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Adverbialer und prädikativer Genitiv

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 195-198)

als produktive Modellbildung

9. Adverbialer und prädikativer Genitiv

9.1 Definition: Adverbialer Genitiv

Als adverbiale Genitive werden Nominalphrasen im Genitiv bezeichnet, die die Funktion einer adverbialen Bestimmung besitzen (z. B. letzten Endes, guten Glau-bens und gesenkten Hauptes). Aus semantischer Perspektive können adverbia-le Genitive temporal (z. B. eines Tages), lokal (z. B. manchen Orts), modal (z. B.

schnellen Schrittes) und als Einstellungsoperator (z. B. meines Wissens) ge braucht werden (vgl. Gallmann/Sitta 2010: 109 sowie Pittner 2014).

Werden adverbiale Genitive in Grammatiken angeführt, dann meist mit dem Vermerk, dass sie „fast nur noch als feste Wortverbindungen [auftreten]“ (Du-den 2009: 821). Die vorherrschende Meinung besteht darin, dass ihr Vorkom-men gegenwartssprachlich marginal ist und sie größtenteils als lexikalisierte Einheiten bzw. formelhafte Wendungen erhalten sind (vgl. Wegera/Walden-berger 2012: 158). So konstatiert Burger (1973: 33), der adverbiale Genitiv sei synchron nicht mehr produktiv. Und auch für Busse (2002: 411) stellen Wen-dungen wie mangels Masse und lebendigen Leibes Beispiele für „die Verwendung morphosyntaktischer Archaismen“ dar.161

161 Generell muss an dieser Stelle auf eine Klassifikations- bzw. Abgrenzungsschwie-rigkeit eingegangen werden, die die Unterscheidung zwischen modalen adverbialen Genitiven und sogenannten freien Prädikativen betrifft. Für diese Unterscheidung tritt u. a. Pittner (2009, 2010, 2014) ein. Nach ihr lassen sich Genitivphrasen, die weder von anderen Satzgliedern noch von Kopulaverben regiert werden, in adver-biale Genitive und freie Prädikative unterteilen. Modale adveradver-biale Genitive be-ziehen sich dabei eher auf den Vorgang, freie Prädikative auf den Zustand eines der Beteiligten während des Vorgangs (vgl. Pittner 2010: 204). Da es sich hierbei jedoch lediglich um eine „rein semantische Differenzierung“ (Pittner 2010: 204) handelt, die darüber hinaus gradueller Natur ist, wird diese im vorliegenden Kapitel verworfen. Es werden in Anlehnung an Egorova (2006: 102) alle Erscheinungen als adverbiale Genitive behandelt: „Grammatisch und syntaktisch gesehen funktionieren diese Konstruktionen (glücklich /schweren Herzens) im Satz genau so wie schnell bzw.

schnellen Schrittes und können daher auch zu den Adverbialien gezählt werden.“

Auch Pittner (2010: 204) betont mehrmals, dass eine exakte Unterscheidung zwi-schen freien Prädikativen und adverbialen Genitiven nicht möglich ist: „Erschwerend kommt hier natürlich hinzu, dass sich die freien Prädikative nicht immer trennscharf von Adverbialen abgrenzen lassen, die auch als Genitiv-NP realisiert sein können.

Tatsächlich gestaltet sich die Abgrenzung der freien Prädikative von den Adverbialen sehr schwierig.“ Dennoch hält sie beharrlich an dieser Unterscheidung fest. Geradezu

Es stellt sich die Frage, ob es sich bei adverbialen Genitiven im gegenwärtigen Deutsch tatsächlich nur (noch) um erstarrte, formelhafte Reste handelt oder ob sie nicht doch produktive syntaktische Konstruktionen darstellen (vgl. Pittner 2014). Im Folgenden wird zunächst ein knapper Überblick über die diachro-ne Entwicklung adverbialer Genitive gegeben, um daraufhin der aufgeworfediachro-nen Frage nachzugehen.

9.2 Diachrone Entwicklung adverbialer Genitive

Zur diachronen Entwicklung adverbialer Genitive finden sich sowohl in gängi-gen sprachhistorischen Überblickswerken als auch in Grammatiken zu älteren Sprach epochen kaum detailliertere Ausführungen.162 Einen knappen Überblick gibt Egorova (2006) in ihrer Dissertation zu „Adverbiale[n] Kasus des Deut-schen“. Betrachtet man die Genitivphrasen bezüglich ihrer Semantik, lassen sich diachron – ebenso wie im Gegenwartsdeutsch – temporale, lokale und modale Genitive unterscheiden:

Temporale Adverbialgenitive sind bereits im Gotischen anzutreffen. Im Lau-fe der Zeit verdrängen sie den temporalen Dativ, wodurch sie im Althochdeut-schen bereits öfters als Zeitangabe gebraucht werden (vgl. Egorova 2006: 86).

Beispielsweise entwickeln sich aus der althochdeutschen Genitivphrase noh dages hiutu (mhd. hiutes tages) die neuhochdeutschen temporalen Genitive Tags, eines Tages und heutigen Tages (vgl. Egorova 2006: 87). Auch im Früh-neuhochdeutschen existieren noch temporale Adverbialgenitive.

Lokale Adverbialgenitive findet man im Gotischen sehr häufig. So stellt Egorova (2006: 88) fest, dass diese für das Gotische „anscheinend natürlich oder sogar typisch“ sind. Zu althochdeutscher Zeit sind lokale Genitivkons-truktionen noch reicher belegt (z. B. wuastwaldes ruafan = durch den Wald rufen) (vgl. Egorova 2006: 89). Im Neuhochdeutschen sind lokale Genitiv-verbindungen fast vollständig abgebaut und treten laut Egorova (2006: 89) nur noch in „beschränkten Verbindungen“ auf.

verwunderlich erscheint es daher, dass sie eiligen Schrittes zunächst als Beispiel eines adverbialen Genitivs anführt, wenig später jedoch als freies Prädikativ klassifiziert (vgl. Pittner 2010: 204f.).

162 Eine Ausnahme ist die „Mittelhochdeutsche Grammatik“ von Hermann Paul, in der adverbiale Genitive jedoch nicht eigenständig, sondern als Unterpunkt von „adverba-len Genitiven“ behandelt werden (vgl. Paul 2007: 342–344). Zudem wird lediglich die Semantik thematisiert, Informationen über die geschichtliche Entwicklung fehlen.

• Auch modale Genitivadverbiale sind in älteren Sprachepochen des Deut-schen reichlich dokumentiert. Zu mittelhochdeutscher Zeit wird der modale Genitiv häufig mit Bewegungsverben gebraucht. Egorova (2006: 90) hebt einige Substantive hervor, bei denen im Mittelhochdeutschen adverbiale Ge-nitivformen weit verbreitet sind. U. a. sind dies wîs und dingo (manager wis, gelicher wis, managero dingo etc.).

9.3 Adverbiale Genitive im Gegenwartsdeutsch

9.3.1 Vorbemerkungen: Die Bewahrung adverbialer Genitive in formelhaften Wendungen

In der gegenwartssprachlichen Forschung herrscht überwiegend die Ansicht, ad-verbiale Genitive seien periphere Erscheinungen, die dank der phraseologischen Festigkeit auch heute noch anzutreffen sind:

Bei den Genitiv-NPs in adverbialer Funktion handelt es sich um einige Restbestände, die mehr oder weniger als Lexikoneinheiten betrachtet werden müssen, da sie nur noch sehr eingeschränkt veränderbar sind. (Pittner 1999: 58)

Auf den auf formelhafte Wendungen beschränkten Gebrauch macht auch Dür-scheid (1999: 36) aufmerksam, wenn sie betont, dass die Verwendung des Adver-bialgenitivs temporal, lokal und modal „im Vergleich zu älteren Sprachstufen stark zurückgegangen“ ist und „die heute noch gebräuchlichen adverbialen Genitiv-NPs fast nur noch lexikalisiert auftreten.“ Lenz (1996: 43) spricht von einer „Idiomati-sierung“ der entsprechenden Genitivphrasen. Für sie ist dieser Idiomatisierungs-prozess besonders untersuchenswert, wobei sie nicht allen Adverbialgenitiven einen gleichermaßen vorangeschrittenen Prozess der Idiomatisierung zuspricht, sondern davon ausgeht, dass dieser mehr oder weniger weit fortgeschritten sein kann. Die nachfolgenden Ausführungen knüpfen an dieser Vermutung an. Fokus-siert wird neben der Vorstellung adverbialer Genitive des heutigen Deutsch beson-ders die Frage nach deren Idiomatisierungs- bzw. Verfestigungsgrad. Sozusagen als

„Aufhän ger“ dient hierfür die These Dürscheids (1999: 36), es handle sich bei adverbialen Genitiven in der Gegenwartssprache um keine produktiven Muster.

Dieser Ansicht werden Adverbialgenitive gegenübergestellt, die sich sehr wohl durch eine produktive Musterhaftigkeit auszeichnen. Untersuchungen von Pittner (2009, 2010, 2014) und Egorova (2006) zeigen, dass bestimmte Geni-tivphrasen in adverbialer Funktion auch heute noch produktiv sind. Als theoreti-scher Erklärungsansatz greife ich auf konstruktionsgrammatische Überlegungen bzw. das aus der Phraseologie stammende Konzept der Modellbildungen zurück.

9.3.2 Temporale und lokale Adverbiale sowie adverbiale Einstellungsoperatoren

Betrachtet man den Verfestigungsgrad bzw. die Produktivität adverbialer Ge-nitive, lassen sich zwei Kategorien voneinander unterscheiden: zum einen Genitivphrasen, die im Gegenwartsdeutsch stark auf bestimmte formelhafte Wendungen beschränkt sind, und zum anderen spezielle adverbiale Genitive, die einen produktiven Status besitzen und im Sinne des Modellbildungskonzepts als frequente Konstruktionen angesehen werden können:

Produktiv einsetzbar sind nur noch Genitiv-NPs, die einen Zustand des Subjekts- und Objektsreferenten bezeichnen und daher nicht eigentlich modaladverbiale, sondern prädikative Funktion haben: frohen Mutes/gelassenen Sinnes/trockenen Fußes… (Pitt-ner 1999: 58)

Pittner (1999) klassifiziert diese Konstruktionen als freie Prädikative. Wie weiter oben ausgeführt wurde, wird die Unterscheidung zwischen modalen Adverbialen und freien Prädikativen in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht vorgenommen, weshalb die von Pittner (1999) charakterisierten Erscheinungen (z. B. frohen Mu-tes/gelassenen Sinnes/trockenen Fußes) als Modaladverbiale analysiert werden. Im Gegensatz zu modalen Genitivphrasen weisen temporale und lokale sowie adver-biale Einstellungsoperatoren keine ausgeprägte Produktivität (mehr) auf:

1) Temporaladverbiale: Temporale Genitivadverbiale unterliegen starken

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