und die Grundwerte, die sie aus-drücken. Dieses Minimum an Werten garantiert für Böckle Sinngehalte, die

»nur um den Preis der Selbstzerstörung geopfert werden«740 können. Da es für Böckle einen konkreten Bezug gibt zwischen dem Eingriff in das Rechts-fundament und dem zugrundeliegenden WerteRechts-fundament, weil Grundrechte immer Grundwerte implizieren, sieht er es als christliche Pflicht an, Sorge um das Gemeinwohl auch gegenüber staatlichen Einsätzen zu tragen. In ih-rem Bemühen um die Begründung von Werten anerkennen Kirchen ihren politischen Auftrag, über die konstitutive Bedeutung der Freiheit als einer transzendentalen Freiheit aufzuklären, damit das Recht nicht »zur bloßen Platzhalterin von Willkürräumen«741 degeneriert. Dass die Überlegung, welche Werte »sich dem reflektierenden, menschlichen Bewußtsein darstel-len als unabdingbar für die zwischenmenschliche Ordnung«742 der ständigen Prüfung bedarf, zeigen Böckles Veröffentlichungen.

739 Christ und Politik, 121.

740 Güter und Werte, 9. Vgl. im gleichen Sinne den Politikwissenschaftler Hans Buchheim, der bezüglich der Änderung des §218 StGb zu bedenken gibt, dass Werte bestünden, auf denen der Staat als Gesamt beruht und die über das parla-mentarische Regelsystem hinaus mit besonderer Wachheit zu schützen seien.

Buchheim reagiert auf die Feststellung von Bundeskanzler Schmidt, in:

Gorschenek, 43, es gehöre zur inneren Verfassung des Verfassungsgerichts, mit einer einzigen Stimme Mehrheit entscheiden zu können, was »möglicherweise [...] von unerhörter Bedeutung« sei und es gebe auch klare »Spielregeln« im Bundestag, welche Materien mit einer Stimme Mehrheit entschieden werden dürften oder nicht. Darauf antwortet Buchheim, ebd., 46, damit werde ein ent-scheidender Unterschied unterschlagen, nämlich, »daß bei §218 abgestimmt [werde] über Orientierung des Volkes oder in bezug auf Orientierung des Volkes, während es in einem Senat des Bundesverfassungsgerichtes um die Funktion einer gewissen Norm« gehe.

741 Zur anthropologischen und ethischen Grundlegung gesellschaftspolitischer Entscheidungen, 194.

742 Diskussion in: Gorschenek, 31. Böckle, vgl. Grundhaltungen – Grundwerte, 175, führt die die Gerechtigkeit bestimmenden Güter an, Faktoren, die die Solidarität konkret ausformen und Freiheit zur umfassenderen Freiheit werden lassen. Er

13.1 Christlich orientierte Politik

13.1.3 Das Humanum als Prinzip gemeinsamen politischen Handelns Humanität ist in der abendländischen Geschichte fest mit dem Christen-tum verknüpft, sie ist jedoch kein »christliches Reservat«743. Sie ist allgemein kommunizierbar. Die Kommunikabilität des christlichen Humanitätsethos darf nicht zum Irrtum verleiten, das Evangelium auf Politik und »gesell-schaftliche Funktionalität«744 zu reduzieren. Politische Programme können zwar im Glauben verantwortet werden, ihn aber nie adäquat ausdrücken.

Offenbarung »enthält kein Rezept für politisches Wirken«745. Will man in angemessener Weise die christliche Wahrheit über den Menschen in die poli-tische Entscheidungsbildung einbringen, muss man nach Böckle die Eigenge-setzlichkeit des politischen Handelns beachten. Christliche Politik darf um ihrer selbst willen nicht »von der Übung rechtsstaatlicher Vernunft und quali-fizierter Sachentscheidung«746 absehen. Methodische Sauberkeit im normati-ven Begründungsverfahren ist für Böckle immer auch ein Wissen um die eigene Identität.747 »Verantwortung für das allgemeine Wertbewusstsein«

trage eine christliche Ethik, die fähig bleibt, nach den Kriterien des kommu-nikativen Diskurses »Sachverhalt- und Sinnforschung«748 zu betreiben.

13.1.4 Recht und Moral

Für Böckle ist wichtig festzuhalten, dass es nicht Kompromisslosigkeit ist, die authentische christliche Politik ausmacht.749 Zweifellos gebe es Dinge, die unter keinen Umständen hinzunehmen seien: »Etwa die Freigabe des ungebo-renen Lebens, die Manipulation an menschlichen Embryos, aber auch die Abschiebung Alter, Kranker und Behinderter, die Verfolgung

nimmt inhaltlich Bezug auf sog. ›Grundwerte‹, wie sie das Wort der deutschen Bischöfe ›Gesellschaftliche Grundwerte und menschliches Glück‹, 157ff. auf-zählt. Unter dem Sammelbegriff ›Grundwerte‹ versammelt das DBK-Papier per-sonale, geistige wie materielle Werte, die es als soziale Tugenden unverzichtbar für die Nation hält: die Würde des Menschen, die Integrität seines Leibes und Lebens, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität/ Subsidiarität (Sicherung der Ge-meinschaft/ des Einzelnen), daneben die institutionellen Größen Familie, Schule und Eigentum.

743 Christ und Politik, 122.

744 Christ und Politik, 122.

745 Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Kirche – Staat – Gesellschaft. Arbeitspapiere der Sachkommissionen. Offizielle Gesamt-ausgabe II, Freiburg i.B., Basel u.a. 1977, 187–240, 191.

746 Christ und Politik, 122.

747 Vgl. u. Kapitel 14; vgl. Sittengesetz und Strafgesetz in katholischer Sicht, 24.

748 Vgl. Schwangerschaftsabbruch als individuelles und gesellschaftliches Problem, Einleitung 11.

749 Vgl. Christ und Politik, 124.

kender, den Rassismus. Das sagt aber noch nichts aus über die politischen Wege, die hier zum Ziel führen.«750 Böckles Art, gesellschaftspolitische Ent-wicklungen ethisch zu kommentieren, besitzt eine Antithetik, die Böckle als Struktur christlicher Ethik behauptet. Weder sollte die ethische Frage losge-löst von sachtechnischen Gesichtspunkten entschieden, noch der »kritische Impuls des Evangeliums«751 aus der rechtlichen bzw. politischen Entschei-dung herausgehalten werden. Die christliche Perspektive sucht nicht die Si-cherheit der Spezialisierung, sondern das interdisziplinäre Gespräch, auch wenn sie dieses Gespräch niemals wird dominieren können. Aber die »große Gefahr ethischer Diskussionen« besteht nach Böckle in der »Isolierung eines einzelnen Gesichtspunktes«752 und die christliche Ethik, die sich nach Böckle als Komplement der rechtlichen oder wissenschaftlichen Logik versteht, versucht deshalb diese zu ergänzen. Nachfolgend soll die Gegenüberstellung der Rechtsordnung und der moralischen Ordnung im Werk Böckles Klarheit über seine Vorstellung bringen, wie die modellhaft verstandene Antithetik der jesuanischen Basileia-Forderungen zu sozialethischer Geltung kommen kann.