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Phraseme mit phraseologisch gebundenen Bedeutungen: Der Begriff der

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 108-116)

Die Vielfalt formelhafter (Ir-)Regularitäten

2) Phraseme mit phraseologisch gebundenen Bedeutungen: Der Begriff der

„phraseologisch gebundenen Bedeutung“ wird bereits von Schmidt (1966: 69) als ein besonderes Phänomen der Phraseologie definiert. Wörter mit phraseolo-gisch gebundener Bedeutung existieren zwar im freien Sprachgebrauch, weisen innerhalb des Phrasems aber eine „unikale“, an die feste Wortverbindung gebun-dene Bedeutung auf (vgl. Dobro vol’skij 1982: 52). Ihre wendungsinterne Bedeu-tung weicht von ihrer wendungsexternen ab (z. B. Schwein haben ,Glück haben‘).

In der vorliegenden Arbeit stehen aufgrund der enorm schwierigen Abgrenzung der phraseologisch gebundenen Bedeutungen von freien Wörtern, die sich vor allem daraus ergibt, dass die Kriterien für die Selektion gebundener Homonyme recht subjektiv und unzuverlässig sind (vgl. Dobrovol’skij 1988: 101), phra-seologisch gebundene Formative (Unikalia) im Mittelpunkt der Betrachtungen.

Es werden nur solche Wörter als phraseologisch gebunden angesehen, die aus-drucksseitig unikal sind.

Nach Dobrovol’skij (1989b) können Unikalia anhand dreier selbstständiger Klassifikationskriterien beschrieben werden:

1) Der sogenannten genetischen Klassifikation liegt die Auffassung zugrunde, dass Unikalia-Idiome aus freien Wortgruppen entstehen, wodurch ihre phra-seologisch gebundenen Komponenten diachron auf freie Lexeme zurück-führbar sind (vgl. Dobrovol’skij 1979: 42). Ziel dieser Klassifikation ist die Analyse der sprachlichen Mechanismen, deren Einfluss zur formalen Isola-tion der Wörter geführt hat (vgl. Dobrovol’skij 1989b: 58). Auf Grundlage der genetischen Untersuchung erkennt die Forschung die phraseologischen Konstituenten als ehemalige eigenständige Lexeme an, weshalb ihr Wortcha-rakter auch auf synchroner Ebene hervorgehoben werden muss.88

2) In der etymologischen Klassifikation steht die äußere Dynamik der Phra-seologisierungsprozesse im Mittelpunkt. Sie unterscheidet sich von der gene-tischen Betrachtungsweise insofern, als sie eine Quellenforschung erfordert und somit von einem außersprachlichen, kulturhistorischen Charakter ge-prägt ist (vgl. Dobrovol’skij 1989b: 61). Es ist jedoch hervorzuheben, dass aufgrund system interner und außersprachlicher Faktoren beide – genetische und etymologische – Kategorisierungen eng miteinander verknüpft sind und sich teilweise in wechselseitiger Abhängigkeit befinden (vgl. Dobrovol’skij 1989b: 62).

3) Die strukturtypologische Klassifikation beschäftigt sich mit dem de-terminierenden bzw. determinierten Charakter der Konstituenten. Die determinierende Konstituente eines Phrasems wird als Grundkonsti-tuente bezeichnet und ist mit der unikalen Komponente identisch (vgl.

88 Kritisch anzumerken ist, dass der phraseologisch gebundene Charakter einiger Bei-spiele, die Dobrovol’skij (1979: 58f., 1988: 108) für seine genetische Klassifikation der Lehnübersetzung auflistet, aufgrund ihres Eigennamencharakters angezweifelt werden kann (z. B. seit Olims Zeiten, der Dolch des Brutus, die Büchse der Pandora, das Schwert des Damokles und den Rubikon überschreiten). Er bezeichnet diese daher als „Grenzfälle der phraseologischen Gebundenheit des Formativs“ (Dobrovol’skij 1988: 108).

Dobrovol’skij 1978: 29). Aus strukturell-morphologischer Sicht lassen sich nach Dobrovol’skij (1989b: 68–75) vier Klassen unterscheiden: Grund-morpheme (z. B. mit Fug und Recht), Wortbildungskonstruktionen (z. B. von Kindesbeinen an), Wortformanomalien (z. B. auf großem Fuße leben) und sich wechselseitig determinierende Konstituenten (z. B. Zeter und Mordio schreien).89

Feyaerts (1994:  136) kritisiert die bisherigen semantischen Beschreibungen von Unikalia als zu allgemein und unnuanciert. Seine Kategorisierung verfolgt das Ziel, die komplexe Semantik unikaler Komponenten unter Einbeziehung ih-rer wesentlichen lexikalisch-semantischen Eigenschaften zu typologisieren. Als Klassifikationsbasis macht sich Feyaerts (1994: 137–145) das prismatische Be-deutungsmodell nach Geeraerts/Bakema (1993) zunutze. Dieses bringt den Vorteil mit sich, dass neben der Idiomatizität auch noch weitere semantische Eigenschaften wie z. B. Motiviertheit und Isomorphie mitberücksichtigt werden (vgl. Feyaerts 1994:  137).90 Feyaerts (1994:  148–159) führt schließlich Ei-genschaften an, die als Dimensionen für die Einteilung von (niederländischen) Unikalia fungieren, die sich aber größtenteils mit der strukturtypologischen Klassifizierung von Dobrovol’skij (1978) decken: ausschließliches Vorkommen der Form in festen Verbindungen, Fehlen einer wendungsexternen Bedeutung, phraseologisch gebundene Simplizia, phraseologisch gebundene Wortbildungs-konstruktionen, formal-semantische Verwandtschaft mit freien Lexemen, Wort-formanomalien, Unikalia mit wechselseitiger Determination.

Feyaerts (1994:  155) veranschaulicht seine Klassifizierung mithilfe einer Grafik und niederländischen Beispielen. Die grafische Darstellung verdeutlicht, dass die sieben angeführten Merkmale keineswegs als statisch aufzufassen sind, sondern durchaus Überschneidungen zwischen einzelnen Merkmalen bestehen.

Dieser dynamische Ansatz wird demnach der (semantischen) Heterogenität unikaler Komponenten gerecht, da er graduelle Übergänge aufdeckt. Feyaerts

89 Es muss jedoch betont werden, dass die sogenannten Wortformanomalien meines Erachtens keine Unikalia sind, da es sich hierbei nicht um ein lexikalisches, sondern ein morphosyntaktisches Phänomen handelt. Sie werden in der vorliegenden Arbeit daher als eigenständige formelhafte (Ir-)Regularität in Kapitel 5 („Dativ-e“) behandelt.

90 Geeraerts/Bakema (1993) nehmen in ihrem Modell eine Unterscheidung in Syntag-matik (= Beschreibung des Verhältnisses zwischen den Komponentenbedeutungen und der Gesamtbedeutung) und Paradigmatik (= Beschreibung des Verhältnisses zwischen phraseologischer und wendungsexterner Bedeutung) vor. Der Vorteil des Modells be-steht für Feyaerts (1994: 141) darin, dass es „sowohl die syntagmatische als auch die paradigmatische Bedeutungssystematik in sich vereint.“

(1994: 159f.) schlussfolgert daher, dass es sich bei Unikalia in Bezug auf ihre Se-mantik um eine prototypische Kategorie handelt. Der Überlegung, wie der Proto-typ aussehen könnte, geht er jedoch nicht weiter nach (vgl. Feyaerts 1994: 160).

Dobrovol’skij/Piirainens (1994a, 1994b) Ziel ist die Erstellung einer Liste mit „lebendigen“ Unikalia-Idiomen. Sie führen hierfür Informantenbefragun-gen durch. Verschiedenen Gewährspersonen wird eine Ausgangsliste mit Uni-kalia-Idiomen vorgelegt. Die Teilnehmergruppe gliedert sich nach Alter in drei Gruppen: (a) die Gruppe der 60–80jährigen, (b) die der 30–50jährigen sowie (c) Schüler im Alter von 13–19 Jahren. Aufgrund des Altersunterschieds der Grup-pen kommen Dobrovol’skij/Piirainen (1994a: 69) zu dem Ergebnis, dass „vie-le Idiome, die der ältesten Gruppe geläufig erschienen, den Jugendlichen nicht einmal vom Hören bekannt [waren].“ Beispielsweise kannte niemand der mitt-leren und jüngeren Generation das Phrasem seinen Kotau machen. Das Ergebnis der Untersuchung von Dobrovol’skij/Piirainen (1994a, 1994b) besteht somit in der Erkenntnis, dass sich Unikalia-Idiome in „lebendige“, d. h. gebräuchliche, und in „veraltete“ unterteilen lassen, was analog auch für viele andere Phraseme gilt, die keine unikalen Elemente aufweisen. Es handelt sich hierbei also keines-wegs um ein spezifisches Merkmal von Wendungen mit Unikalia.

Auf drei Kritikpunkte, die speziell das (methodische) Vorgehen von Dobrovol’skij/Pirrainen (1994a, 1994b) betreffen, muss an dieser Stelle noch hingewiesen werden:

• Das elementare Problem der Informantenbefragung besteht darin, dass Dobrovol’skij/Piirainen (1994a, 1994b) ihre Kriterien zur Klassifikation eines Idioms als „lebendig“ oder „veraltet“ nicht transparent machen.91 Sta-tistische Informationen, die zur Aufklärung dieser Frage beitragen könnten wie beispielsweise die Anzahl der Versuchspersonen, werden nicht angege-ben. Demnach sind auch keine Hinweise darüber zu finden, wie viele Per-sonen ein Phrasem kennen müssen, damit dieses als „lebendig“ klassifiziert werden kann.

• Dobrovol’skij/Piirainen (1994a:  75) führen ergänzend eine Textstich-probe durch und kommen zu dem Ergebnis, dass sowohl „lebendige“ als auch „veraltete“ Unikalia-Idiome in Texten realisiert werden. Ihrer Ansicht nach zeugt dies davon, dass mentale Präsenz und Frequenz nicht identisch

91 Darüber hinaus sind die von Dobrovol’skij/Piirainen (1994a, 1994b) gewählten Termini „lebendig“ und „veraltet“ zu überdenken. Besser wäre hier beispielsweise die Unterscheidung in „gebräuchlich“ versus „nicht (mehr) gebräuchlich“ respektive „men-tal präsent“ versus „nicht men„men-tal präsent“.

sind und dass bestimmte Texte unter Verwendung von Sprachmaterial konstruiert werden, das dem durchschnittlichen Sprachbenutzer nicht un-bedingt bekannt ist (vgl. Dobrovol’skij/Piirainen 1994a: 75f.). Dies darf jedoch nicht so einfach pauschalisiert werden. Die von mir durchgeführte Korpusanalyse von Unikalia zeigt – im Gegensatz zu den kleinen Stichpro-ben, die Dobrovol’skij/Piirainen (1994a: 75) vornehmen –, dass die Fre-quenz vieler „veralteter“ Unikalia-Idiome (z. B. aus Jux und Tollerei) nicht gerade gering ist. Demgegenüber sind bestimmte Unikalia-Idiome, die von Dobrovol’skij/Piirainen (1994a: 71f.) als „lebendig“ gekennzeichnet wer-den (z. B. sich mausig machen), kaum belegt.

• Im Grunde ist die Unterscheidung in „lebendige“ und „veraltete“ Unikalia-Idiome genauso wenig haltbar wie die Klassifizierung in „phraseologisch ge-bundene“ und „nicht phraseologisch gege-bundene“ Konstituenten. Denn die Informantenbefragung von Dobrovol’skij/Piirainen (1994a, 1994b) tes-tiert neben den „lebendigen“ und „veralteten“ Unikalia-Idiomen auch eine große Gruppe, die dem Grenzbereich dieser beiden Kategorien zuzuordnen ist, die also weder eindeutig als „lebendig“ noch eindeutig als „veraltet“ klas-sifiziert werden kann (Dobro vol’skij/Piirainen 1994a: 70).

4.3.2 Problematik der bisherigen Definitionen und Kategorisierungsmodelle

Die bisherigen Kategorisierungsansätze sind theoretisch fundiert und beziehen verschiedene Beschreibungsebenen mit ein (strukturell, semantisch, etymo-logisch etc.), besitzen aber eine eklatante Schwachstelle: Sie erwecken die Vor-stellung, man könne problemlos zwischen „phraseologisch gebundenen“ und

„nicht phraseologisch gebundenen“ Elementen unterscheiden und infolge des-sen eine geschlosdes-sene und reprädes-sentative Liste an phraseologisch gebundenen Komponenten aufstellen. So liegt Dobrovol’skijs (1978) Untersuchung zwar eine Liste mit Unikalia zugrunde, deren Anfertigung geht allerdings auf sein eigenes Sprachgefühl zurück. Auch die Vorgehensweise von Feyaerts (1994) erscheint angesichts der Tatsache problematisch, dass seine lexikalisch-seman-tische Kategorisierung ausschließlich auf theorelexikalisch-seman-tischen Überlegungen basiert, die lediglich durch einige Beispiele gestützt werden.92 Und auch die Studie von

92 Darüber hinaus führt Feyaerts (1994) nur niederländische Beispiele an, wodurch sei-ne Kategorisierung auf das Deutsche strenggenommen nicht eins zu eins übertragbar ist.

Dobrovol’skij/Piirainen (1994a, 1994b) basiert wie schon die Arbeit von Dobrovol’skij (1978) auf einer introspektiv erstellten Sammlung.

Anhand der drei Klassifikationsmodelle wird die vorherrschende Sichtweise der Forschung deutlich, man habe es mit einer dichotomischen Kategorie zu tun:

Entweder eine Komponente ist phraseologisch gebunden oder sie ist es nicht.

Demgegenüber fällt dem aufmerksamen Beobachter auf, dass bestimmte in der Forschung als unikal aufgefasste Wörter auch in außerphraseologischen Kontex-ten auftreKontex-ten (können). So auch die folgenden drei Beispiele, die dem DeReKo entnommen sind:

(2) Ungeschriebene Bekleidungsregeln sind ein häufiges Fettnäpfchen für Berufs-einsteiger. (Braunschweiger Zeitung, 28.08.2010)

(3) Man kann ja über alles nachdenken und planen, bloß sollten Luftschlösser aus-geschlossen bleiben. (Niederösterreichische Nachrichten, 15.03.2012)

(4) Der „glücklichste Formulierer“ […] ist der bayerische Ministerpräsident Ed-mund Stoiber noch nie gewesen. […] Nun schien wieder so ein Tag eines Stoiber’schen Bärendienstes zu sein. (Rhein-Zeitung, 11.08.2005)

Der entscheidende Punkt in Bezug auf solche Belege ist die augenfällige Tatsa-che, dass diese der starren, dichotomischen Unikalia-Definition widersprechen:

Sie zeigen von der Forschung als unikal klassifizierte Komponenten in freier Verwendung. Die Beobachtung, dass das eine oder andere unikale Wort auch frei vorkommen kann, ist innerhalb der Unikalia-Forschung nichts vollkommen Neues. So stellt Häcki Bu hofer (2002b: 154) fest, dass „[j]edes einigermassen aktuell motivierbare Lexem aus Phraseologismen mit so genannten unikalen Komponenten […] jederzeit als Einzellexem verwendet werden [kann].“ Des-halb kommt sie zu dem Schluss, dass

[e]s […] in den meisten Fällen ausgesprochen schwierig [ist], klare und sinnvolle Ab-grenzungen zwischen Unikalität und Nicht-Unikalität in einem synchronen Sprachsys-tem vorzunehmen. (Häcki Buhofer 2002b: 155)

Die problematische Ausgangssituation sieht demnach wie folgt aus: Auf der ei-nen Seite stehen die in der bisherigen Phraseologieforschung vorherrschende dichotomische Definition und die daraus resultierenden Klassifikationsversuche (entweder eine Komponente ist phraseologisch gebunden oder sie ist es nicht).

Auf der anderen Seite widersprechen dieser Auffassung jedoch sowohl die ange-führten außerphraseologischen Belege als auch die Anmerkungen von Phraseo-logieforschern, die die außerphraseologische Verwendung grundsätzlich nicht für unmöglich halten. Es stellt sich also die Frage, wie mit einer solchen Aus-gangslage umzugehen ist bzw. wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann.

Als Möglichkeit kommt hierbei meines Erachtens nur ein empirisches Vorgehen infrage. Nur mithilfe der Empirie kann der bisherigen weitgehend rein intro-spektiven und theoretischen Unikalia-Forschung entgegengewirkt werden.

4.4 Korpusauswertung

4.4.1 Vorgehensweise

Für die empirische Überprüfung bzw. die Widerlegung der dichotomischen Trennung in Unikalia und freie Lexeme bietet sich die Methode der Korpusana-lyse an. Denn nur durch ein systematisches korpusanalytisches Vorgehen kann der wirkliche Gebrauch (vermeintlich) unikaler Komponenten ermittelt und das Wesen von Unikalität auf einer empirischen Basis beschrieben werden. Auf die korpusbasierte Überprüfungsmöglichkeit macht bereits Steyer (2000: Anmer-kung 16) aufmerksam:

Auch eine angenommene unikale Komponente, also die Gebundenheit eines Elements an die jeweilige Wortverbindung bzw. das Nicht-Mehr-Vorkommen außerhalb des Phraseologismus lässt sich durch Korpuserhebung überprüfen.93

Im Mittelpunkt des empirischen Teils steht die Frage, wie stark phraseologisch gebunden die Elemente tatsächlich sind.94 Als Grundlage der Analyse dient das DeReKo, mit dessen Hilfe in Millionen von Texten nach Wörtern gesucht und deren Verwendungsweise – zumindest in der geschriebenen Sprache – festgestellt werden kann.95 Die phraseologische Gebundenheit der Elemente

93 Bisher wurde diese Methode in der Unikalia-Forschung jedoch kaum angewendet.

94 An dieser Stelle ist die Arbeit von Barz (2007a) hervorzuheben. Diese geht der Frage nach, inwiefern die Phraseologie als Quelle lexikalischer Neuerungen fungiert. Für ihre Analyse wählt Barz (2007a) ein ähnliches Vorgehen wie die Korpusanalyse der vorliegenden Arbeit. Als Grundlage dient ihr ebenfalls die Liste von Dobrovol’skij/

Piirainen (1994a, 1994b). Als Korpus verwendet sie nicht das DeReKo, sondern das Leipziger Wortschatzkorpus. Darüber hinaus erforscht Barz (2007a: 8) jeweils nur die ersten hundert Belegsätze. Die Analyse der vorliegenden Arbeit verfolgt somit nicht nur einen etwas anderen Blickwinkel auf dieses Phänomen, sondern wertet auch ein wesentlich größeres Korpus mit weitaus mehr Textbelegen aus.

95 Es ist jedoch zu betonen, dass sich die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlich-keit teilweise verschieben. Zum einen kann eine „,Verschriftlichung‘ der gesprochenen Sprache“ (Klein 1985: 25) und zum anderen eine „Vermündlichung“ der geschriebenen Sprache (vgl. Sieber 1998: 197) beobachtet werden (siehe auch Betz 2006; Schwitalla/

Betz 2006 und Androutsopoulos 2007). Auch in Bezug auf die Verwendung von Phrasemen sind – wie Stein (2007a: 234) konstatiert – diese beiden Tendenzen sichtbar:

wird demzufolge nicht mittels Introspektion oder eng gesteckten Befragungen mit ungenügender Reichweite, sondern anhand sprachlicher Massendaten auf-gedeckt und beschrieben (vgl. Steyer 2004a: 94). Mithilfe der aus der Korpus-analyse gewonnenen Erkenntnisse kann der Unikalitätsbegriff auf Grundlage empirischer Forschung skizziert werden.

Für die korpusbasierte Auswertung der phraseologischen Gebundenheit ist es erforderlich, eine möglichst große Anzahl an Phrasemen zugrunde zu legen.

Während in Stumpf (2014) die von Dobrovol’skij/Piirainen (1994a, 1994b) aufgestellte Liste der „lebendigen“ Unikalia-Idiome als Basis dient, wird im Zuge der vorliegenden Arbeit eine weitaus größere Liste mit sogenannten „Unikalia-Kandidaten“ erstellt. In der Liste sind alle in der bisherigen Unikalia-Forschung angeführten Beispiele enthalten. Die Beispiele der Forschung werden mittels ei-ner Wörterbuchdurchsicht durch weitere Phraseme ergänzt. Als Grundlage die-nen hierfür die phraseologischen Wörterbücher Röhrich (2006), Duden (2008), Quasthoff (2010) und Schemann (2011). Das Ergebnis dieses Arbeitsschritts ist eine Liste mit Phrasemen, in denen Wörter realisiert sind, die den Verdacht auf Unikalität erwecken. Insgesamt können auf diese Weise 1.909 Komponenten gesammelt werden, die mehr oder weniger phraseologisch gebunden sind.

Im Rahmen der Korpusanalyse kann nicht die komplette Liste ausgewertet werden. Zum einen treten nicht alle Wendungen in ausreichender Quantität im DeReKo auf und zum anderen ergeben sich Schwierigkeiten, die durch die Seman-tik einiger Unikalia bedingt sind. Hierunter fallen in erster Linie Unikalia, die auch als Eigennamen auftreten und somit rein quantitativ nicht differenziert betrachtet werden können (z. B. auf der Lauer liegen // sich auf die Lauer legen) (vgl. Steyer 2002: 222).96 Letztendlich können von den 1.909 Unikalia-Kandidaten 1.318 ana-lysiert werden. Die quantitative Analyse gliedert sich dabei in drei Schritte:

„Der Gebrauch eher nähesprachlicher Phraseme gegen ihre diatextuelle bzw. diamediale Markierung in Äußerungsformen der Distanzkommunikation stellt dabei zwar nur eine Facette im Zusammenhang mit anderen Ver münd lichung stendenzen in der Entwick-lung der Gegenwartssprache dar, aber auch in der Phrasemverwendung äußert sich das Bedürfnis, die medial bedingte Distanz von Kommunikation in bestimmten Domänen konzeptioneller Schriftlichkeit zu verringern.“

96 Die Auslese von Unikalia, die zugleich als Eigennamen fungieren, beruht auf einer umfangreichen Korpusanalyse. Die aussortierten „Eigennamen-Unikalia“ werden nicht vor der eigentlichen Analyse introspektiv ausgeschlossen, sondern kommen erst mithil-fe der Kookkurrenzana lyse zum Vorschein. Die Menge der Eigennamen ist relativ groß, da es sich dabei nicht nur um Personennamen handelt (z. B. in Bausch und Bogen; „Zu den Unterzeichnern zählt auch Rita Bausch, Seelsorgerin für Asylbewerber.“ St. Galler Tagblatt, 09.01.2013), sondern beispielsweise auch um Straßennamen (z. B. auf dem

1) Ermittlung der absoluten Quantität der Unikalia: Der erste Analyseschritt

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