• Keine Ergebnisse gefunden

Vorangestelltes Genitivattribut

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 171-175)

Die Vielfalt formelhafter (Ir-)Regularitäten

7. Vorangestelltes Genitivattribut

7.1 Definition

Eine formelhafte (Ir-)Regularität, die ebenso wie unflektierte Adjektivattribute im Bereich der Nominalphrase anzutreffen ist, stellt die Voranstellung des Ge-nitivattributs dar (z. B. auf (des) Messers Schneide stehen). Diese gilt im heutigen Deutsch nicht mehr als produktives Muster der Genitivattribuierung. Genitivat-tribute werden im Gegenwartsdeutsch in der Regel ihrem Bezugswort nachge-stellt (siehe Beispiel 39) (vgl. Engel 2009: 294). Bei artikellosen Eigennamen ist die pränominale Realisierung jedoch auch heute noch Usus (siehe Beispiel 40) (vgl. Duden 2009: 826). Formelhafte Wendungen können daher als Besonder-heiten angesehen werden, da innerhalb ihrer festen Struktur die letzten „erstarr-ten Reste“ dieser ursprünglichen Genitivstellung zu finden sind (siehe Beispiel 41) (vgl. Nübling u. a. 2010: 102).

(39) In Oftringen (Aargau) ist am Samstag ein 18-jähriger Autofahrer durch eine Hausmauer direkt in die Küche des Hauses gefahren. (Die Südostschweiz, 17.11.2008)

(40) Am nächsten Morgen sitzen wir zusammen in Nathalies Küche, draussen braust der Morgenverkehr Richtung City Centre. (St. Galler Tagblatt, 06.01.2011) (41) Im deutschen Zivilrecht gilt der Grundsatz Pacta sund servanda – Verträge sind

zu erfüllen. Und wer das nicht tut, kommt schnell in Teufels Küche. (Braun-schweiger Zeitung, 09.10.2009)

Bereits an dieser Stelle sei auf einen wichtigen Aspekt bezüglich dieser (Ir-)Re-gu larität hingewiesen: Trotz des fast vollständigen Abbaus pränominaler Geni-tivattribute im heutigen Deutsch gelten diese dennoch nicht als vollkommen ungrammatisch (vgl. Schindler 1996a: 228). Obwohl die Stellung nicht mehr produktiv ist, hat sie keinen Einfluss auf (grammatische) Akzeptabilitätsurteile, sondern wirkt allenfalls altertümlich, archaisch und stilistisch ungewöhnlich (vgl.

Lindauer 1995: 205; Hentschel/Weydt 1990: 157 sowie Marillier 1992: 49).

Vorangestellte Genitivattribute können somit genau genommen nicht als „Abwei-chungen“ vom System des Gegenwartsdeutsch bezeichnet werden. Zwar werden sie als normwidrig empfunden, einen wirklichen Verstoß gegen das heutige Regel-system stellen sie aber nicht dar (vgl. Fuhrhop 2001: 55). Die Termini „Irregulari-tät“ bzw. „Anomalie“ sind für diese Erscheinungen somit eher unpassend. Burger (1973: 35) spricht daher auch nur von Idiomen mit „heute veralteter“, nicht aber mit „irregulärer“ bzw. ungrammatischer Voranstellung des Genitivattributs.

7.2 Diachrone Entwicklung: Die Etablierung des vorangestellten Genitiv attributs

Die Stellung des Genitivattributs verändert sich im Laufe der Zeit von der Voran-stellung hin zur NachVoran-stellung; Eigennamen, insbesondere Personenbezeichnun-gen, stellen hierbei eine Ausnahme dar (vgl. Wagner 1905: 5):

• Im Althochdeutschen kann das Genitivattribut sowohl vor als auch nach seinem Bezugswort stehen, wobei jedoch die Voranstellung dominiert (vgl.

Schrodt 2004: 23). Die Stellung wird hauptsächlich durch die Funktion des Genitivs bestimmt. Bei determinierender Funktion steht es pränominal und präzisiert das Bezugswort als begrifflichen Kern der Phrase, indem es dessen Referenzbereich einschränkt und abgrenzt, z. B. chuningo hrucca, ‚der Rü-cken des Königs‘ (vgl. Szczepaniak 2011: 67f.). Die Rechtsversetzung steht in enger Beziehung mit der Herausbildung des Definitartikels, der allmäh-lich die determinierende Funktion übernimmt. So enthalten definite Nomi-nalphrasen entweder ein pränominales Genitivattribut ohne dher oder ein postnominales mit dher (vgl. Szczepaniak 2011: 68).146

• Auch im Mittelhochdeutschen können die meisten Genitivattribute ih-rem Bezugswort sowohl voran- als auch nachgestellt werden (vgl. Wegera/

Walden berger 2012: 174). Grundsätzlich muss dabei zwischen verschiede-nen Substantivklassen sowie Text sorten unterschieden werden. Persoverschiede-nenbe- Personenbe-zeichnungen stehen in mittelhochdeutscher Zeit in der Regel pränominal;

die Nachstellung bei Nichtpersonenbezeichnungen ist gegen Ende dieser Sprachepoche fast vollständig durchgeführt (vgl. Ebert 1986: 92). Während in mittelhochdeutschen Prosatexten eine deutliche Tendenz zur Postpositi-on zu beobachten ist (vgl. Fuss 2011: 31), dominiert in Verstexten eindeutig die Voranstellung:

Die mhd. Verstexte bevorzugen hier also eine bereits veraltende Wortstellung, während die Prosatexte sich insgesamt als die sprachgeschichtlich ,fortschritt liche‘ Textgruppe erweisen. (Paul 2007: 328)

146 Die Setzung des Artikels führt somit zu einer allmählichen Aufweichung der ur-sprünglichen Korrelation zwischen der Funktion und der Position des Genitivattri-buts. Dies verdeutlichen auch empirische Auswertungen. So verweist beispielsweise Szczepaniak (2011: 68) darauf, dass bereits bei „Notker (10./11. Jh.) jedes Genitiv-attribut (außer Eigennamen) mit definiter Lesart unabhängig von der Position mit dem Definitartikel der versehen“ ist.

• Im Laufe des Frühneuhochdeutschen wird das Genitivattribut vermehrt nachgestellt (vgl. Hartweg/Wegera 2005: 173), weshalb Ágel (2000a: 1858) von einem „zunehmenden Übergewicht des postnominalen Genitivattributs“

spricht. Doch selbst im Frühneuhochdeutschen finden sich noch vielfach Ge-nitivattribute, die links von ihrem Bezugswort realisiert sind (vgl. Eichinger/

Plewnia 2006: 1062). Die pränominale Stellung ist demnach durchaus noch üblich, nimmt aber bis circa 1700 stark ab (vgl.  Hartweg/Wegera 2005:

173). Nach einer Auswertung Fritzes (1976: 458) steigt der Anteil postnomi-naler Genitive im Zeitraum von 1500–1700 von 53% auf 64%, wobei teilweise regionale Unterschiede beachtet werden müssen. Gewichtiger als die regiona-le Varianz sehen Hartweg/Wegera (2005: 174) den Einfluss der Textart auf die Genitiv stellung. Sie heben hervor, dass der postnominale Genitiv um 1500 in der Fachprosa und in Flugschriften in über 74% der Belege realisiert ist, in chronikalischen Texten jedoch nur in 20,5%. Nach Ebert (1986: 96) ist dieser augenfällige Unterschied nicht auf gattungsstilistische Aspekte zurückzufüh-ren, sondern lediglich darauf, „daß Eigennamen, Orts- und Zeitbezeichnun-gen, die gewöhnlich vorangestellt sind, in den Chroniken, Volksbüchern und Reisebeschreibungen häufiger vorkommen als in den Flugschriften und in der Fachprosa“ (vgl. auch Hartweg/Wegera 2005: 174).

Insgesamt kann festgehalten werden, dass die „zunehmende strukturelle Margi-nalisierung des pränominalen Genitivs“ (Ágel 2000a: 1858) bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts deutlich zu erkennen ist. Die frühere Stellungsvielfalt wird also bereits im Laufe des Frühneuhochdeutschen durch das System ersetzt, das auch für das heutige Deutsch kennzeichnend ist (vgl. Fuss 2011: 32).147

Der Stellungswechsel von pränominalen Genitiven zu postnominalen steht in engem Zusammenhang mit dem Ausbau der Nominalklammer. Der jetzige Zu-stand ist dabei vor allem auf zwei Wortstellungsveränderungen zurückzuführen:

Während sich das Adjektivattribut auf die Position links des Basissubstantivs verfestigt, muss demgegenüber das Genitivattribut allmählich aus dem präno-minalen Bereich weichen und wird somit aus der Klammer ausgelagert (vgl.

Ronneberger-Sibold 1994: 122). Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die Herausbildung des Definitartikels (vgl. Nübling u. a. 2010: 102). Auf der einen Seite bedeutet dessen Verfestigung als klammeröffnendes Element, dass Attribute

147 In gesprochener Sprache ist gegenwartssprachlich darüber hinaus eine zunehmen-de Ersetzung zunehmen-des adnominalen Genitivs durch periphrastische Konstruktionen zu beobachten wie beispielsweise die von-Periphrase (der Hut vom Lehrer) und der possessive Dativ (dem Lehrer sein Hut) (vgl. Fleischer/Schallert 2011: 85).

grundsätzlich innerhalb der Klammer realisiert werden. Auf der anderen Seite kollidiert diese Entwicklung mit der Tatsache, dass Genitivattribute schon im-mer determinierenden Charakter besitzen und somit im Grunde nicht klam-merintern zu stehen haben (vgl. Eichinger/Plewnia 2006: 1062). Es werden demnach diejenigen Attribute nachgestellt, die aufgrund ihrer Nicht-Flektiert-heit nicht imstande sind, mit dem Kern der Nominalklammer zu kongruieren (vgl. Ronneberger-Sibold 1994: 122). Mit anderen Worten: Der Artikel des vorangestellten Genitivs erweckt „falsche Erwartungen“ (Nübling u. a. 2010:

102), da er sich nicht auf das Basissubstantiv bezieht. Nach der Durchsetzung des obligatorischen Artikels folgt demnach die Ausklammerung des Genitivs, wodurch diese Diskrepanz behoben wird, da nun der Artikel mit dem Kopf der Nominalphrase kongruiert (vgl. Eichinger/Plewnia 2006: 1062). Dies verdeut-lichen Nübling u. a. (2010: 102) mithilfe des folgenden Beispiels:

des Vaters […] Haus à das […] Haus des Vaters

7.3 Korpusauswertung

7.3.1 Vorgehensweise

In einem ersten Schritt wird eine möglichst umfangreiche Liste an formelhaften Wendungen mit pränominalem Genitivattribut erstellt. Neben der Integration von Belegen aus der bisherigen Forschungsliteratur werden die phraseologi-schen Wörterbücher Röhrich (2006), Duden (2008) und Schemann (2011) im Hinblick auf dieses Phänomen ausgewertet. Insgesamt enthält die Liste 115 Phraseme mit vorangestelltem Genitivattribut, wobei es sich hierbei um 24 Eigennamen-Substantive (also Personenbezeichnungen wie in abgehen wie Schmidts Katze oder seit Adams Zeiten) und 91 Nicht-Eigennamen-Substantive handelt. Für die Korpusauswertung sind nur die Nicht-Eigennamen-Fälle rele-vant, da es sich hierbei um den markierten und somit „irregulären“ Fall handelt.

Eigennamen werden hingegen auch im heutigen Deutsch noch überwiegend pränominal verwendet (vgl. Nübling u. a. 2010: 102).

Im Zuge der Korpusanalyse werden die Wendungen im Hinblick auf die Stel-lungsvarianz des Genitivattributs überprüft. Im Fokus steht die Frage, ob die Genitiv attribute in allen Belegen vorangestellt werden oder ob sich auch Bei-spiele für die Nachstellung finden lassen, ohne dass dabei die phraseologische Bedeutung verloren geht. Hierfür werden detaillierte Suchanfragen durchge-führt, in denen zum einen nach Belegen mit Voran- und zum anderen nach Be-legen mit Nachstellung gesucht wird. Von den 91 formelhaften Wendungen mit

pränominalem Genitivattribut können 53 analysiert werden. Die übrigen Phra-seme fallen aufgrund zu geringer Trefferzahlen aus dem Analyseraster.

7.3.2 Ergebnis: Schwankungen zwischen Voran- und Nachstellung des Genitivattributs

Die korpusanalytischen Ergebnisse sind im Anhang 4 zusammengestellt. Neben den genauen Trefferzahlen für vorangestellte und nachgestellte Genitivattribute ist die errechnete Prozentzahl der pränominalen Verwendung angeführt. In Fäl-len, in denen postnominale Genitive zu finden sind, ist jeweils ein Textbeispiel aus dem DeReKo angegeben.

Die Ergebnisse der empirischen Analyse deuten darauf hin, dass in Phrase-men mit vorangestellten Genitivattributen kaum Stellungsvariation auftritt. In insgesamt 32 der 53 ausgewerteten Wendungen wird der Genitiv in über 95%

der Belege nachgestellt (z. B. in Undank ist der Welt Lohn, des Pudels Kern und des Wahnsinns fette Beute). Die Korpusanalyse offenbart aber auch solche Wen-dungen, in denen neben der Voranstellung ebenso die Nachstellung mehr oder weniger häufig zu finden ist und somit als alternative Variante (bzw. okkasionelle Modifikation) angesehen werden kann. Solche Belege sind gerade deswegen in-teressant, da sie aufgrund ihrer „normgerechten“ Position für eine Relativierung der „phraseologischen Irregularität“ der besagten Wendungen sprechen. Dies soll an drei Beispielen illustriert werden, die sich von einer hohen bis zu einer niedrigen Variation der Genitivstellung erstrecken:

1) Jeder ist seines (eigenen) Glückes Schmied: Das Geni tivattribut Glück ist in

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 171-175)

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE