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5.2 Die Position Böckles

zum Besitz der menschlichen Natur, in den ethischen Deduktionismus.293 Unter Wahrnehmung der Kritik Barths an Brunner differenziert Böckle des-halb die thomanische Vorlage wie folgt. Da »im Zusammenhang der gesam-ten paulinischen Rechtfertigungslehre niemals ein Tun des Gugesam-ten aus eigener Einsicht und Kraft gemeint sein«294 kann, ist auch das Naturgesetz so zu denken, dass in ihm die Gnade der erlösenden Kraft Christi wirksam ist.

Böckle weist darauf hin, dass es im thomistischen System – anders als es das interkonfessionelle Stereotyp behauptet – keine ›natürliche‹ Erkenntnis im engeren Sinne gebe. Gemäß Thomas stehe natürliche Erkenntnis keines-wegs »im Gegensatz zum Gnadenlicht des Glaubens«, sondern »in innerer analoger Einheit mit dem Gnadengesetz«295. Böckle interpretiert Thomas in

»größerer Nähe«296 zur Theologie des Paulus und Augustinus, als es die Re-zeption der aristotelischen Philosophie vermuten lässt. So kommt Böckle zu der Annahme, dem übernatürlich modifizierten innerlichen Gesetz entspreche nicht ein faktischer Sollensspruch, sondern die tätige Erkenntnis »in innerer Beziehung zum Glauben als erkennender Tateinheit mit Gott«297. Diese Les-art ist ohne die Rezeption BLes-arths nicht denkbar.

Böckles Rede vom Gesetz, die eigentlich eine Rede zur moralischen Befä-higung des Menschen ist, besitzt eine optimistische Tönung, wie sie auch in der Reformpädagogik seiner Zeit anzutreffen ist. Die »Erlösung durch die Gnade Christi«298 wird analog zu der Vorstellung des Erkenntnisvollzugs des

293 Barth wirft Brunner einen »Thomismus« vor (Barth-Brunner-Briefwechsel, 249).

Im System des Thomas kann das personal Seiende das Gute für sich und für an-dere selbständig ergreifen (vgl. dazu S.Th. I–II, q. 91,2). Es besitzt eine eigene Wahrheit, weil eine metaphysische Möglichkeit dazu (die Seele des Menschen als Ziel allen Erkenntnisvermögens) angenommen wird (vgl. De Ver I 2). Vgl.

zum transzendentalphilosophischen Horizont der Zeit Karl Rahner, Geist in Welt, München 21957.

294 Gebot und Ordnungen, 52.

295 Gebot und Ordnungen, 56.

296 Gebot und Ordnungen, 56. Vgl. ähnlich Gottlieb Söhngen, Gesetz und Evangeli-um, Frankfurt a.M. 1957.

297 Gebot und Ordnungen, 56.

298 Gebot und Ordnungen, 57 mit Zitat von Karl Rahner, Würde und Freiheit des Menschen, in: RahnerS II (1955), 247–277, 256. Die Lehre vom christlichen Geistgesetz in der Theologie des Thomas zeigt einen Unterschied zur aristoteli-schen Verhältnisbestimmung von Materie und Form. Bei Thomas unterliegt das Sein des Menschen zwei Einschränkungen: Seiendes beim Menschen heißt Natur des Menschen. Und es bedeutet konkretes Seiendes. Beides zusammen unter-stellt, dass das Prinzip des Daseins nicht der Substanzcharakter ist (keine Form), sondern ein Daseinsakt (actus essendi), der sich zur Form verhält wie der Akt zur Potenz (vgl. Kurt Flasch, Thomas von Aquin, Stuttgart 1985, 288f.). In dieser Konkretisierung des Seins besitzt der Mensch – so die thomistische Analogie-lehre – Anteil am Sein überhaupt und ist deshalb wahr.

Individuums als Personwerden dargestellt. Religiöse und existentialethische Motive gehen ineinander über. ›Liebe‹ ist hier zugleich Wirk- und Erkennt-nisprinzip. Dass Böckle dabei dem gegenüber allgemeinen Wertfest-stellungen kritischen Theologen Barth soviel Gewicht zuerkennt, steht im Zusammenhang mit dem Bild, das Hans Urs von Balthasar von Karl Barth entworfen hat. Böckles Texte zeigen eine deutliche Prägung durch den »Leit-faden«, den von Balthasar durch das »vielschichtig[e] und perspekti-visch[e]«299 Werk Barths gezogen hat, und der eine Entwicklung von der

›Dialektik‹ zur ›Vollgestalt der Analogie‹ markiert. Gleich dem ›nachdialek-tischen‹ Barth, der, wie von Balthasar meint, moderater als in den ersten Römerbriefkommentaren formuliere, versteht Böckle den Menschen als einen

»Freund Gottes«300, der trotz seiner kreatürlichen Beschränkung befähigt ist, der Entscheidung Gottes ähnlich zu werden.301 Barths »ausgesprochen au-gustinischer Freiheitsbegriff«, der primär in der Intimität der göttlichen Frei-heit seinen Raum findet, gibt einer KonkretFrei-heit des Religiösen Ausdruck, die auch in Böckles existentialethischer Theologie begegnet. Für Böckle ist Frei-heit keine »›neutrale Drehscheibe‹ eines ›liberum arbitrium‹, sondern [...] das Stehen innerhalb des geheimnisvollen Raumes, in welchem Selbstbewegung und Gehorsam, Gegenübersein und Nachfolge sich gegenseitig bedingen und erklären«302. Aber anders als Barth schließt Böckle die Möglichkeit, die krea-türliche ›Mitwirkung‹, die auch vom späteren Barth anerkannt wird, mit Hilfe existentialer Kennzeichen näher zu bestimmen, nicht grundsätzlich aus.

Böckle behauptet zwei Seiten des menschlichen Seins, zum einen die theore-tisch uneinholbare (der Mensch als ›Individuum ineffabile‹), zum anderen die allgemeine ideenhafte. Nach Böckle besteht also innerhalb der Existential-ethik die Möglichkeit der Formalisierung. Es sei die »Aufgabe der Moral-theologie, die Grenzen aufzuzeigen, innerhalb derer sich der Mensch in sei-ner Liebe verwirklichen muß«303. Barth hat diese Problemstellung der

299 Hans Urs von Balthasar, Karl Barth, Köln 1951, 67.

300 Nach von Balthasar, Karl Barth, 140, kommt Barths analoge Sichtweise des Menschen in Band 7 der KD zur Vollgestalt. Dort äußere Barth einen »Lob-gesang« auf die Möglichkeit, in der Gnade, im Bitten mit Gott zu herrschen; das sog. »Mitwirken mit Gottes Vorsehung«, vgl. KD VII, 52.

301 Vgl. von Balthasar, Karl Barth, 117. Von Balthasar verweist in diesem Zusam-menhang auf KD VI, 161.

302 Von Balthasar, Karl Barth, 140. Vgl. Trutz Rendtorff, Der ethische Sinn der Dogmatik. Zur Reformulierung des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik bei Karl Barth, in: Ders., Die Realisierung der Freiheit, 119–134. Für Barth, so Rendtorff, ist »die Konstitution des Subjekts als zentrales Thema der Ethik zuerst Thema der Dogmatik« (124).

303 Das Personverständnis in der Moraltheologie, 187.

5.2 Die Position Böckles

speziellen Moral nicht entfaltet.304 Massive nominalistische Bedenken halten ihn davon ab, ethische Schutzregeln zu bestimmen. Im Falle des Schwanger-schaftsabbruchs z.B. heißt dies konkret, dass sich Barth, für den der Lebens-schutz nach eigenem Bekunden ein göttliches Gebot ist, einer ethischen Er-wägung enthält.305

5.2.2 Die Wiederherstellung der Kreatur

Böckle stellt seine Ausführungen darüber, dass der Mensch geschaffen sei

›gemäß dem Abbild‹ und ›um seine Verantwortung wissend‹,306 unter die anthropologische Feststellung, der Mensch sei ›wiederhergestellt‹307 in

»rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit« (Eph 4,24). Das paulinische Bild formt das Rückgrat von Böckles Konzept. Es symbolisiert für ihn die in der Quaestio 106 der thomanischen Summa angesprochene prinzipielle Befä-higung zur sittlichen Selbständigkeit. Gleichzeitig lässt es in seiner christolo-gisch-soteriologischen Prägung die menschliche Existenz als ein ›Sein-in-Nachfolge‹ erscheinen. Textstellen, in denen Böckle Bezug auf die Patristik und deren Verständnis der ›Wiederherstellung‹ nimmt, helfen, die soteriolo-gische Qualität dieser Konnotation von ›Sein‹ zu erfassen. Sie erhellen die

304 »Explizite Ethik« habe bei Barth mit dem Problem »eines zweiten, anderen Subjektes neben oder außer Gott zu tun« (Rendtorff, Der ethische Sinn der Dog-matik, 124).

305 Vgl. KD III/4, Schutz des Lebens, Zollikon/ Zürich 1953, 453–538, 489, wo Barth seine Ausführungen zum Schwangerschaftsabbruch mit dem Satz zusam-menfasst, dass »das menschliche Wort nie das letzte Wort sein« dürfe. In Barths (katholisch so gesehenen) nominalistisch-voluntaristischen Zeichnung ist Gott der Regent, der die willentliche Tötung menschlichen Lebens nicht ausschließt.

»Von woher sollte die absolute These begründet werden, dass Gott niemals und unter keinen Umständen etwas anderes als die Erhaltung eines keimenden Men-schenlebens wollen und von Mutter, Vater, Arzt und den anderen Beteiligten fordern könnte? Könnte er, dessen Wille es ja sein kann, dieses keimende Men-schenleben auch auf andere Weise sterben zu lassen, es nicht einmal auch in der Weise sterben lassen wollen, dass diese anderen Menschen ihm nun eben dabei mit ihrem Tun dienen müssen?« (479f.). Hingegen nimmt Böckle, Das Person-verständnis in der Moraltheologie, 187 an, dass dem Menschen »das Verfü-gungsrecht über Leib und Leben nicht zusteht«.

306 Vgl. Gebot und Ordnungen, 49, 52.

307 Der Terminus wird von Böckle gebraucht, vgl. Gebot und Ordnungen, 49–51, um die Aussage von Kol 3,10 (par Eph 4,24), die Erkenntnis sei nach dem Eben-bild des Schöpfers erneuert (ανανεοω), zusammenzufassen. Es ist bezeichnend, dass von Balthasar die gleiche positive Beschreibung von Kreatürlichkeit im Werk von Karl Barth ausmacht, vgl. ders., Karl Barth, 374. Böckle handelt schon früh, bereits in seiner ersten Veröffentlichung Fruchtbarkeit in den Paulusbrie-fen, 79 Fn 212, von der Soteriologie der ›Wiederherstellung‹ und der diesbezüg-lichen Barthschen Darstellung durch von Balthasar.

Dignität, die Böckle mit den Begriffen ›Wiederherstellung‹ und ›Kreatürlich-keit‹ verbindet. Die in der Patristik übliche heilsgeschichtlich-allegorische Lesart des Alten Testamentes (der Fall Adams) im Lichte des Neuen (die Erneuerung in Christus) habe, so Böckle, stets die gleiche Figur wiederholt:

»In Christus ist die ursprüngliche Natur in ihrer Vollkommenheit und Gerechtigkeit wieder sichtbar geworden.« In der patristischen Theologie gelte im Lichte des ›Christusereignisses‹ das Naturgesetz als Recht des Ursprungs wiedereingesetzt, um nun, »im Reiche Gottes wieder vollkommen befolgt«308 zu werden. Die Tatsache, dass Böckle das mosaische Gesetz »i-dentisch«309 versteht mit dem Liebesgebot und dem Naturrecht, indem er ein in Jesus Christus gegebenes gemeinsames Wirkprinzip annimmt, das an Pfingsten »in die Herzen«310 geschrieben wurde, bleibt unter dem Vorbehalt, dass die anzunehmende »Heilswirklichkeit« des Menschen immer konkret zugeteilte »Heilsmöglichkeit«311 ist. In Böckles Veröffentlichungen nach 1965, in denen die Naturrechtsdebatte an neuer Intensität gewinnt, aber nicht mehr unter der Vorordnung des Evangeliums besprochen wird, bleibt Karl Barth präsent. Er steht für die Mahnung, dass die Anwendung des Analogie-begriffs soteriologisch gründlich zu überlegen sei.