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Was heißt „formelhafte (Ir-)Regularität“? – Eigenschaften formelhaft (ir-)regulärer Wendungenformelhaft (ir-)regulärer Wendungen

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 91-96)

„formelhafte (Ir-)Regularität“

6) Anomalien im Gebrauch der Pronomina, insbesondere des Pronomens es ohne Verweis auf ein Kontextelement: es sich leicht/schwer machen

3.5 Was heißt „formelhafte (Ir-)Regularität“? – Eigenschaften formelhaft (ir-)regulärer Wendungenformelhaft (ir-)regulärer Wendungen

Bereits Burger u. a. (1982: 1) lassen in ihre Phraseologie-Definition den Aspekt der Regularität bzw. der Irregularität einfließen:

Phraseologisch ist eine Verbindung von zwei oder mehr Wörtern dann, wenn (1) die Wörter eine durch die syntaktischen und semantischen Regularitäten der Verknüpfung nicht voll erklärbare Einheit bilden, und wenn (2) die Wortverbindung in der Sprachge-meinschaft, ähnlich wie ein Lexem, gebräuchlich ist.

Es stellt sich jedoch die Frage, was genau mit „syntaktischen und semantischen Regularitäten“ gemeint ist. Eine Annäherung darauf findet sich bei Sabban (1998: 31), die beschreibt, dass es sich hierbei um Phraseme handelt, die „in ir-gendeiner Weise von den üblichen syntaktischen oder semantischen Regeln ab-weichen“. Semantische „Irregularität“ bezieht sich somit auf das Kriterium der Idiomatizität. Mit syntaktischer „Irregularität“ werden zum einen Erscheinungs-formen erfasst, die in der Oberflächenstruktur der Wendung existieren und zum anderen verweist der Terminus auf die Tatsache, dass sich viele Idiome den syn-taktischen Transformationen freier Wortverbindungen widersetzen (z. B. Rela-tivsatzbildung).

Im Grunde geht es bei dem Begriffspaar der „Regularität“ und „Irregularität“

also immer um den Abgleich mit dem außerphraseologischen, freien Sprachge-brauch und dessen (synchronem) Regelsystem. Formelhafte (Ir-)Regularitäten liegen laut der bisherigen Forschung demnach dann vor, wenn Abweichungen verschiedenster Art von außerphraseologischen Regeln das Phrasem kenn-zeichnen (vgl. Hessky 1992: 81). Dieses grundlegende Charakteristikum spielt dementsprechend bei den einschlägigen Definitionen die wichtigste Rolle, wie in Übersicht 3–5 zu erkennen ist:

Übersicht 3-5: Definitionsauszüge zu formelhaften (Ir-)Regularitäten

Definitionsauszüge (Hervorhebung von SöSt) Autor

„Abweichung von der Regel o. Norm. Ungewöhnliche, unregelmäßige,

archaische Erscheinung.“ Günther

(1990: 22)

„Im Hinblick auf die Identifizierung von Phraseologismen kann ihre Analyse nach den morphosyntaktischen und semantischen Regulari-täten der Sprache ebenfalls wichtige zusätzliche Anhaltspunkte liefern:

Abweichungen verschiedenster Art von diesen Regularitäten können als Zeichen für phraseologisierte, d. h. festgeprägte Fügungen gelten […].“

Hessky (1992: 81)

„[…] ältere Konstruktionsmöglichkeiten, die außerhalb der Phraseolo-gismen nicht mehr üblich sind, im festen Verband der PhraseoloPhraseolo-gismen bewahrt worden sind […].“

Fleischer (1997a: 47)

„Syntaktisch-anomal sind diese Phraseologismen deshalb, weil ihre Komponenten in einer ungewöhnlichen Kombinatorik erscheinen, die in nicht-phraseologischen Wortverbindungen nicht frei produziert werden […].“

Keil (1997:

21)

„Grundsätzlich gilt, daß grammatische Anomalien nicht als Definiens für Phraseologismen zu betrachten sind. […] Umgekehrt trifft aber auch zu, daß sie in freien Fügungen per definitionem nicht auftreten können.“

Weickert (1997: 90)

„Anomalien zeigen sich in der Irregularität der regulären paradig-matischen und syntaktischen Beziehungen zwischen den Wörtern bei deren Eintritt in die phraseologische Einheit und bei deren syntaktischen Starrheit sowie Unvollständigkeit paradigmatischer Formen des Phra-sems bzw. der Defektivität des regulären Paradigmas phraseologischer Komponenten.“

Vajičková (2003: 602)

„Diese Anomalien kommen nicht in freier Verwendung vor […]. Diese Konstruktionen […] folgen also nicht den normalen Syntaxregeln […].“

Römer/

Soehn (2007: 7) Die Annahme, eine eindeutige Grenze zwischen außerphraseologischen Regeln und phraseologischen Abweichungen ziehen zu können, muss kritisch hinter-fragt werden. Dabei sind für die vorliegende Arbeit vor allem drei Aspekte von Bedeutung:

• Zum einen muss geklärt werden, was überhaupt der „freie Sprachgebrauch“

bzw. das „außerphraseologische Regelsystem“ ist und wie dieser bzw. dieses adäquat erfasst werden kann. Dabei ist vor allem das Diktum zu hinterfra-gen, man hätte es mit einer klar zu fassenden außerphraseologischen Norm zu tun. Wie diese aussieht, ist bisher jedoch noch in keinen Arbeiten, die auf

„phraseologische Irregularitäten“ verweisen, näher beschrieben bzw. kon-kretisiert worden (siehe Kapitel 15).

• Darüber hinaus darf angesichts zahlreicher konkreter Beispiele angezweifelt werden, ob die scheinbar nur in Phrasemen vorhandenen „Abweichungen“

tatsächlich nicht (mehr) im freien Sprachgebrauch auftreten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass teilweise auch im freien Sprachgebrauch diesel-ben Besonderheiten anzutreffen sind, die bisher als phraseologiespezifisch deklariert werden (siehe u. a. Kapitel 18.2). Wie an vielen formelhaften (Ir-) Re gularitäten zu sehen sein wird, bestehen durchaus graduelle Übergänge zwischen „regulären, außerphraseologischen“ und „irregulären, phraseologi-schen“ Erscheinungen. Formelhafte (Ir-)Re gu la ri täten sind daher ein Beweis für die – zumindest aus phraseologischer Perspektive – empirisch nicht halt-bare dichotomische Trennung in Norm und „Nicht-Norm“.

• Des Weiteren muss die berechtigte Frage gestellt werden, ob es überhaupt so etwas wie „(phraseologische) Irregularität“ innerhalb unseres Sprachsystems gibt oder es vor dem Hintergrund konstruktionsgrammatischer Überlegun-gen nicht sinnvoller wäre, eine derartige Grenzziehung zwischen „regulären“

und „irregulären“ Konstruktionen aufzugeben (siehe Kapitel 17).

Eine Besonderheit formelhafter (Ir-)Regularitäten ist die Vielfalt und das weite Spektrum dieser Erscheinungen. In allen phraseologischen Klassen lassen sich formelhafte (Ir-)Re gularitäten finden (z. B. in Paarformeln wie in Reih und Glied (Apokope), komparativen Phrasemen wie wie jmd./etw. im Buche steht (Dativ-e), Modellbildungen wie was X[Nominalphrase] anbetrifft (Unikalia) und Routineformeln wie ruhig Blut! (unflektiertes Adjektivattribut)). Darüber hinaus manifestieren sie sich auf allen traditionellen Sprachbeschreibungsebenen und sind somit bei weitem nicht nur auf lexikalische oder syntaktische Phänomene beschränkt (sie-he Übersicht 3–3). Zudem ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Phrasem mehrere

„Irregularitäten“ aufweist und demzufolge ein und dasselbe Phrasem mitunter unterschiedlichen formelhaften (Ir-)Regularitäten zugeordnet werden kann.

Beispielsweise ist erhobenen Hauptes ein adverbialer Genitiv und kann aufgrund des Nullartikels auch als Artikel(ir)regularität klassifiziert werden, die Wendung das Kind mit dem Bade ausschütten ist einerseits aufgrund ihrer hohen Idioma-tizität semantisch „irregulär“, andererseits weist sie mit Bade ein Dativ-e auf und die adverbial verwendete gesprächsspezifische Formel meines Erachtens steht nicht nur im Genitiv, sondern beinhaltet zudem eine unikale Komponente.

Von formelhaften (Ir-)Regularitäten muss grundsätzlich die sogenann-te „transformationelle Defektivität“ abgegrenzt werden (vgl. Gläser 1990:

60), die sich in Form morphosyntaktischer und lexikalisch-semantischer Res-triktionen bemerkbar macht (vgl. Burger 2010: 21–23): Morphosyntaktische Restriktionen äußern sich darin, dass bestimmte morphologische und/oder

syntaktische Operationen, die bei freien Wortverbindungen möglich sind, bei Phrasemen nicht vorgenommen werden können, ohne dass die phraseologi-sche Bedeutung in Mitleidenschaft gerät (z. B. Das ist kalter Kaffee ,das ist längst bekannt, uninteressant‘ à?Das ist Kaffee, der kalt ist). Lexikalisch-semantisch eingeschränkt sind Wendungen, wenn sich ihre Komponenten nicht durch syno-nyme bzw. bedeutungsähnliche Lexeme ohne Bedeutungsverlust ersetzen lassen (z. B. die Flinte ins Korn werfen à ?das Gewehr ins Korn werfen bzw. ?die Flinte in den Hafer werfen).78

In diesem Zusammenhang sei auf ein grundlegendes Problem hingewiesen:

Die Beispiele, die als Beweis des transformationellen Defizits von Phrasemen angeführt werden, basieren in den meisten Fällen nicht auf empirischen Ana-lysen. Das Kriterium der Restriktion ist rein theoretisch und gelangt dann an seine Grenzen, wenn man sich den tatsächlichen Sprachgebrauch ansieht. Als Veranschaulichung dieser Problematik sei an dieser Stelle eine etwas längere Ar-gumentation von Donalies (2005: 341) angeführt:

,Die syntaktisch-strukturelle Stabilität lässt sich in einer Reihe von transformationellen Defekten erfassen‘ (Chrissou 2000, S. 32). So sollen etwa Relativtransformationen nicht möglich sein, z. B. ,*der Korb, den er mir gegeben hat‘ (ebd., S. 33). Ist das wirklich un-grammatisch? Ich habe kein Problem, sowas zu formulieren wie: den Korb, den er mir da gegeben hat, den kann er sich an den Hut stecken. Ich habe auch kein Problem, sowas zu belegen: Doch das Lamentieren der USA über den Korb, den die EU der Türkei gegeben hat, hilft nicht weiter (Die Presse, 05.05.1998), mit dem Korb, den er Festspiel-Intendant Mortier 1995 gab (Oberösterreichische Nachrichten, 22.10.1999), Jacqueline Fehr nahm den Korb, den ihr der GBKZ gegeben hatte, gestern gelassen entgegen (Züricher Tagesan-zeiger, 11.09.1999).

Burger (2002: 395f.) kommt daher zu dem Schluss, dass die formalen und se-mantischen Res triktionen nicht für alle Phraseme in gleich starkem Maße gelten.

78 Die angeführten Beispiele stammen aus Burger (2010: 21f.). Für ausführlichere Infor-mationen zu den verschiedenen Arten der morphosyntaktischen Restriktionen siehe u. a. Fleischer (1997a: 49–58); Möhring (1996a, 1996b); Piitulainen (1996a, 1996b) sowie Dobrovol’skij (1999a). Eine besondere Form phraseologischer Gebrauchsres-triktionen stellen geschlechtsspezifische Einschränkungen dar. So gibt es nicht wenige Idiome, die – vor allem aufgrund ihres Ausgangs- und/oder Zielkonzepts – nur auf ein Geschlecht referieren (können). Als Beispiel ließe sich die Wendung sich etwas in den Bart murmeln/brummen anführen, deren Ergänzungen aufgrund biologisch-anatomi-scher Faktoren in sämtlichen von Dobrovol’skij/Piirainen (2009: 138) ausgewerte-ten Belegstellen ausschließlich Männer sind. Zu geschlechtsbedingausgewerte-ten Restriktionen siehe vor allem Piirainen (1999, 2000: Kapitel 5.1, 2001, 2004) sowie Dobrovol’skij/

Piirainen (2009: Kapitel 5).

Auch handelt es sich hierbei nicht um vollkommen ungrammatische Konstruk-tionen, da – auch wenn ein Phrasem durch eine gewisse Transformation seinen phraseologischen Status verliert – es nicht zu fehlerhaften Äußerungen kommt.

Burger (2010: 23) stimmt außerdem mit Donalies (2005) überein, wenn er nochmals betont, dass sich im Grunde alle Operationen, die man nach der ei-genen Sprachintuition für unmöglich halten würde, sowohl in gesprochenen als auch geschriebenen Texten finden lassen.79 Die vorliegende Arbeit blendet solche transformationellen Defekte aus dem Bereich der formelhaften (Ir-)Re-gularitäten aus. Denn zum einen ist dieses stark generativistisch orientierte Cha-rakteristikum – wie oben besprochen – empirisch nur schwer haltbar und zum anderen beziehen sich Verwendungsrestriktionen auf die Formveränderlichkeit einzelner Komponenten, die nur mithilfe verschiedener operationeller Tests in Form grammatischer Umformungen (z. B. Passiv-, Relativsatz- und Fragesatz-transformation) ermittelt werden können (vgl. Hessky 2000: 2103 und Keil 1997: 22). Für formelhafte (Ir-)Regularitäten ist es jedoch entscheidend, dass diese unmittelbar an der kontextunabhängigen Nennform bzw. in der Oberflä-chenstruktur der Wendung zu erkennen sind. Für ihre Identifikation sind keine Umformungstests notwendig.

Der Verweis darauf, dass formelhafte (Ir-)Regularitäten ältere Sprachbestände transportieren, ist in der Forschung häufig zu finden. Es handelt sich hierbei aber nicht um ein notwendiges Merkmal. In erster Linie geht es um den Vergleich mit dem außerphraseologischen Sprachgebrauch auf synchroner Ebene. Die Tatsache, dass es infolgedessen zu „Abweichungen“ kommen kann, weil in einer Wendung eine historische Form erhalten geblieben ist, die im heutigen freien Sprachgebrauch nicht mehr vorkommt, ist zwar für viele formelhafte (Ir-)Regu-laritäten charakteristisch, aber eben nicht die einzige Möglichkeit. Die „Irregula-rität“ muss nicht immer historisch bedingt sein, sondern kann auch in gewisser Weise synchron, ad hoc entstehen (siehe Kapitel 16.3).

Zusammenfassend weisen formelhafte (Ir-)Regularitäten folgende thesenar-tig aufgelisteten Merkmale auf:

79 So auch Hessky (1992: 81): „Zweifellos gibt es diese Phänomene auf der Systemebene, zugleich aber findet man unschwer eine Fülle von Belegen dafür, daß in konkreten Textzusammenhängen so gut wie sämtliche Restriktionen und Irregularitäten aufge-hoben werden können […].“

1) Sie sind größtenteils nur (noch) innerhalb formelhafter Wendungen

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 91-96)

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