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Der ontologische Aussagegehalt des praktischen Diskurses

TEIL II: E THIK ALS E THIK . T HEOLOGISCHE E THIK ALS T HEORIE

9.2 Der ontologische Aussagegehalt des praktischen Diskurses

seinem Hauptwerk ›Fundamentalmoral‹ und der dazugehörigen Vorstudie

›Glaube und Handeln‹ erzielt Böckle auch methodischen Gewinn aus der theologischen Botschaft von der freimachenden Freiheit für die Theorie der transzendentalen Freiheit.

9.2 Der ontologische Aussagegehalt des praktischen Diskurses

des neuen ›planetarischen‹511 Maßstabs der Wissenschaft bedarf es neuer ethischer Anstrengungen. An universalisierbaren Verfahren interessiert, die sittliche Verbindlichkeiten zu begründen, untersucht Böckle namhafte analy-tische Arbeiten seiner Zeit, die sich der Aufgabe stellen, auf humane Art und Weise mit den Möglichkeiten und der Logik des technischen Fortschritts umzugehen. Böckle steht nicht unabhängig von seiner Epoche, sondern teilt eine sozialethische und gesellschaftspolitische Geisteshaltung der 1970er Jahre.

Böckle wählt angelsächsische und deutsche Moraltheoretiker aus, um die analytischen Möglichkeiten dieser Entwürfe zu diskutieren. Für das ›Hand-buch der christlichen Ethik‹ unterscheidet er zur Übersicht zwischen sprach-analytischen (»der metaethische Diskurs«) und normsprach-analytischen Ansätzen (»der ethische Diskurs«512). In seinem Artikel über diese beiden ›Wege analy-tischer Argumentation‹ wird das Interesse des Systematikers Böckle offen-sichtlich, ›Normativität‹, d.h. das durch Verpflichtungen geregelte Leben, als ein »notwendiges strukturelles Merkmal menschlicher Praxis«513 festzu-stellen; er befreit Normativität von dem Vorwurf, ein nur religiös-pädagogi-sches Konstrukt zu sein. Seine Ausführungen zur Metaethik der angelsächsi-schen Moralphilosophie des 20. Jahrhunderts lässt er mit den ›Principia ethica‹ von G.E. Moore beginnen und mit der Theorie ›Performative Utteran-ces‹ von J. L. Austin und dessen Gegenposition in ›The Language of Morals‹

von R. M. Hare enden. Er konzentriert seine Darstellung dieser Theorien der moralischen Verbindlichkeit auf die Leistung, »den speziellen Charakter präskriptiver Sätze herausgestellt zu haben«514. Insbesondere Hare sei es gelungen, »den Beanspruchungscharakter (Soll-Sinn) als konstante Bedeu-tung der Moralsprache sprachanalytisch aufzuweisen«515. Böckle geht es aber um mehr als allein um den Nachweis von ›Selbstverpflichtung‹. Vielmehr ist er interessiert am Ertrag der sprachanalytischen Untersuchung zur Möglich-keit moralischer Diskurse. Ausgehend von der These, dass sich aus

511 Vgl. Apel, Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft, 15. Mit dem Einsatz atomarer Waffen macht sich in der Philoso-phie des Westens eine Politisierung bemerkbar, deren Produkt u.a. die Diskurs-ethik ist. »Die wissenschaftlich-technische Zivilisation hat alle Völker, Rassen und Kulturen ohne Rücksicht auf ihre gruppenspezifischen und kulturrelativen Moral-Traditionen mit einer gemeinsamen ethischen Problematik konfrontiert.

Zum ersten mal in der menschlichen Gattungsgeschichte sind die Menschen praktisch vor die Aufgabe gestellt, die solidarische Verantwortung für die Aus-wirkungen ihrer Handlungen im planetarischen Maßstab zu übernehmen« (ebd.).

512 Wege analytischer Argumentation, 68, 72.

513 Wege analytischer Argumentation, 72.

514 Wege analytischer Argumentation, 71.

515 Wege analytischer Argumentation, 73.

schließlich deskriptiven Prämissen [...] keine präskriptiven Sätze ableiten«516 lassen, leitet er deshalb Gedanken über normative Prinzipien ein.

Das Begründungsproblem normativer Aussagen behandelt Böckle nach sog. ›utilitaristischen‹ und ›kommunikationstheoretischen‹ Vorstellungen.

Der Utilitarismus, den Böckle auf die angelsächsische Rechtsphilosophie von Jeremy Bentham und John Stewart Mill zurückführt, entscheidet den Wert einer Norm nach Eigennutzkriterien. Er begründet seine Urteile in einer Folgenabschätzung teleologisch.517 Nach Böckle schöpft aber das Utili-tätsprinzip, nach dem es um die Optimierung des Wohlergehens möglichst vieler geht, die Aussagemöglichkeiten des praktischen Diskurses nicht aus.

Das Modell schenke der Frage nach der Motivation zur Moralität zu wenig Beachtung.518 Die Werthaltungen Treue, Gerechtigkeit und Wohltätigkeit erwiesen sich aber schon ›prima facie‹ für jede Sozietät als unerlässlich und in ihrer Dignität wohl auch als einsichtig.

Um ein Verfahren zu gewinnen, Güter- und Werteprioritäten zu kommu-nizieren, wendet sich Böckle der Kommunikationstheorie zu. Böckle skiz-ziert hierzu die sog. ›konstruktive Wissenschaftstheorie‹ der ›Protologik‹

Paul Lorenzens519. Er exemplifiziert an ihr, wie die Grundlagen von a priori

516 Wege analytischer Argumentation, 72.

517 Auch in der moraltheologischen Tradition der sittlichen Normbegründung lässt sich ein teleologisch-folgengerichteter von einem nicht ausschließlich folgen-gerichteten deontologischen Typ unterscheiden (s. u. Kapitel 10.2). Böckle weist in Wege analytischer Argumentation, 75 darauf hin, dass christlich-ethische Konzepte, die eine Güterabwägung einschließen, prinzipiell unter dem Utilita-rismus-Verdacht ständen. Seines Erachtens teilen utilitaristische und theolo-gische Ethik aber »nur« die Überzeugung, »daß die normativen Urteile über das richtige Handeln im zwischenmenschlichen Bereich teleologisch und nicht deon-tologisch zu begründen seien. In der Bestimmung des letzten Zieles sowie in der kritischen Beurteilung einer Güter- und Werteordnung folge die theologische Ethik ihren eigenen Prinzipien.« Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls, die aus der US-amerikanischen Utilitarismusdebatte hervorgegangen ist, hat Böckle nicht mehr rezipiert, obwohl sie sich mit seinem eigenen Konzept vertragen hätte. Auch den in den USA verbreiteten Proportionalismus rezipiert er nicht, da sein Werte-Normenmodell auf eigene Art Konsequenzen aus der Auseinander-setzung mit der Neuscholastik zieht (vgl. dazu aus der selben Generation Peter Knauer, den Böckle kennt, aber nicht anführt. Bei Knauer ist die angelsächsische Debatte viel stärker rezipiert).

518 Wege analytischer Argumentation, 75.

519 P. Lorenzen/ A. Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschafts-theorie, Mannheim 1973; P. Lorenzen, Konstruktive WissenschaftsWissenschafts-theorie, Frankfurt a.M. 1974; Böckles Meinung zum Ansatz Lorenzens scheint durch Karl-Otto Apel, Transformationen der Philosophie II gefärbt. Auf F. Kambartel und J. Mittelstraß, weitere Protagonisten der analytischen Wissenschaftstheorie, nimmt Böckle nur in erläuternden Fußnoten Bezug.

9.2 Der ontologische Aussagegehalt des praktischen Diskurses

intersubjektiv gültigen Normen prinzipiell zu rekonstruieren sind.520 Mehr Raum widmet Böckle zwei anderen schulbildenden Universalisierungs-theorien, nämlich den Konzepten von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel.

Am Beispiel ihrer universal- und transzendentalpragmatischen Theorien des kommunikativen Handelns arbeitet er das Faktum der Vernunft als »Akzep-tierung der Spielregeln einer kritischen Kommunikationsgemeinschaft«521 heraus. Die humane Kommunikation, die bei Habermas als ideale Sprechsi-tuation angenommen wird, in der Normen intentional befolgt und diskursiv über sie Rechenschaft abgelegt wird, zeige eine a priori vorhandene Überein-kunft von Sinn. Dieses Universalisierungsprinzip (Habermas) oder Vernunft-prinzip (Apel) werde von allen Diskursteilnehmern unvermeidlich unterstellt und sei deshalb kein empirisches Faktum, sondern wesentliche Bedingung der Möglichkeit der empirisch-wissenschaftlichen Feststellung von Fakten.

Die von Böckle gesetzte Differenz zwischen analytischen und normativen Theorien respektive seine eigenwillige Entscheidung, die Sprachanalytiker Habermas und Apel zur zweiten Kategorie zuzuordnen, zeigt sein eigenes Interesse an der kommunikablen Darstellung des ethischen Grundverhält-nisses von ›Freiheit‹ und ›Pflicht‹.522 Böckle schenkt dem Ansatz von Apel mehr Raum in seinem Konzept. Er begründet diese Tatsache damit, dass Apel folgenden Schritt »weiter« gehe als Habermas: »für ihn ist der Wille zur Teilnahme nicht nur Notwendigkeit, sondern Pflicht523 eines nur in Intersub-jektivität verstehbaren Subjektes.«524 Apels Anspruch korrespondiert mit dem

520 Lorenzen, so Christian Tiel, Art. Lorenzen, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 710–713, 710, definiert logische Regeln als allgemeine Regeln, die zulässig erkennbar hießen, weil sie erkennbar seien »ohne dass man dazu selbst schon logische Schlüsse benötigte«.

521 Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, 416.

522 Um die Subjektivität der Interessen zu überwinden, ist Böckle an der Kommuni-kabilität christlicher Normen gelegen, deren Garantie er über jede ›Originarität‹

stellt, vgl. Glaube und Handeln, 641.

523 Böckle harmonisiert den mittelalterlichen Pflichtbegriff (obligatio) mit dem kantischen Pflichtbegriff. Die Verbindlichkeit moralischer Gesetze wird bei Kant nicht aus einem Seinsprinzip, sondern aus der Selbstgesetzgebung menschlicher Vernunft abgeleitet; vgl. dazu Gerald Hartung, Die Naturrechtsdebatte. Ge-schichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, München 1998, 179–191, bes. 184. Franz-Josef Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis, Zur hand-lungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart 1999, 240, hält deshalb alle Versuche für unzuläs-sig, die »die thomanische Moraltheorie zur Vorläuferin der kantischen Ethik und Thomas zum Verfechter eines ›reinen‹ Vernunftverständnisses i.S. I. Kants stili-sieren.

524 Wege analytischer Argumentation, 80 (dort nicht kursiv). Die vorwiegende Rezeption Apels scheint mir mit dem gesamten Duktus von Apels wissenschaft-lichem Argumentieren zusammenzuhängen. Apel referiert auf Personen und

Pflichtverständnis, das Böckle vor dem Hintergrund seiner christlichen Anth-ropologie entwirft. Beide Konzepte haben einen politischen Impetus525 und sehen in der Pflicht das Zeichen des Menschen, das ihn über die Mechanis-men der Natur erhebt.526

philosophische Strömungen, die auch Böckle kommentiert. Er äußert sich z.B.

kritisch gegenüber dem »Neukantianismus« Max Webers, gegenüber dessen Schüler Karl Jaspers und dem französischen Existentialismus, vgl. Apel, Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft, 27. Sowohl seine scharfen Marxismusanalysen als auch die Tatsache, dass Apel in den »einsamen Gewissensentscheidungen« der protestantischen Situations-ethik eben diejenige Aporie der zeitgenössischen praktischen Philosophie er-kennt, die auch Böckle konstatiert, machen Böckle und Apel verwandt. Von Apel übernimmt Böckle die Ausdrucksweise, der Westen, speziell die westliche Denktradition sei geprägt von einer »Logik der Alternative von objektiver Wissenschaft und subjektiver Wertentscheidung« (ebd.).

525 Für Apel ist das gemeinsame Überleben in Menschlichkeit ein Akt der Emanzi-pation, also des zur Vernunft Kommens, vgl. ders., Transformationen der Philo-sophie II, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, 432, wo er von der

»Überlebensstrategie« spricht, die »Emanzipationsstrategie« sei.

526 In diesem Punkt zeigen sich beide Autoren kantianisch, vgl. KpV 155 (A 72, 73).