• Keine Ergebnisse gefunden

Unter pragmatischer Festigkeit versteht Filatkina (2007a: 14 Typen formelhafter Wendungen, die sich nur mit pragmatischen Kategorien

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 54-62)

Irregularitäten“

3) Unter pragmatischer Festigkeit versteht Filatkina (2007a: 14 Typen formelhafter Wendungen, die sich nur mit pragmatischen Kategorien

be-schreiben lassen, da sich ihre Verfestigung aus ihrer pragmatischen Leistung im kommunikativen Geschehen speist. Obwohl pragmatische Phraseme strukturell höchst variabel sind, kann ihnen eine Festigkeit zugesprochen werden, da sie den Sprechern zur Bewältigung rekurrenter kommunikati-ver Situationen und Aufgaben zur Verfügung stehen (vgl. Stein 2007a: 226).

Bezüglich des Kriteriums der Polylexikalität ist die Klasse pragmatischer Phraseme sehr heterogen, da zum einen auch formelhafte Einwortäußerun-gen als pragmatisch fest bezeichnet werden können und zum anderen auch die Funktionen der meisten satzwertigen Phraseme und formelhaften Texte zum Teil nur unter Berücksichtigung ihrer kommunikativen Kontextein-bettung angemessen beschrieben werden können (vgl. Stein 2004a: 267).52 Pragmatische Phraseme lassen sich nach Stein (2010a: 413) aufgrund des Grades ihrer Situationsgebundenheit in zwei Klassen unterscheiden: situ-ationsgebundene Routineformeln (z. B. vielen Dank und auf Wiedersehen) und situationsungebundene gesprächsspezifische Formeln/Phraseme (z. B.

ich würde sagen und was weiß ich). Sowohl innerhalb von Routineformeln als auch in gesprächsspezifischen Formeln finden sich „phraseologische Ir-regularitäten“ wie beispielsweise ach du heiliger Bimbam (Unikalia), (immer) ruhig Blut (unflektiertes Adjektivattribut), in drei/aller/des Teufels Namen 52 So beispielsweise bei Gemeinplätzen (siehe Gülich 1978 und Sabban 1994),

geflü-gelten Worten und Sprichwörtern (siehe Schemann 1987; Harnish 1995 und Lüger 1999).

(Voranstellung des Genitivattributs) und meines Wissens (adverbialer Ge-nitiv). Es zeigt sich also, dass „phraseologische Irregularitäten“ nicht nur in Phrasemen auftreten, die im klassischen Zentrum anzusiedeln sind, sondern auch in peripheren Klassen (siehe Kapitel 18.5).

Obwohl – wie bereits erwähnt – weitgehend Konsens darüber herrscht, dass es sich bei der Festigkeit um ein graduelles Merkmal handelt, existiert in der Phra-seologieforschung teilweise die Auffassung (bzw. die volle Überzeugung), dass es gerade „phraseologische Irregularitäten“ sind, die prototypisch die Unveränder-lichkeit phraseologischer Verbindungen offenbaren:

Es gibt jedoch nur einige wenige Gruppen von Phraseologismen, auf die die Stabilität im Sinne einer vollen Unveränderlichkeit zutrifft; Ausdrücke mit unikalen Komponen-ten und solche mit struktureller Anomalie bzw. Defektivität sind die wichtigsKomponen-ten davon.

(Korhonen 1992a: 49)

Diese Meinung teilt die vorliegende Arbeit nicht. Durch die empirische Analy-se wird ersichtlich, dass das Merkmal der Festigkeit auch bei hoch „irregulären“

Phrasemen gradueller Natur ist. Beispielsweise weisen die meisten Phraseme mit unikalen Komponenten lexikalische Varianten auf (z. B. das Kriegsbeil begraben/

ausgraben/ein gra ben und jmdn. am Gängelband führen/haben/hal ten/neh men // am Gängelband gehen/hängen). Der Behauptung Korhonens (1992a: 49) stehen zudem die korpusanalytischen Befunde der vorliegenden Arbeit gegen-über, die bei morphosyntaktischen „Irregularitäten“ auf eine Varianz zwischen

„irregulärer“ und „regulärer“ Realisierung hindeuten (z. B. etw. wie sauer/saures Bier anbieten/anpreisen, von seiner Hände Arbeit leben/von der Arbeit seiner Hände leben, im Sande/Sand verlaufen) (siehe Kapitel 15.3). Ein Beweis für das Modifika-tionspotenzial „phraseologischer Irregularitäten“ ist zudem die oben aufgezeigte Fähigkeit zur dephraseologischen Wortbildung (siehe auch Kapitel 18.4).

Die (Fehl-)Einschätzung der Unveränderlichkeit von Unikalia-Phrasemen findet sich auch in phraseologischen Wörterbüchern. Eine von mir durchgeführ-te Korpusanalyse von 153 Phrasemen mit Unikalia, die der „Lisdurchgeführ-te der lebendigen Unikalia-Idiome“ von Dobrovol’skij/Piirainen (1994a, 1994b) entnommen sind, verdeutlicht, dass bei circa einem Drittel der Idiome die tatsächlichen Realisierungs-formen von der phraseografischen Angabe im Duden (2008) abweichen. Beispiels-weise lautet die Nennform des folgenden Unikalia-Idioms im Duden (2008: 858) jmdn. [bis] zur Weißglut bringen/reizen. Die Korpusanalyse deckt auf, dass Weißglut zwar mit den Verben bringen und reizen realisiert werden kann, darüber hinaus aber auch (am zweithäufigsten nach bringen) mit dem Verb treiben. Eine noch größe-re Varianz weist die unikale Komponente Abschussliste auf. Laut Duden (2008: 30)

kookkurriert diese nur mit dem Verb stehen. Im DeReKo taucht es in usueller Form jedoch u. a. auch mit den Verben stellen, geraten und landen auf.53

Auf ein offensichtliches Paradoxon bezüglich der phraseologischen Festig-keit macht Staffeldt (2011) aufmerksam. In seiner konstruktionsgramma-tisch orientierten Studie zu Phrasemen des Typs „in … Hand“ bringt er die quasi komplementären Zielsetzungen seitens konstruktionsgrammatischer und phra-seologischer Forschungsansätze wie folgt auf den Punkt:

Während es die Grundannahme der Konstruktionsgrammatik ist, dass sich viele freie Ein-heiten in bestimmter Weise phraseologisch verhalten, entdeckt die Phraseologie gerade, dass viele phraseologische Einheiten freier sind als angenommen. (Staffeldt 2011: 134)54

Im Sinne der konstruktionsgrammatischen Idee, dass der scheinbar freie Sprachgebrauch in höherem Maße feste Strukturen aufweist und somit erheb-lich „idiosynkratischer“ ist als bisher angenommen, argumentiert auch Feilke (2004: 57) mit Verweis auf das Konzept der idiomatischen Prägung, wenn er anmerkt, dass „[d]as vermeintlich Freie in der Sprache […], wenn auch nicht fest, so doch in erheblicher und bisher nicht ausgemessener Reichweite idio-matisch geprägt [ist].“

Auch bei Phrasemen mit „Irregularitäten“ existieren unterschiedliche Grade an Festigkeit (siehe Übersicht 2–6):

Übersicht 2-6: Festigkeit formelhafter (Ir-)Regularitäten Übergang zu freien

Wortverbindungen Modellbildungen Varianten absolut feste Wen-dungen

etw. ist des Pudels Kern, mit Fug und Recht

gering Festigkeit hoch

53 Zu Unikalia aus lexikografischer Sicht siehe auch Holzinger (2013).

54 Staffeldt (2011: 134) vermag nicht zu beantworten, „[w]o diese Konvergenz hin-führt“ und stellt die Überlegung an, dass es sich hierbei vielleicht einfach um eine

„Frage der Perspektivierung“ handelt. Etwas unglücklich und problematisch fällt dabei die Wahl der Adverbiale gerade aus. Die Phraseologieforschung entdeckte nicht erst um das Jahr 2010, dass Phraseme nur „mehr oder weniger“ fest sind; die absolute Stabilität wird bereits zu Beginn der sogenannten Konsolidierungsphase, teilweise sogar schon in der Anfangsphase angezweifelt und relativiert.

Das Spektrum verläuft hierbei von absolut unveränderlichen Wendungen (z. B.

mit Fug und Recht) über Varianten (z. B. jmd. ist leichten/reinen Herzens) bis hin zu Modellbildungen mit Leerstellencharakter (z. B. einen + Verb[Infinitiv] + lassen).

Zudem gestaltet sich der Übergang zu freien Wortverbindungen fließend, da trotz vorhandener „Irregularität“ bei einigen Wortverbindungen nicht exakt entschie-den werentschie-den kann, ob es sich um phraseologische handelt oder nicht (z. B. in/aus Nachbars Garten).

2.4.4 Idiomatizität

Idiomatisch ist ein (komplexer) Ausdruck dann, wenn sich seine Bedeutung nicht (kompositionell) aus der Summe der Einzelbedeutungen seiner Bestand-teile ergibt (vgl. Stein 1995: 30 sowie Roos 2001: 9).55 Idiomatizität erweist sich dabei als eine graduelle Eigenschaft. Sie kann entweder nicht (z. B. sich die Zähne putzen), teilweise (z. B. einen Streit vom Zaun brechen) oder voll ausgeprägt sein (z. B. Öl ins Feuer gießen).56 Zwei weitere und differenziertere Klassifizierungs-möglichkeiten führen Stein (1995) und Lüger (1999) an:

• Stein (1995: 31) betont, dass die wörtliche Bedeutung eines Phrasems nicht nur zugunsten einer übertragenen Bedeutung verloren gehen kann, sondern auch „zugunsten einer semantischen Reduzierung oder auch einer semanti-schen Leere, an deren Stelle eine oder mehrere kommunikative Funktionen treten.“ Dies zeigt sich insbesondere bei sogenannten gesprächsspezifischen Formeln wie und so weiter, pass mal auf, ich würde sagen und ich denke.

55 In der heutigen Phraseologieforschung herrscht weitgehend Konsens über die hier angeführte Merkmalsdefinition. Es lassen sich jedoch bei genauerer Betrachtung auch noch zahlreiche weitere Begriffspräzisierungen von Idiomatizität finden, was ein Prob-lem darstellen kann (siehe hierzu Dobrovol’skij/Piirainen 1994b: 450), da sich diese teilweise unvereinbar gegenüberstehen und somit zu entgegengesetzten Idiomatizitäts-urteilen über dasselbe Sprachmaterial führen können (vgl. Feyaerts 1994: 136).

56 Obwohl Idiomatizität eine Zeitlang als das phraseologische Merkmal schlechthin galt, ist es im Grunde gar keine phraseologiespezifische Eigenschaft. Auch bei Wortbil-dungsprodukten kann Idiomatizität vorliegen (vgl. Roos 2001: 9f.). Die bereits ange-sprochenen „Einwortidiome“ bzw. besser „idiomatischen Komposita“ (z. B. Drahtesel, Geldspritze und Kuhhandel) zeigen deutlich, dass es für die Phraseologie nicht von Vorteil ist, alles, was irgendwie idiomatisch aussieht, als Phrasem auszuzeichnen (vgl.

Donalies 2005: 344).

• Lüger (1999) unterteilt idiomatisierte Phraseme unter Einbezug des Kriteri-ums der Motiviertheit in zwei Klassen.57 An der Spitze der Idiomatizitätsskala befinden sich vollidiomatisierte und gleichzeitig unmotivierte Wortverbin-dungen, „die vollkommen undurchsichtig sind und deren Gesamtbedeutung aus synchronischer Perspektive nicht von der wörtlichen Bedeutung her er-schließbar ist“ (Lüger 1999: 15) (z. B. Eulen nach Athen tragen ,etwas Über-flüssiges tun‘) (siehe Übersicht 2–7). Ferner bezeichnet er solche Ausdrücke als idiomatisch, „deren phraseologische Bedeutung zwar ebenfalls nicht mit der wörtlichen Lesart übereinstimmt, die aber aufgrund des vermittelten Bil-des mehr oder weniger eindeutig erschließbar ist“ (ebd.) (z. B. das fünfte Rad am Wagen sein ,überflüssig sein‘). Lüger (1999) verbindet somit geschickt die beiden Merkmale der Idiomatizität und der Motiviertheit und zeigt auf, dass diese mehr als nur reine Gegenbegriffe darstellen, bei denen jede Idio-matizitätsausprägung eine entsprechende Motiviertheitsausprägung besitzt (nicht-idiomatisch = motiviert; teil-idiomatisch = teil-motiviert; voll-idio-matisch = unmotiviert). Denn wäre Motiviertheit lediglich der Gegenbegriff zu Idiomatizität, wäre er entbehrlich und „man könnte sich mit einer Typolo-gie der Idiomatizität begnügen“ (Burger 2002: 399). Durch seine verfeiner-te Unverfeiner-terscheidung in „voll idiomatisierverfeiner-te/unmoti vierverfeiner-te“ und „idiomatisierverfeiner-te/

bildhaft motivierte“ Phraseme zeigt Lüger (1999: 21) jedoch eine „Lücke“

auf, die somit die Daseinsberechtigung des Motiviertheitsbegriffs überhaupt erst rechtfertigt. (Voll-)idiomatisch ist demnach nicht gleich (voll-)idioma-tisch: Als motiviert gelten daher nicht nur die nicht- und teilidiomatischen Wortverbindungen, sondern auch die sogenannten metaphorischen Idiome (vgl. Burger 2010: 70).

Übersicht 2-7: Zusammenhang zwischen Idiomatizität und Motiviertheit nach Lüger (1999)

Idiomatizität Motiviertheit Beispiel

voll-idiomatisiert unmotiviert Eulen nach Athen tragen idiomatisiert bildhaft motiviert das fünfte Rad am Wagen sein teil-idiomatisiert teil-motiviert jmdn. auf Herz und Nieren prüfen nicht-idiomatisiert direkt motiviert Dank sagen

57 Zu grundlegenden Problemen des Motiviertheitsbegriffs siehe Dobrovol’skij (1995:

41–45); zu verschiedenen Typen der Motivation Dobrovol’skij/Piirainen (2009:

Kapitel 1).

Unter den „phraseologischen Irregularitäten“ werden vor allem Phraseme mit Unikalia immer wieder als höchst idiomatisch bezeichnet (vgl. u. a. Häcki Buhofer 2002a: 429). Die empirischen Analysen zeigen demgegenüber ein dif-ferenzierteres Bild: Unikalia-Phraseme erstrecken sich über das gesamte Spekt-rum an Idiomatizität. So existieren neben voll-idiomatischen Wendungen (z. B.

jmdm. ein Schnippchen schlagen) auch idiomatische/bildhaft motivierte (z. B.

in der Schusslinie stehen/in die Schusslinie geraten), teil-idiomatische (z. B. sich freuen wie ein Schneekönig) und sogar nicht-idiomatische (z. B. in Bedrängnis oder unbeschrankter Bahnübergang). Bei nicht-idiomatischen Wendungen ist die unikale Komponente zwar auf ihre phraseologische Einbettung beschränkt, ihre Semantik bzw. die Semantik der gesamten Wortverbindung aber vollkom-men durchsichtig. Distributionelle Beschränkungen von Wörtern sind somit nicht zwangsläufig mit semantischer Verblassung bzw. idiomatischen Prozes-sen verbunden. Bei teil-idiomatischen Unikalia-Phrasemen resultiert der Grad der Idiomatizität nicht (nur) aus der phraseologisch gebundenen Komponente, sondern alle anderen Komponenten müssen bei der Beurteilung der Idiomatizi-tät mitberücksichtigt werden. Beispielsweise gibt es Unikalia-Idiome, bei denen zumindest die wörtliche Bedeutung einer Komponente auch in der Gesamtbe-deutung des phraseologischen Ausdrucks zur Geltung kommt (z. B. jmdm. reißt der Geduldsfaden, das Tanzbein schwingen, im Brustton der Überzeugung und am Hungertuch nagen). Besonders häufig tritt dies bei Paarformeln (z. B. klipp und klar, erstunken und erlogen und mit Fug und Recht) und komparativen Phrasemen auf (z. B. dumm wie Bohnenstroh sein, weinen wie ein Schlosshund und aufpassen wie ein Schießhund).

Insgesamt erstrecken sich „phraseologische Irregularitäten“ über die gesamte Bandbreite der Idiomatizität. Folgendes Schema verdeutlicht die graduellen Ab-stufungen (siehe Übersicht 2–8):

Übersicht 2-8: Idiomatizität formelhafter (Ir-)Regularitäten nicht-idiomatische

Wendungen teilidiomatische

Wendungen idiomatische

Wendungen vollidiomatische Wendungen zu Boden gehen, in Reih

und Glied klipp und klar,

etw. läuft/verkauft

Es existieren sowohl vollidiomatische, nicht-motivierte Wendungen wie etw.

brennt jmdm. auf/unter den Nägeln als auch idiomatische, bildhaft motivierte Wendungen wie viele Hunde/Jäger sind des Hasen Tod und teilidiomatische Wen-dungen wie etw. läuft/verkauft sich/geht weg wie geschnitten Brot. Darüber hinaus gibt es auch „irreguläre“ Wendungen, die keinerlei (semantische) Idiomatizität aufweisen, wie beispielsweise zu Boden gehen oder in Reih und Glied. „Phraseolo-gische Irregularitäten“ sind demzufolge nicht zwangsläufig idiomatisch. Seman-tische Idiomatizität ist vielmehr nur eine Erscheinungsform „phraseologischer Irregularitäten“ unter vielen anderen.

2.4.5 Frequenz und Kookkurrenz

Grundsätzlich müssen die beiden Termini „Frequenz“ und „Kookkurrenz“ strikt voneinander getrennt werden; sie sind nicht synonym:

1) Für das Kriterium der Frequenz plädiert vor allem Firth (1964) (vgl. Do-nalies 2009: 13).58 Aufgrund des methodischen Ignorierens von nicht-frequenten Wortverbindungen hat die Herangehensweise des sogenannten britischen Kontextualismus jedoch vielfach in der Kritik gestanden (vgl.

Steyer 1998: 99f.). Hierbei tritt eine grundsätzliche Frage an die Oberfläche;

nämlich die, ab welcher Quantität man von Frequenz sprechen kann:

Does frequent […] mean ,more than once‘, or twice, or even higher frequencies? None of the general definitions […] make absolute statements regarding this question.

(Bartsch 2004: 59f.)

Donalies (2009: 13) fragt im Weiteren, ob alles, was irgendwie frequent ist, ein Phrasem ist. Sie zeigt auf, dass in den IDS-Korpora der geschriebenen Sprache beispielsweise weiße Weihnacht 119mal belegt ist, weiße Wand sogar 238mal.

Ist nun weiße Wand „mehr“ ein Phrasem als weiße Weihnacht, da diese Ver-bindung doppelt so oft vorkommt bzw. ist weiße Wand überhaupt eine feste Wortverbindung? Die Gefahren von reinen Frequenzanalysen sind demnach offensichtlich: niedrig frequente, aber hoch idiomatische Wendungen werden nicht aufgedeckt, im Gegensatz dazu jedoch hochfrequente Verbindungen – jedweder Art – auf diese Weise als phraseologisch klassifiziert. Donalies (2009: 14) hält daher fest, dass exakte Frequenzanalysen keine wirkliche Hil-fe für die Analyse von Phrasemen darstellen. Auch im Bereich „phraseologi-scher Irregularitäten“ ist das Frequenzkriterium unerheblich. So gibt es zum

58 Einen guten Überblick über Kookkurrenzen und vor allem den Zusammenhang zwi-schen Kollokationen und Kookkurrenzen gibt Bubenhofer (2009: 111–129).

einen Wortverbindungen mit hohen Trefferzahlen (z. B. aus/in aller Herren Länder(n) = 4.772) und zum anderen solche mit relativ wenigen Belegen (z. B.

des Wahnsinns fette Beute = 90). Trotz dieses enormen Frequenzunterschieds werden beide Beispiele als Phraseme mit vorangestelltem Genitivattribut zu den „phraseologischen Irregularitäten“ gezählt.59 Auch Feilke (2004: 52) übt Kritik am Frequenzkriterium, indem er darauf verweist, dass die Auftretens-häufigkeit für die Qualität und Leistung eines Zeichens völlig unerheblich ist.

Vor allem ist es der nicht linguistisch zu fassende Charakter des Frequenzkri-teriums, weswegen er dieses grundsätzlich ablehnt:

Das Kriterium des mehr oder weniger frequenten Gebrauchs oder gar die Kriterien der Reproduziertheit und Gespeichertheit, zu denen die Linguistik kraft Amtes gar nichts sagen kann – und meines Erachtens auch nichts sagen sollte –, trägt zur Qualifi-zierung in Frage stehender Einheiten als Zeichen nichts bei. (Feilke 2004: 52f.)

Die Argumentation Feilkes (2004) ist zwar durchaus nachzuvollziehen, sein angeführtes Beispiel zur Verdeutlichung seiner Aussagen kann jedoch nicht völlig überzeugen. Feilke (2004: 53) stellt fest, dass es im Bereich der Kataly-satortechnik die Kollokation einen Temperaturbereich durchfahren gibt, diese jedoch in allgemeinsprachlichen Wörterbüchern nicht zu finden ist und wir diese und auch weitere Kollokationen noch nie produziert bzw. noch nie ge-hört haben. Die Krux an Feilkes (2004) Beispiel liegt jedoch im Detail: Dass diese Kollokation in allgemeinsprachlichen Wörterbüchern nicht lemmati-siert ist, liegt weniger daran, dass sie in alltäglichen Kommunikationssituati-onen nicht frequent ist, als daran, dass sie auf einen sehr speziellen Kontext beschränkt ist. Es liegt schlichtweg eine fachspezifische Wendung vor, die innerhalb eines gewissen Fachbereichs durchaus frequent bzw. usuell-re-kurrent sein kann. Zur Verdeutlichung dieser „fachspezifischen Frequenz“

sei auf die Wortverbindung einen Topspin ziehen hingewiesen, die zwar im DeReKo nur 26mal belegt ist, im Bereich des Tischtennissports jedoch eine hochfrequente und allseits bekannte Kollokation darstellt.

59 Für die Identifizierung als formelhafte Wendung reicht bei „phraseologischen Irregula-ritäten“ häufig das Vorhandensein einer ausdrucks- und/oder inhaltsseitigen „Irregu-larität“. Es muss jedoch betont werden, dass das bloße Auftreten „irregulärer“ Erschei-nungsformen keine Garantie dafür ist, dass es sich bei entsprechender Wortverbindung auch um eine phraseologische handelt. Denn die von der bisherigen Forschung als phraseologiespezifisch deklarierten „Irregularitäten“ treten auch teilweise (noch) in freien Wortverbindungen auf (siehe Kapitel 18.2).

2) Kookkurrenz unterscheidet sich insofern von Frequenz, als dass es sich

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 54-62)

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE