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Der Beginn ist nicht einfach für Franz Böckle. Als er 1952 »vom Bischof aus einer äußeren Notsituation heraus aufgefordert [wird], den Lehrstuhl für Moraltheologie in Chur zu übernehmen«86, spricht die europäische

79 Ich nenne exemplarisch: Um die geschlechtliche Erziehung der Jugend. Zur Dis-kussion um die Keuschheit, in: Schweiz. Kirchenzeitung 125 (1957), 49–51; Die sittliche Bewertung sterilisierender Medikamente, in: Herder Korrespondenz 16 (1962), 470–473; Verantwortete Elternschaft aus katholischer Sicht, in: Handbuch der Elternbildung, hg. v. A. Hardegger, Einsiedeln 1966, 472–492.

80 Vgl. z.B. den Diskussionsbeitrag zu dem Aufsatz von H.J. Gamm über Schwan-gerschaftsunterbrechung, in: ZEE 6 (1962), 115f.

81 Die Artikel entsprechen mehr oder weniger wörtlich der Vortragsreihe Gesetz und Gewissen. Sie heißen Gesetz und Evangelium, Gebot und Ordnungen, Das Ver-hältnis von Norm und Situation, Sünder und Sünde. Vgl. auch den Artikel Grund-probleme evangelischer Ethik in katholischer Sicht, in: Catholica 15 (1961), 1–24.

82 Vgl. Stellung der Gesundheit in der katholischen Morallehre, in: Arzt und Christ 8 (1962), 140–147.

83 Zur Theologie des Bußsakramentes, in: Materialmappe Fastenopfer der Schweizer Katholiken, Chur 1963, 1–12; vgl. den selben Titel in: Kölner Pastoralblatt 15 (1963) 369–374.

84 Worin besteht das unterscheidend Christliche einer christlichen Ethik? in: Civitas 23 (1967), 225–237; vgl. Ja zum Menschen, Bausteine einer Konkreten Moral, aus dem Nachlass hg. v. G. Höver, München 1995, 9–23.

85 Gesetz und Evangelium, 19.

86 Verantwortlich leben – menschenwürdig sterben, 16.

2.2 Die historischen Bezüge

theologie keine disziplineigene Sprache. Der redliche Umgang mit der Beichtpflicht der Gläubigen ist nach wie vor erkennbares Movens der meisten theologischen ›Sittenlehren‹87. Ihre aktorientierte Ausrichtung ist es mit schuld, dass dem im Neuen Testament ausgebildeten Böckle seine Er-nennung zum »Schock sondergleichen«88 wird. Denn trotz ihrer kasuistischen Genauigkeit89 verstand die damalige Moraltheologie wenig von den mensch-lichen Nöten, erinnert sich Böckle vierzig Jahre später aus Anlass der Verlei-hung der Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn am 1. Juni 1991. Die aus der scholastischen Theologie stammende Aufgliede-rung der menschlichen Tat in ihre Bestandteile ›Objekt‹, ›Umstände‹ und

›Zweck‹ brachte in der Praxis nicht immer die sittliche Klarheit, die sich der junge Promovent in Rom als Krankenhausseelsorger gewünscht hätte. Theo-logisch hilflos steht er dort den Ärzten gegenüber. »Was ich da zu sagen hatte, waren keine Antworten auf ihre Fragen und schon gar keine aus christ-lichem Geist erwachsenen Entscheidungshilfen für die ihnen anvertrauten Patienten.«90

Dies ist die Situation, in der Franz Böckle in der Priesterausbildung tätig wird. Die Erklärungsbedürftigkeit der meisten universalkirchlich gebräuchli-chen Lehrbücher seines neuen Faches macht die Arbeit mit dem thomisti-schen Erbe zu einer Übung in kritischer Relektüre. In den Anfangsjahren folgt Franz Böckle keinem spezifisichen moraltheologischen System, sondern stellt dogmatisch-systematische Fragen an sein Fach. Die ersten Veröffentli-chungen ziehen Bilanz und sondern die Prinzipien aus, derer die Moral-theologie nicht bedarf, um die Studenten zu seelsorgerischen und morali-schen Entscheidungsträgern auszubilden. Was sind die Fragen der Theologie heute, was die Bestrebungen in der Moraltheologie?91 Was bedeuten Forma-lismus in der Ethik, Glaube und Integrität, Kasuistik und Naturrecht?92 Böckles Anfragen sind so grundlegend, wie das lexikalische Genre, in dem

87 Vgl. zur Grundgestalt der moraltheologischen Handbücher Josef Georg Ziegler, Die Moraltheologie in: Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert III, hg. v. H.

Vorgrimler/ R. Vander Gucht, Freiburg 1970, 316–360, 324f. Vgl. zum damaligen Problem eines im Juridismus erstarrten Moralismus und dem Einfluss dieses Um-standes auf die Arbeit Böckles Franz Furger, Zur Begründung eines christlichen Ethos, 12, 22.

88 Das Gespräch mit Franz Böckle, in: Verantwortlich leben – menschenwürdig sterben, 15–30, 16.

89 Zur Komplexität des Begriffes ›Kasuistik‹ vgl. die zeitgenössischen Ausführungen bei Gustav Ermecke, Zur Diskussion über aktuelle Moralprobleme in der Öffent-lichkeit, in: Moral zwischen Anspruch und Verantwortung (FS Schöllgen), 154–

174, 164–167, bes. 166.

90 Bilanz meines ethischen Bemühens, 93f.

91 Vgl. den Titel seiner ersten Edition Fragen der Theologie heute von 1957.

92 Vgl. die jeweiligen Beiträge in der 2. Auflage des LThK, Band 4–7.

sie gedruckt werden. In ihnen manifestieren sich die theologischen und philo-sophischen Strömungen, die in Teil I dieser Arbeit zu Wort kommen und zeigt sich der Reformgeist des Zweiten Vatikanischen Konzils avant la lettre.

Böckle nimmt verschiedene Impulse auf, ohne sich alles gleichermaßen zu eigen zu machen.

Zuerst die biblische Grundlage. ›Nachfolge‹ avanciert zu einem Schlag-wort der Theologie überhaupt in den Anfangsjahren Böckles.93 Nach einer Epoche der »dünnen Theologie« (Rahner) der Neuscholastik wird die Bibel nicht als ›Stoffquelle der Moraltheologie‹ (fons theologiae moralis), sondern als Zeugnis der Selbstoffenbarung Gottes begriffen. Mit dem Geist der Litur-gischen Bewegung94 gewinnt der Glaubensakt in seinem raumzeitlichen Ausmaß fundamentalontologische und ekklesiologische Bedeutung. Nur liebend wisse der Mensch, »was Gott ist«95.

Die katholische Moraltheorie nimmt den Faden auf, indem sie den Status des Glaubenssubjekts personphilosophisch-theologisch bestimmt. Bei Böckle heißt dies im Ergebnis, dass die Person als ein subsistierendes Sein (Abbild) im Sein Christi (Έν Χριστω) definiert wird.96 Gegen die unlautere Instrumen-talisierung biblischer Passagen zu moralischen Zwecken vertritt Böckle die Abhängigkeit der Gesetzesnorm vom personalen Glaubenserlebnis.97 Seine Paulusrezeption im Horizont der ›Person‹ hat in seiner Arbeit ein Erstarken der Gnadentheologie zur Folge. Denn die Gnade, wie es der Apostel schreibe, und nicht der Buchstabe drängt den Menschen zur Fruchtbarkeit im Werk.

Das sog. ›Gesetz Christi‹ (Gal 6,2) stellt nach Meinung Böckles keine neue Gesetzesmaterie dar, sondern eine anthropologische Änderung, die sich in einer Moral des Geschöpfes zu entfalten hat. Erste und eigentliche Quelle von Moralität ist das individuelle Glaubenssubjekt. Dies ist auszuführen. Das folgende Kapitel gibt konkrete Beispiele an, in denen Böckles Moraltheolo-gie die ›Wahrheit im Sein‹ nicht unmittelbar in die Semantik einer

93 Vgl. Josef Fuchs SJ, Die Liebe als Aufbauprinzip der Moraltheologie, in: Scholas-tik XXIX (1954), 79–87. Zur Problematisierung der ›Gottesherrschaft‹ als Moral-prinzip im Kontext autonomer christlicher Moral vgl. Wolfgang Göbel, Okzidenta-le Zeit. Die Subjektgeltung des Menschen im Praktischen nach der Entfaltungs-logik unserer Geschichte = Studien zur Theologischen Ethik 70, Freiburg 1996.

94 Vgl. z.B. die Mysterientheologie Odo Casels.

95 Hans Urs von Balthasar, Merkmale des Christlichen, BalthasarS 1 (1960) = Ver-bum Caro, 172–194, 189.

96 In seinem durch Christus versöhnten Abbilddasein hat der Mensch den Sünder-status im Lutherschen Sinne verloren. Der ›Person‹-Begriff ist nicht von negativer Qualität. Vgl. zu der konzeptionellen Differenz, die mit der konfessionell unter-schiedlichen Anthropologie einhergeht, Friede und moderner Krieg, in: Concilium 2 (1966), 381–387.

97 Vgl. Glaubenserlebnis und Gesetzesnorm, in: J. Rudin/ J. Rast, Religion und Er-lebnis, Olten 1963, 77–98.

2.2 Die historischen Bezüge

schen Argumentation überführt, sondern in Kategorien des menschlichen Miteinanders, die für eine spirituelle Sicht der Dinge offen ist.98

1961 veröffentlicht Böckle in der Zeitschrift für Kontroverstheologie

»Catholica« einen Artikel über die »Grundprobleme evangelischer Ethik in katholischer Sicht«99. Im Gegensatz zu dem, was der Titel suggeriert, beginnt er seine Ausführungen mit einer Selbstbezichtigung. »Die katholische Moral-kasuistik hinterlässt beim Andersgläubigen leicht den Eindruck, die persön-liche Entscheidung des Katholiken bewege sich weitgehend überhaupt nur in der Anwendung fertiger Rezepte auf sein sittliches Handeln. Damit werde aber gerade das Wagnis des Glaubens aufgehoben und in sublimer Weise erneut der Weg des Gesetzes beschritten. Die äußere Gestalt der katholischen Moralverkündigung begräbt tatsächlich mehr ökumenische Hoffnung als wir gewöhnlich meinen.«100 Die Annahme Böckles, Sittlichkeit sei ein genuiner Bekenntnisakt der unbedingten Nachfolge und keine Mimesis,101 besitzt ö-kumenisches Potential.

Böckle steht in Opposition zur antiprotestantischen Gesetzesbetonung;

seine moderate Haltung ist von Gustav Söhngens ökumenisch sensibler Dis-kussion der christlichen Rechtfertigungsproblematik geformt.102 In seinen bemerkenswert ausführlichen Rezensionen evangelischer Autoren zum Leit-gedanken ›Gesetz und Evangelium‹ wird das ökumenische Gespräch in seinen personphilosophischen Unterschieden deutlich.103 Auch die Themen der speziellen Moral behandelt er personalistisch.104

98 Abhängig von der Textgattung können v.a. Abhandlungen Böckles aus seiner Churer Zeit Sittlichkeit spirituell beschreiben. Die in späteren Beurteilungen be-gegnende Trennung zwischen einer privaten und einer öffentlichen Sphäre ist in diesen Texten schwächer ausgebildet als in den Texten Böckles aus einer späteren Phase.

99 Grundprobleme evangelischer Ethik in katholischer Sicht, Catholica 15 (1961), 1–

24.

100 Grundprobleme evangelischer Ethik in katholischer Sicht, 1.

101 Vgl. Hans Urs von Balthasar, der die »evangelische Nachfolge Christi«

(άκολουθέω) von der »griechischen Nachahmung Gottes« (µίµησις θεοũ) absetzt (Ders., Merkmale des Christlichen, 177).

102 Vgl. Gustav Söhngen, Gesetz und Evangelium, München 1957. Böckle hat bei Söhngen gelernt.

103 Vgl. Gesetz und Gewissen. Grundfragen theologischer Ethik in ökumenischer Sicht = Begegnung 9, Luzern/ Stuttgart 1964. Diese Aufsatzsammlung umfasst vier Vorträge Böckles, die folgende Titel tragen: Gesetz und Evangelium; Gebot und Ordnungen; Das Verhältnis von Norm und Sittlichkeit; Sünder und Sünde.

104 Vgl. Die Stellung der Gesundheit in der katholischen Morallehre, in: Arzt und Christ 8 (1962), 140–147; Zur Theologie des Bußsakramentes, in: Materialmap-pe Fastenopfer der Schweizer Katholiken, Chur 1963, 1–12.

Böckles Betonung der normativen Kraft des Glaubenserlebnisses berührt die pastorale katholische Praxis seiner Zeit.105 Die vermittelnde Bedeutung von Wort, Schrift und Tradition wird transzendentaltheologisch hinterfragt.

Böckle nimmt die Existenz eines personalen Erkennens (Intuition) an,106 das sich nicht vergegenständlichen lässt. Er schreibt zur »Toleranz« und dazu, dass niemand die objektive Wahrheit habe.107 Wo die Wahrheit, die Christus ist, den Christenmenschen »auf dem Weg hält von Erkenntnis zu Erkennt-nis«108, ende das Einspruchsrecht der Kirche dort, wo die Integrität der Personwürde in Gefahr steht. Böckles Artikel »Maximale und minimale Verpflichtung in der Kirche«109 sowie seine liberale Meinung zur sog. Misch-ehe110 zeigen, wie eine moderne theologische Anthropologie unter Bezug-nahme biblischer wie personalistischer Kategorien die normative Praxis des Lehramts verändern müsste.

Wie sehr die Art der Überlegungen an den philosophischen Diskurs der Zeit gebunden ist, zeigt eine kleine Literaturrecherche. Das Stichwort ›Exis-tentialethik‹111 – in der zweiten Auflage (1959) des Lexikons für Theologie und Kirche von Böckle geschrieben – wurde in der dritten Auflage (1995) nicht mehr berücksichtigt. In der Zeit jedoch, die im Folgenden zu behandeln ist, wird die Existentialethik, die eine ›Unhintergehbarkeit‹ des Individuums (vgl. S.Th. I 29) impliziert, als Komplement zur sog. ›Essenzethik‹ aufge-baut. Die Existenz- oder Existentialethik ist eine Individualethik im weiten

105 Vgl. Christliches Gebetsleben, Katholisches Pfarrblatt für Zürich und Umgebung 11, 12, 14, 17, 18, 35, 38, 40, März–November 1959.

106 Vgl. Bestrebungen in der Moraltheologie, 444.

107 Vgl. Toleranz als ökumenisches Problem, in: O. Cullmann/ O. Karrer, Toleranz als ökumenisches Problem = Einheit in Christus 2, Zürich 1964, 56–79.

108 Toleranz als ökumenisches Problem, 79.

109 Maximale und minimale Verpflichtung in der Kirche (1965); vgl. Zur Krise der Autorität, in: Theologisches Jahrbuch, hg. V. A. Dänhardt, Leipzig 1968, 239–

249.

110 Die Mischehen in katholischer Sicht, in: Concilium 1 (1965), 318–321; Das Pro-blem der Mischehe, in: Th. Filthaut (Hg.), Umkehr und Erneuerung. Kirche nach dem Konzil, Mainz 1966, 214–234; in: Lutherische Monatshefte 5 (1966), 340–

346; Schweizer Rundschau 65 (1966), 459–469.

111 Die Existentialethik ist Kind ihrer Zeit. Sie ist nach katholischem Verständnis ermöglicht durch die Gnadenexistenz des Menschen, wie Karl Rahner sie in seiner Theorie vom »übernatürlichen Existential« beschrieben hat. Der Mensch, weil dauerndes Subjekt des Heilswillens Gottes, lebe in einer Situation, die real-ontologisch immer mehr ist als Natur. Diese besondere menschliche Seinsweise bedürfe der existentiellen – nicht verallgemeinerbaren – Verwirklichung. Die ethische Theorie vom Wesen (essentia) des Menschen müsse diesem Gedanken Rechnung tragen.

2.2 Die historischen Bezüge

transzendentaltheologischen Sinne, deren Bedeutung sich nicht als Gegen-über der Sozialethik erschöpft.112

112 Vgl. dazu Karl Rahner, Über die Frage einer formalen Existentialethik, in: Rah-nerS II (1955), 227–246. Pointe der Existenzethik ist die Frage nach der trans-zendentalen Möglichkeit der kreatürlichen Aneignung des Guten.