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lecker Gaumenschmaus – Eine Modellbildung mit unflektiertem Adjektivattribut

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 160-164)

Die Vielfalt formelhafter (Ir-)Regularitäten

1) Bereich der poetischen Sprache (Volkslieder und Literatursprache): Laut Marschall (1992: 76) ist das nachgestellte unflektierte Adjektivattribut seit

6.5 Beispielanalysen: Neue produktive Konstruktionen mit Adjektivbesonderheiten

6.5.1 lecker Gaumenschmaus – Eine Modellbildung mit unflektiertem Adjektivattribut

Wie bereits aufgezeigt wurde, hat sich bei pränominalen Adjektivattributen im Laufe der Zeit die flektierte Form durchgesetzt, wodurch diese gegenwarts-sprachlich den unmarkierten Fall bildet. Trotzdem gibt es im heutigen Deutsch eine Konstruktion, die dieser Entwicklung gegenübersteht: der unflektierte Ge-brauch von lecker (z. B. lecker Bratwürste/Schnittchen/Sushi). Lecker scheint sich demnach in die entgegengesetzte Richtung zu entwickeln: vom flektierten zum unflektierten pränominalen Adjektivattribut.

Schwinn (2012: 58) stellt fest, dass dieses Phänomen ab circa der 1990er Jah-re zunächst in den Medien auftaucht und die Verwendung seitdem auf dem Vor-marsch ist (vgl. auch Stoltenburg 2008: 130). Zunächst findet das unflektierte lecker primär in der Umgangssprache bzw. der gesprochenen Alltagssprache Ver-wendung, mit der Zeit geht es jedoch auch in die Standardsprache über (vgl.

Spiekermann/Stoltenburg 2006: 321f.):

(21) Die Kinder erfreuten sich im Jugendhaus an der Kinderbetreuung. Auf dem Holste-Hof am Kinderkarussell herrschte ebenfalls Hochbetrieb. Dort drehten die Kinder eine Runde nach der anderen, während Mama, Papa und Großeltern einen lecker Glühwein schlürften und nach adventlichen Geschenken Ausschau hielten. (Braunschweiger Zeitung, 04.12.2006)

Das Besondere an dieser Konstruktion ist, dass in solchen Belegen wie lecker Glühwein die flektierte Form als Alternative zur Verfügung steht (leckeren Glüh-wein), diese aber nicht genutzt wird. Diesbezüglich unterscheidet sich lecker deutlich von – weiter oben angeführten – generell nicht-flektierbaren Adjektiven (z. B. Farbadjektive lila und rosa oder auch Ableitungen von Ortsbezeichnungen auf -er wie Trierer Weihnachtsmarkt) (vgl. Stoltenburg 2008: 144).

Die Konstruktion kann im Sinne von Fillmore u. a. (1988: 505) als „extra-grammatical“ bezeichnet werden, da sie aufgrund der nicht vorhandenen Fle-xion einen Sonderfall im allgemeinen Regelsystem der Sprache darstellt (vgl.

Spiekermann/Stoltenburg 2006: 323). Spiekermann/Stoltenburg (2006) analysieren die Konstruktion daher im Rahmen eines konstruktionsgrammati-schen Ansatzes auf formaler, semantischer und pragmatischer Ebene. Während

sie formal nachweisen, dass es sich bei solchen Konstruktionen nicht um die adverbiale Verwendung von lecker handelt und darüber hinaus einen Forma-lismus für diesen Konstruktionstyp entwerfen, sind vor allem die semantischen und pragmatischen Erkenntnisse aufschlussreich. Aus semantischer Perspektive gehen nicht nur Substantive aus dem Bereich „Nahrungsmittel“ eine Verbindung mit unflektiertem lecker ein, sondern es kann eine Ausweitung der Semantik auf weitere Bereiche festgestellt werden (vgl. Spiekermann/Stoltenburg 2006:

324):

Nachdem die semantische Kongruenz und das Flexionsmuster nicht mehr den allge-meingültigen Regeln gehorchen, ist es für lecker ein Leichtes, neue Beziehungen einzu-gehen. (Schwinn 2012: 62)

Das bekannteste Beispiel hierfür ist wohl die Verbindung ein lecker Mädchen, in der lecker durch metonymische und/oder metaphorische Übertragung auf (weibliche) Personen mit einer sexuellen Konnotation versehen wird (vgl.

Schwinn 2012: 60f.):

(22) Timo Glock (26) hat ein süßes Geheimnis: Er ist frisch verliebt! Die MOPO entdeckt den Toyota-Piloten im Hockenheimer Fahrerlager turtelnd mit einer geheimnisvollen Blonden im gelben T-Shirt. Glocks bisherige Freundin war brü-nett. Da hat sich der schnelle Odenwälder aber ein lecker Mädchen geangelt.

(Hamburger Morgenpost, 19.07.2008)

Doch lecker kann nicht nur mit Nahrungsmitteln und Personen kongruieren.

Der Gebrauch hat sich bereits auf Ereignisse und Gegenstände ausgedehnt. Ex-emplarisch können die folgenden zwei Belege angeführt werden, in denen lecker die Substantive Wohnung und Fußball attribuiert:

(23) Bester Fotograf Berlins sucht lecker Wohnung für günstig. Tier(besuch) soll-te möglich sein, denn et jibbt Freundin mit Hund. (http://www.wg-gesucht.

de/1795331.html, Stand 03.12.2013)

(24) Moin Moin, gleich gibt’s wieder lecker Fussball: 13.30 FC ST. PAULI – HANSA ROSTOCK!!!!!!!!!!!!!!! 15.30 Augsburg – Schalke 17.30 Hannover – Freiburg (https://

www.facebook.com/lottakoeln/posts/388838091136591, Stand 03.12.2013)

Übersicht 6–1 zeigt eine von mir zusammengestellte Auswahl an Substantiven, die mit lecker in einer unflektierten Nominalphrase im DeReKo sowie durch Google-Abfragen zu finden sind. Dabei kann zwischen den drei onomasiologi-schen Bereichen ,Nahrungsmittel‘, ,Personen‘ und ,Ereignisse bzw. Sachgegen-stände‘ unterschieden werden:

Übersicht 6-1: Nominalergänzungen zu lecker X[Nomen] nach onomasiologischen Bereichen ,Nahrungsmittel‘ (sowohl Ess- als auch

Trinkbares) ,Personen‘ ,Ereignisse‘ bzw.

,Sachgegenstände‘

lecker Abendessen, Äpfel, Astra, Bärensteak, Bierchen, Bratwürste, Braunkohl, Brötchen, Eis, Eiscreme, Fingerfood, Fleisch, Fresschen, Frikadellen, Gaumenschmaus, Gazosa, Gebäck, Gemüse, Getränke, Glühwein, Grillwürste, Häppchen, Happen, Julmust, Kaffee, Kakao, Knödel, Kuchen, Lamm, Likörchen, Matjes, Mittagessen, Nachtisch, Nackensteak, Obst, Pasta-Gerichte, Quark-wickel, Senfdressing, Spargel, Stäbchen, Steaks, Stockbrote, Sushi, Tee, Tiefseefische, Vogelfutter, Waffeln, Wein

In Bezug auf pragmatische Besonderheiten verweisen Spiekermann/Stolten-burg (2006: 326f.) einerseits auf Belege aus der Werbung, andererseits kon-stantieren sie, dass die Konstruktion in der Regel zur Kontextualisierung von Informalität und somit besonders der Beschreibung privater, familiärer und persönlicher Interaktionskontexte dient. Darüber hinaus legen sie dar, dass ten-denziell eine regionale Beschränkung der Konstruktion zu beobachten ist. Nach ihren Korpusauswertungen ist sie vor allem im Mitteldeutschen mit Schwer-punkt des Rheinlands und Ruhrgebiets anzusiedeln.

Schwinn (2012: 58, 63) sieht den Ursprung dieses unflektierten Adjektivat-tributs im Niederländischen. Er stellt die Vermutung an, dass das im Niederlän-dischen fast ausschließlich unflektierte lekker sozusagen als Lehnkonstruktion im Rheinland übernommen worden ist. Spiekermann/Stoltenburg (2006:

336) widersprechen jedoch dieser Hypothese, indem sie darauf hinweisen, dass im Rahmen eines Sprachkontaktphänomens dieser Kontakt tatsächlich statt-finden muss. Dies treffe aber auf viele Sprecher dieser Region nicht zu. Wei-ter führen sie aus, dass der Abbau der Nominalflexion alle niederländischen Adjektive tangiert und sich daher die Frage stellt, warum sich im Deutschen nur bei lecker und nicht noch bei weiteren Adjektiven die Nicht-Flexion zeigt.

Letztlich führen sie außerdem an, dass die Verbreitungsgeschwindigkeit und Akzeptanz dieses Phänomens in anderen – nicht rheinländischen – Regionen der Vermutung, man habe es hier mit einer niederländischen Entlehnung zu tun, widersprechen.

Weitaus interessanter als die Herkunftsfrage ist, ob es sich bei der Konstruk-tion um eine singuläre Erscheinung handelt oder ob auch in Zukunft weitere pränominale Adjektiv attribute flexionslos auftreten werden. Mit anderen Wor-ten: Handelt es sich bei lecker um das erste produktive Beispiel eines sich weiter ausbreitenden Konstruktionstyps (vgl. Stoltenburg 2008: 150)? Dieser Frage geht auch Schwinn (2012: 62) nach, wenn er den Verdacht hegt, dass sich noch weitere Adjektive analog zu lecker innerhalb der Entwicklung in Richtung des unflektierten Adjektivattributs befinden. Hierfür betrachtet er Adjektive, die ebenso wie lecker auf -er auslauten und zweisilbig sind. Seine Annahme resultiert also vor allem aus phonetischen Überlegungen:

Bei den zwei- (und mehr-) silbigen Adjektiven auf -er könnte man vermuten, dass die flexionsbedingte Verdoppelung von -er aus phonetischen Gründen zur generellen Til-gung der Flexionsmarker (-er, -en, -em, -es, -e) führt […]. (Schwinn 2012: 62)

Im Zuge seiner Korpusanalyse entdeckt Schwinn (2012: 63) tatsächlich weitere Belege unflektierter Adjektive; für die nicht-flektierten Adjektivattribute heiter und finster findet er jeweils einen, für bitter drei Belege. Diese Beispiele stellen bezüglich ihrer geringen Quantität – im Gegensatz zu lecker – zwar eine recht marginale Erscheinung dar, können aber dennoch auf eine Entwicklung hindeu-ten, die zurzeit noch in ihren Kinderschuhen steckt. Und auch Spiekermann/

Stoltenburg (2006: 334) betonen, dass pränominale unflektierte Attribute in vereinzelten Fällen auch bei anderen Adjektiven als lecker zu beobachten sind.

Zur Verdeutlichung führen sie Belege an, in denen die drei Adjektive stark, bar und unheimlich flexionslos gebraucht werden (vgl. Spiekermann/Stoltenburg 2006: 335). Ein weiteres – im Gegenwartsdeutsch relativ usuelles – unflektier-tes Adjektiv ist teuer in der Konstruktion für teuer Geld. Im DeReKo ist dieses 75mal belegt:

(25) Es ist ein so genannter Graumarkt entstanden mit WM-Tickets, die man bei Internet-Händlern für teuer Geld erwerben kann, deren Herkunft aber uner-gründbar ist. (Hamburger Morgenpost, 30.05.2006)

In Anbetracht der geringen Belegzahl anderer unflektierter Adjektive lässt sich mit Schwinn (2012: 63) konstatieren, dass das flexionslose lecker in attributiver Stellung momentan „(noch) mit einem Alleinstellungsmerkmal versehen ist.“

Die Frage, ob es sich hierbei um den Anfang einer produktiven Konstruktion handeln könnte, vermag auch Stoltenburg (2008: 150) nicht zu beantworten:

Inwieweit dieses randgrammatische Phänomen die Kerngrammatik beeinflusst und ob es sich überhaupt über längere Zeit durchsetzen kann, wird die Zukunft zeigen.

6.5.2 Formelhaftigkeit pur – Eine Modellbildung mit

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 160-164)

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