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Formelhaftigkeit pur – Eine Modellbildung mit nachgestelltem Adjektivattribut

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 164-171)

Die Vielfalt formelhafter (Ir-)Regularitäten

1) Bereich der poetischen Sprache (Volkslieder und Literatursprache): Laut Marschall (1992: 76) ist das nachgestellte unflektierte Adjektivattribut seit

6.5 Beispielanalysen: Neue produktive Konstruktionen mit Adjektivbesonderheiten

6.5.2 Formelhaftigkeit pur – Eine Modellbildung mit nachgestelltem Adjektivattribut

Einen in der Gegenwartssprache produktiven Typ adjektivischer Nachstellung stellen solche Verbindungen dar wie Spannung pur, Sonne satt und Fußball bru-tal. Dürscheid (2002: 67) sieht das Besondere an diesen Konstruktionen in fol-genden vier Punkten begründet:

• Das Bezugsnomen dient nicht zur Kategorisierung von Objekten. Deutlich wird dies darin, dass überwiegend Kontinuativa anstatt Appellativa die Ver-bindung eingehen.

• Mithilfe der Adjektive kann eine wertende Sprechereinstellung ausgedrückt werden.

• Die attributive Lesart bleibt bei Einbettung der Konstruktion in die Satzsyn-tax erhalten.

• Nachgestellte Adjektive dieses Konstruktionstyps stellen eine geschlossene Liste dar.142

Diese Fälle grenzen sich darüber hinaus insofern von anderen Typen mit Adjektiv-Nachstellung ab, als dass sie Konstruktionen mit Leerstellencharakter darstellen und sie somit „nach dem Prinzip der Phraseoschablonen Formen produzieren, die selbst nicht mehr produktiv sind“ (Gréciano 1999: 4f.). Die Modellbildung setzt sich aus dem unflektierten postnominalen Adjektivattribut und der Leerstelle einer Substantivergänzung (in fast allen Fällen ohne Artikel) zusammen, woraus sich folgende Strukturformel ergibt: X[Nomen] pur/satt/brutal.

1) X[Nomen] pur

Das wohl bekannteste Beispiel der hier behandelten Modellbildungen ist X[Nomen]

pur. So widmet sogar Sick (2004) diesem Phänomen in seinem Bestseller „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ ein ganzes Kapitel namens „Die reinste Puroma-nie“. Entgegen allen sprachkritischen Stimmen sieht die vorliegende Arbeit diese Konstruktion jedoch nicht als eine von der Grammatik abweichende, „irregulä-re“ Form an, sondern als eine (hoch-)produktive formelhafte Wendung, in der die Nachstellung des Adjektivs bei einigen Substantiven gar der unmarkierte Fall ist.

142 Dürscheid (2002) erläutert aus dieser geschlossenen Liste die fünf Adjektive pur, brutal, satt, total und light (z. B. in Linguistik light) näher. Ich werde lediglich auf die ersten drei eingehen und verweise für weitere Ausführungen auf Dürscheid (2002).

Übersicht 6-2: Korpusauswertung der Voran- und Nachstellung von pur postn.

in % Substantiv prän. postn. postn.

in % Substantiv prän. postn.

99 Stimmung 6 625 83 Lebensqualität 7 35

99 Sonne 6 567 82 Idylle 47 209

98 Spannung 34 1.819 82 Nervenkitzel 50 230

98 Dramatik 18 748 79 Nostalgie 76 278

98 Party 6 336 79 Hektik 14 90

98 Fußball 3 183 77 Erotik 26 87

98 Partystimmung 2 123 77 Wahlkampf 50 166

97 Gänsehaut 7 220 76 Fahrspaß 47 152

97 Klassik 5 151 76 Naturerlebnis 20 62

96 Natur 145 3.805 75 Emotion(en) 118 354

96 Wellness 3 74 75 Musikgenuss 23 70

96 Hochspannung 3 67 72 Unterhaltung 196 504

95 Abstiegskampf 56 1.081 72 Faszination 26 66

95 Erlebnis 8 142 71 Stress 191 474

95 Akrobatik 3 62 69 Optimismus 46 103

93 Romantik 41 506 67 Naturgenuss 7 14

93 Abenteuer 21 289 64 Chaos 122 219

93 Tristesse 9 120 64 Frust 61 110

92 Badespaß 7 84 63 Lebensgefühl 11 19

92 Gänsehautfeeling 5 57 59 Harmonie 65 94

91 Action 37 389 56 Begeisterung 104 133

91 Laune 8 85 55 Scheinheiligkeit 9 11

89 Urlaubsfeeling 4 34 51 Spaß 253 266

89 Frauenpower 8 64 50 Power 76 75

89 Frohsinn 7 57 47 Luxus 355 316

88 Comedy 12 88 45 Horror 61 50

87 Adrenalin 32 222 40 Lebensfreude 553 373

87 Exotik 6 40 40 Populismus 343 230

86 Urlaubsgefühl 2 12 37 Zynismus 162 96

86 Urlaubsstimmung 3 19 34 Freude 741 376

85 Erholung 62 350 34 Leidenschaft 205 104

85 Kapitalismus 42 235 26 Lebenslust 105 36

85 Sonnenschein 19 112 24 Vergnügen 467 148

84 Gaudi 16 85 17 Arroganz 34 7

84 Musik 52 268 7 Wahnsinn 214 15

Dies verdeutlichen die Ergebnisse einer von mir durchgeführten Korpusanalyse.

Im Zuge derer werden bestimmte Substantive im Hinblick auf die Nach- bzw.

Voranstellung des Adjektivattributs pur überprüft. Wie Übersicht 6–2 zu entneh-men ist, wird bei bestimmten Bezugswörtern fast ausschließlich die Postposition bevorzugt (z. B. Stimmung, Sonne, Spannung und Dramatik).

Die Semantik des Adjektivs pur innerhalb dieser Wendungen muss von der in der bereits angeführten Wortverbindung Whisky pur abgegrenzt werden. In Whisky pur trägt das Adjektiv die Bedeutung ,unvermischt‘, in den hier vorlie-genden Modellbildungen wird diese aber von weiteren Konnotationen, die sich mit ,unverfälscht, ungetrübt, durch und durch‘ beschreiben lassen, angereichert (vgl. Dürscheid 2002: 67). Eine Frage, die ebenfalls die Semantik betrifft, ist die, ob sich die Position des Adjektivs auf die Bedeutung der Wendung auswirkt.

Mit anderen Worten: Besteht ein semantischer Unterschied zwischen den beiden Alternativen X[Nomen] pur[unflektiert] versus pur[flektiert] X[Nomen]? Insgesamt ergibt sich bei den ausgewerteten Fällen kein signifikanter Bedeutungsunterschied, der mit dem post- bzw. pränominalen Gebrauch des Adjektivs in Verbindung gebracht werden könnte. Zur Verdeutlichung dieser Bedeutungskonstanz seien hier drei Beispiele angeführt, in denen bei unterschiedlicher Nominalphrase (jedoch mit derselben Verbalergänzung!) dieselbe Semantik zum Ausdruck kommt:

„Stimmung pur“/„pure Stimmung“ war angesagt

(26) Stimmung pur war angesagt, als es mit der Tanzgruppe La Vida auf Weltreise ging. (Rhein-Zeitung, 29.01.2013)

(27) Pure Stimmung war bei Sängerin Claudia Damiani aus Burgbrohl angesagt.

(Rhein-Zeitung, 04.02.2008)

Das ist „Abstiegskampf pur“/„purer Abstiegskampf“

(28) „Das ist ein sehr delikates Spiel. Das ist Abstiegskampf pur. Ich hoffe, dass wir weitere Fortschritte machen“, sagte VfB-Trainer Christian Gross und unterstrich die Bedeutung der heutigen Partie. (Mannheimer Morgen, 22.01.2010)

(29) „Das ist purer Abstiegskampf jetzt. Wir haben aber vollstes Vertrauen in die Mannschaft – egal, wer heute aufläuft“, sagt der Kästorfer Trainer, der erneut ei-nige Personalsorgen und Fragezeichen im Kader hat. (Braunschweiger Zeitung, 13.05.2009)

Es herrschte „Begeisterung pur“/„pure Begeisterung“

(30) Nach sieben Spielen ohne Gegentor herrscht bei den noch ungeschlagenen Stutt-gartern Begeisterung pur. (Mannheimer Morgen, 30.09.2003)

(31) Bei den Kindern herrschte am Mittwoch im Goldacher Freibad Seegarten pure Begeisterung – so erzählt etwa eine sichtlich stolze Erstklässlerin, dass sie erst seit kurzem 25 Meter ohne Probleme schwimmen könne. (St. Galler Tagblatt, 21.06.2013)

Auch wenn die Voran- bzw. Nachstellung von pur keinen signifikanten Einfluss auf die denotative Bedeutungskomponente der Nominalphrase nimmt, kann dennoch ein konnotativer/assoziativer Unterschied festgestellt werden. Der postnominale Gebrauch führt zu einer stärkeren Intensivierung gegenüber der pränominalen Verwendung; er dient in der Umgangssprache als ausdrucksver-stärkendes Stilmittel (vgl. Duden 2011: 50). Die Nachstellung stellt im Grun-de eine Verabsolutierung dar, die mithilfe Grun-der Voranstellung nicht im gleichen Maße erzeugt werden kann (z. B. Begeisterung < pure Begeisterung < Begeisterung pur). So ist der Abstiegskampf pur (noch) nervenaufreibender, kraftzehrender, dramatischer, leidenschaftlicher etc. als der pure Abstiegskampf und die Begeiste-rung pur (noch) emotionaler, freudig-erregter, enthusiastischer etc. als die pure Begeisterung. Im Sinne der Frame-Semantik eröffnet beispielsweise die Formel Abstiegskampf pur aufgrund ihrer Modellhaftigkeit und (psycholinguistischen) Festigkeit einen (für Fußballinteressierte) sehr konkreten Frame und mehrere mit ihr vernetzte Frames.143 Sie weist eine detailliertere und ausdifferenziertere Semantik auf als lediglich die freie Wortverbindung purer Abstiegskampf. Hierzu trägt mit Sicherheit auch die mehr oder weniger feste Struktur bei, in der diese Verbindung in Form einer Modellbildung eingelassen ist.

2) X[Nomen] satt

Im Gegensatz zu X[Nomen] pur ist die Modellbildung X[Nomen] satt weitaus geringer im DeReKo zu finden, besitzt aber ebenso wie die Konstruktion mit pur eine intensivierende Funktion (vgl. Dürscheid 2002: 69). Am häufigsten ist satt mit dem Bezugswort Sonne in postnominaler Stellung realisiert (873mal):

(32) Der Sommer 2011 wird den Toggenburgern nicht in guter Erinnerung bleiben.

Statt Sonne satt war das Wetter durchzogen, es hat häufig geregnet und war kühl.

(St. Galler Tagblatt, 13.08.2011)

143 Der Frame zu Abstiegskampf pur beinhaltet dabei solche Prädikationen wie ,psychi-sche und physi,psychi-sche Belastung‘, ,schwierige (sportliche) Situation‘, ,Existenzängste der Spieler, des Vereins und der Fans‘ etc.

Am zweithäufigsten ist satt in Verbindung mit Fußball belegt (174mal).

(33) Bei den Bucher Kickers steht am Wochenende Fußball satt auf dem Programm:

Heute Abend stehen sich ab 19 Uhr ein Jubiläums- und ein Nachwuchsteam des Sportvereins gegenüber. (Rhein-Zeitung, 19.05.2006)

Stichprobenartig durchgeführte COSMAS-II- sowie Google-Abfragen ergeben u. a. die in Übersicht 6–3 aufgelisteten Substantive, die die Leerstelle der Modell-bildung X[Nomen] satt ausfüllen. Diese lassen sich grob in vier onomasiologische Bereiche aufteilen: ,Lebensmittel‘, ,Emotionen‘, ,Freizeit/Urlaub/Sport‘ und ,Wet-ter‘:

Übersicht 6-3: Nominalergänzungen zu X[Nomen] satt nach onomasiologischen Bereichen ,Lebensmittel‘ ,Emotionen‘ ,Freizeit/Urlaub/

Innerhalb dieser Konstruktion erfährt das Adjektiv satt im Zuge der Nachstel-lung eine Bedeutungsveränderung. Während es pränominal in etwa die Bedeu-tung von ,ansehnlich‘ (z. B. ein satter Gewinn) sowie in Bezug auf Farben bzw.

Klänge ,kräftig‘ (z. B. ein sattes Grün und satte Basslines) besitzt, bedeutet es in postnominaler Stellung so viel wie ,reichlich, genug‘ (vgl. Dürscheid 2002: 69).

3) X[Nomen] brutal

Das Adjektiv brutal geht mit sehr verschiedenen Bezugswörtern eine Verbin-dung ein. Besonders viele Beispiele stammen aus den Bereichen ,Sport‘ (z. B.

Basketball und Eishockey) und ,Fest‘ (z. B. Weihnachten und Hochzeit). Übersicht 6–4 gibt einen Überblick über Substantive, die mit postnominalem brutal in einer Nominalphrase stehen können. Als Grundlage dienen COSMAS-II- und Google-Abfragen:

Übersicht 6-4: Nominalergänzungen zu X[Nomen] brutal nach Fahrschule, Ferien, Fernsehen, Kino, Kunst, Parlament, Schule, Schulhof, Sex, Sommer, TV, Urlaub, Verbre-chen, Wahlkampf, Winter

brutal

Ebenso wie bei Wendungen mit pur und satt weisen die Bezugswörter mit nachgestelltem brutal auch keinen Artikel auf. Im Gegensatz zu pur und satt besitzt brutal innerhalb dieser Konstruktion jedoch keine primär intensivie-rende Wirkung, sondern in erster Linie eine deskriptiv-wertende Funktion (vgl.

Dürscheid 2002: 69), wie an folgender Bildunterschrift zu erkennen ist:

(34) Fußball brutal: Belgiens Keeper Stijn Stijnen (r.) verpasst Lukas Podolski einen Kung-Fu-Tritt. Poldi trägt eine Rippenverletzung davon (l.). (Hamburger Mor-genpost, 21.08.2008)

Besonders interessant an der Verbindung Fußball brutal ist, dass das Adjektiv nicht nur in Bezug auf zu hartes bzw. körperbetontes Spiel gebraucht wird (wie im obi-gen Beispiel), sondern auch mit der Bedeutung ,ungerecht, unfair, bitter etc.‘:

(35) Rheinbreitbachs Spielertrainer Carsten Lelke verstand hinterher die Fußball-Welt nicht mehr. „Das war Fußball brutal. Wir machen das Spiel, treffen aber die Kiste nicht.“ (Rhein-Zeitung, 02.04.2005)

Trotz dieses Belegs, in dem sich brutal nicht auf physische Gewalt bezieht, wird mit der Modellbildung X[Nomen] brutal in den meisten Verbindungen dieser Be-deutungsaspekt fokussiert. Auffällig ist darüber hinaus, dass die Konstruktion häufig als Aufhänger für eine Schlagzeile verwendet wird und somit nicht in die Satzstruktur miteingebettet ist, sondern isoliert als „Eyecatcher“ fungiert:

(36) Schule brutal: Bei einer tätlichen Auseinandersetzung in einer Mainzer Haupt-schule verletzte am Dienstag vormittag ein 15- jähriger Hauptschüler eine 52-jährige Lehrerin. (Rhein-Zeitung, 29.01.2004)

(37) Wahlkampf brutal: Weil sich Dennis K. über die NPD-Plakate vor seinem Ge-schäft beschwerte, bedrohten Neo-Nazi Thomas Wulff und seine Partei-Freunde den 29-Jährigen mit einer Axt, spuckten ihm ins Gesicht -und traten auf ihn ein.

(Hamburger Morgenpost, 27.01.2011)

(38) Karneval brutal: Gleich mehrere Schlägereien haben die Polizei Koblenz am Wochenende auf Trab gehalten. (Rhein-Zeitung, 27.02.2006)

Insgesamt können die hier vorgestellten Modellbildungen X[Nomen] pur/satt/brutal als (hoch-)produktive Konstruktionen der deutschen Gegenwartssprache ange-sehen werden. Sie zeigen, dass die als „phraseologische Irregularität“ bezeichnete Nachstellung des attributiven Adjektivs auch heute noch – zumindest im Rah-men der hier analysierten Modellbildungen – als produktiver Konstruktionstyp vorkommen kann. Ebenfalls von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die X[Nomen] pur/satt/brutal-Konstruktion entgegen der Annahme Dürscheids (2002: 80) gehäuft auch in gesprochener Sprache zu finden ist. So führen Best/Zhu (1993: 21) Belege für diese Beobachtung an und konstatieren, dass die Konstruktion nicht mehr nur auf die geschriebene Gegenwartssprache beschränkt ist. Dem aufmerksamen Beobachter fallen vermehrt gesprochen-sprachliche Beispiele auf. So spricht der Moderator der ARD Sportschau be-züglich des Fußballvereins Dynamo Dresden von Tradition pur144 und in einem Spielbericht über den Hamburger SV bezeichnet der Kommentator die Abwehr der Hanseaten als Unordnung pur145.

144 Hörbeleg, ARD, Sportschau, 2014 (genaues Datum nicht mehr bekannt).

145 Hörbeleg, ARD, Sportschau vom 30.08.2014.

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