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Diachrone Entwicklung: Flexions- und Stellungswandel von Adjektiv attributenStellungswandel von Adjektiv attributen

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 148-153)

Die Vielfalt formelhafter (Ir-)Regularitäten

6. Unflektiertes Adjektivattribut

6.2 Diachrone Entwicklung: Flexions- und Stellungswandel von Adjektiv attributenStellungswandel von Adjektiv attributen

Bereits Behaghel (1930: 166) stellt fest, dass zu Beginn des Germanischen so-wohl die Vor- als auch Nachstellung des Adjektivattributs möglich sind. Und auch im Althochdeutschen ist die Stellung noch nicht festgelegt; das Adjektiv kann seinem Bezugswort entweder voranstehen oder nachfolgen (vgl. Wegera/

Waldenberger 2012: 172) und dabei sowohl in prä- als auch in postnominaler Stellung flektiert oder nicht-flektiert werden (vgl. Nübling u. a. 2010: 100).126 Der Einfluss des Lateinischen kann hierbei nicht mit Sicherheit erforscht wer-den; Tatsache ist jedoch, dass schon in den frühesten althochdeutschen Quellen die Voranstellung dominiert und diese sich bereits im Mittelhochdeutschen als Standard etabliert (vgl. Schrodt 2004: 28). So konstatieren Eichinger/Plewnia (2006: 1061), dass die Nachstellung zwar auch im Mittelhochdeutschen möglich ist, das Adjektiv dann aber unflektiert bleibt. Unflektierte nachgestellte Adjek-tivattribute sind im Mittelhochdeutschen daher vor allem in Verstexten und in der Reimposition zu finden (vgl. Paul 2007: 326). Die Regel der obligatorischen Voranstellung des flektierten Adjektivs setzt sich in mittelhochdeutscher Zeit durch und verfestigt sich im Frühneuhochdeutschen (vgl. Nübling u. a. 2010:

100). Doch selbst im Frühneuhochdeutschen sind unflektierte Formen noch in attributiver Stellung zu beobachten (vgl. Hartweg/Wegera 2005: 168).127 Zu Beginn des Neuhochdeutschen repräsentieren vorangestellte flektierte Adjektiv-attribute allerdings die Norm und kommen unflektiert laut Ágel (2000a: 1859) nur noch in formelhaften Wendungen vor.128

126 Einen Grund für die Nachstellung des Adjektivattributs im Althochdeutschen führt Schrodt (2004: 29) an, indem er stilistische und/oder rhythmische bzw. metrische Aspekte sowie die Nachbildung der lateinischen Vorlage – speziell in Otfrids Evan-gelienbuch – erwähnt.

127 Bemerkenswert ist hierbei trotz der endgültigen Eliminierung des flexivlosen Ge-brauchs im Neuhochdeutschen die Beobachtung, dass der Anteil flexivloser Adjektiv-attribute in der Zeit vom Mittelhochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen zunimmt, was laut Ágel (2000a: 1859) „gewiß eine Herausforderung für die Forschung darstellt“.

128 Während Adjektivattribute schon ab dem Althochdeutschen vermehrt vor ihrem Be-zugswort realisiert werden, muss die Situation bei Mehrfachattribuierungen gesondert betrachtet werden (vgl. Eichinger/Plewnia 2006: 1061). Im Falle, dass mehrere Ad-jektive ein Substantiv näher bestimmen, gruppieren diese sich zu althochdeutscher Zeit entweder gemeinsam vor oder gemeinsam nach oder voneinander getrennt um das Bezugswort. Es kann allerdings konstatiert werden, dass die Fälle eins und zwei eher die Ausnahme bilden und die Splitstellung im Althochdeutschen der Normalfall

Als Grund für die divergente Entwicklung – flektiertes attributives und un-flektiertes prädikatives Adjektiv – führen Nübling u. a. (2010: 100) die deutli-chere Grenzziehung zwischen Nominal- und Verbalbereich an, wodurch sich das attributive Adjektiv eindeutig vom nicht-flektierten prädikativen unterscheiden lässt (vgl. auch Vogel 1997: 428f.). Während im Althochdeutschen flektierte Prä-dikatsadjektive noch die Regel sind, werden diese im Mittelhochdeutschen selte-ner und während des 16. Jahrhunderts endgültig aufgegeben (vgl. Szczepaniak 2011: 107 sowie Grubmüller 2000: 1337). Im Frühneuhochdeutschen ist die Fi-xierung des Adjektivs im Vorfeld des Substantivs – wie oben bereits angeführt – fast abgeschlossen, die Stellung im Nachfeld ist nur noch selten anzutreffen und geht mit Flexionslosigkeit einher (vgl. Wegera/Solms 2000: 1550). Aufgrund dieser Tatsache hat die Festigung des pränominalen flektierten Adjektivattri-buts einen entscheidenden Anteil an der Herausbildung der Nominalklammer:

Durch die endgültige Etablierung der Voranstellung entwickelte sich die gram-matische Konstruktion „Definitartikel + Nomen“ zu der Nominalklammer mit der Rahmenstruktur „der [große, schöne, alte] Mann“, wie wir sie heute kennen (vgl. Szczepaniak 2011: 105). Dadurch, dass längerfristig nur pränominale Ad-jektive flektiert wurden, erhöhte sich somit zusätzlich die innere Strukturiertheit der Nominalphrase (vgl. Szczepaniak 2011: 106).

6.3 Korpusauswertung

6.3.1 Vorgehensweise

Die im Folgenden vorgestellte Korpusanalyse umfasst nur feste Wortverbindun-gen mit pränominalem Adjektivattribut.129 Der erste Schritt der empirischen Analyse besteht in einer möglichst umfangreichen Listenerstellung „aller“ im heutigen Deutsch anzutreffenden formelhaften Wendungen, die ein unflektier-tes Adjektivattribut enthalten. Hierfür werden zum einen Belege verwendet, die

darstellt (vgl. Behaghel 1930: 170f.). Bemerkenswert ist, dass hierbei beide Adjektive flektiert werden. Im Mittelhochdeutschen ist dieses Muster zwar auch noch möglich, das postnominale Adjektiv bleibt jedoch oft unflektiert. Im Verlauf des Frühneuhoch-deutschen kommt es dann zu der Einschränkung, dass nur noch das pränominale Adjektiv flexionsfähig ist und attributive Adjektive somit nicht mehr regulär rechts von ihrem Bezugswort stehen können (vgl. Eichinger/Plewnia 2006: 1061).

129 Da es sich bei Belegen mit nachgestelltem Adjektivattribut häufig nicht um formelhafte Wendungen handelt bzw. dies sehr schwer zu entscheiden ist, schenkt Kapitel 6.4.2 diesen Typen gesonderte Aufmerksamkeit. Darüber hinaus wird in Kapitel 6.5.2 eine aktuell hochproduktive Wendung mit postnominalem Adjektivattribut näher betrachtet.

in der einschlägigen Forschungsliteratur bereits angeführt sind, und zum ande-ren durch die Analyse folgender phraseologischer Wörterbücher weitere Wen-dungen zusammengetragen: Röhrich (2006), Duden (2008) und Schemann (2011).

Die erstellte Liste umfasst 58 formelhafte Wendungen mit vorangestelltem unflektiertem Adjektivattribut.130 Die erfassten Wendungen werden mithilfe des DeReKo dahingehend analysiert, ob die Adjektive im tatsächlichen Sprachge-brauch immer unflektiert realisiert sind oder ob es entgegen der vorherrschen-den Forschungsmeinung auch Fälle gibt, in vorherrschen-denen sie zur flektierten Form tendieren. Insgesamt lassen sich mithilfe detaillierter Suchanfragen 27 der 58 formelhaften Wendungen auswerten. Die übrigen Fälle können aufgrund ihrer nicht vorhandenen oder nur sehr geringen Trefferzahl nicht in die Analyse mit-einbezogen werden. Als Mindesttreffermenge werden 20 Belege angesetzt.

6.3.2 Ergebnis: Schwankungen zwischen unflektierten und flektierten Adjektivattributen

Anhang 3 zeigt die Ergebnisse der Korpusauswertung. Neben den genauen Tref-ferzahlen für unflektierte und flektierte Varianten ist die errechnete Prozentzahl des nicht-flektierten Gebrauchs angegeben. In Fällen, in denen neben der unflek-tierten Form auch flektierte Belege zu finden sind, ist jeweils ein Textbeispiel aus dem DeReKo angeführt.

Die Korpusanalyse verdeutlicht, dass im Bereich der Adjektivflexion teilweise Schwankungen innerhalb einzelner Wendungen bestehen. Zwar existieren sol-che, in denen das Adjektivattribut (fast) ausschließlich unflektiert realisiert ist, in einigen Wortverbindungen sind aber auch flektierte – und somit „normgerech-te“ – Belege zu finden. Im Folgenden wird einer Auswahl an fünf Phrasemen, die diese Schwankungen verdeutlichen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt:

1) (nur (immer)) ruhig Blut (bewahren): Im DeReKo ist diese Wendung in 96%

der Belege mit unflektiertem Adjektiv realisiert. Betrachtet man die einzelnen Belege genauer, muss eine exaktere Differenzierung vorgenommen werden.

Denn im Grunde handelt es sich hierbei um zwei verschiedene formelhafte Wendungen: zum einen um das verbale Phrasem ruhig Blut bewahren und

130 Diese Zahl sollte jedoch nicht verabsolutiert werden, da sie – je nach Perspektive – auch kleiner bzw. größer ausfallen könnte. So kann die Quantität variieren, je nachdem ob man für eine bestimmte Wendung eine Nennform mit verschiedenen Varianten ansetzt oder aber mehrere Nennformen (sprich: mehrere verschiedene formelhafte Wendungen).

zum anderen um die Routineformel (nur (immer)) ruhig Blut! Auch Duden (2008: 131) verweist auf zwei unterschiedliche Phraseme, wobei die Varianz des flektierten Adjektivattributs innerhalb des Lemmas des verbalen Phra-sems durch Klammersetzung kenntlich gemacht wird: ruhig(es) Blut bewah-ren. Zieht man nur das verbale Phrasem in die Analyse mit ein, kommt man zu dem Ergebnis, dass dieses in 194 Belegen mit unflektiertem und in 11 Belegen mit flektiertem Adjektivattribut realisiert ist, z. B.:

(14) Röslers Umweltkollege Peter Altmaier warnte hingegen: „Wir müssen ruhiges Blut bewahren.“ Er will ein Langfristkonzept zur Reformierung der Ökostrom-finanzierung im Konsens und das sei vor der Bundestagswahl nicht zu realisie-ren. (VDI Nachrichten, 19.10.2012)

Durch die Korpusanalyse ergibt sich weiterhin, dass die verbale Ergänzung nicht immer bewahren sein muss, sondern beispielsweise auch die Verben behalten, wahren und beweisen vorkommen. Entscheidend ist, dass sich bei genauerer Durchsicht kein einziger Beleg finden lässt, in dem in der Rou-tineformel (nur (immer)) ruhig Blut! das Adjektiv flektiert wird. Es kann demnach festgehalten werden, dass nur im Rahmen des verbalen Phrasems Variationsmöglichkeiten zwischen unflektierter und flektierter Form beste-hen; wird die Wendung als Routineformel gebraucht, steht diese immer mit flexionslosem Adjektiv.

2) eitel Freude: In 8% der Belege wird das Adjektiv dieses nominalen Phrasems flektiert. Ergänzt werden kann die Wendung u. a. durch die Verben herrschen, auslösen, aufkommen und bereiten. Am häufigsten steht die flektierte Form in kasueller Verbindung mit dem Nominativ, z. B.:

(15) Angeblich herrscht aber nicht nur eitle Freude über die Aufnahme der Säble-rinnen, weil dadurch die Mannschaftswettbewerbe komplett umgekrempelt wer-den. (Rhein-Zeitung, 14.12.2001)

Für die Anpassung des Adjektivs an den Nominativ müssen lediglich die letzten beiden Phone vertauscht werden (eitel à eitle), was eventuell als ein Grund für den Gebrauch der flektierten Form angesehen werden kann. Ne-ben dem Phrasem eitel Freude gibt es noch weitere, in denen das Adjektiv eitel auftritt und auch dort variiert (z. B. eitel Wonne).

3) ein gerüttelt Maß von/an etw.: Die Unflektiertheit des adjektivisch gebrauch-ten Partizips lässt sich u. a. darauf zurückführen, dass es sich bei dieser Wen-dung um ein geflügeltes Wort handelt. Nach Duden (2008: 511) geht der Ausdruck auf das Lukasevangelium zurück. Eine signifikante Eigenschaft ge-flügelter Worte ist ihre hohe strukturelle Festigkeit, da sie genaugenommen

Zitate darstellen, die von Sprecher n rezipiert und in gewisser Weise über eine längere Zeitspanne hinweg – ohne (formale) Veränderung – gebraucht wer-den. Die Korpusanalyse zeigt jedoch, dass diese Wortverbindung nicht frei von Varianz ist. So findet sich in 12% aller Belege nicht die ursprüngliche unflektierte, sondern die flektierte Form:

(16) Die Eltern tragen ein gerütteltes Maß an Verantwortung, aber auch die Schulen, Erzieher, Sozialpädagogen – alle, die mit Kindern umgehen, tragen diese Verant-wortung. (Hannoversche Allgemeine, 25.10.2007)

Dies könnte daran liegen, dass der Zitatcharakter des Phrasems den heutigen Sprechern nicht mehr bewusst ist und das ehemals geflügelte Wort daher nicht mehr vor der phraseologietypischen Eigenschaft der Variation ver-schont bleibt. Anzumerken ist noch, dass die Wendung fast ausschließlich mit der Präposition an und nur in 2% aller Belege mit von gebraucht wird.

4) etw. wie sauer Bier anbieten/anpreisen: Die Korpusanalyse offenbart, dass das hier vorliegende komparative Phrasem bezüglich der Adjektivrealisierung zwei Varianten aufweist: In 72% der Belege ist sauer unflektiert, in 28% kon-gruiert es mit seinem Bezugswort. Diese Variationsmöglichkeit ist auch im Duden (2008: 120) durch die Nennform etw. wie sauer/saures Bier anbieten/

anpreisen kodifiziert.

(17) Schulleitungsstellen müssen in Oberbayern wie saures Bier angeboten werden, weil die zeitliche Belastung unerträglich geworden ist. (Protokoll der Sitzung des Parlaments Bayerischer Landtag am 06.04.2001)

5) jmds. eigen Fleisch und Blut: Während im Duden (2008) auf die Flexionsva-rianten des Adjektivs in der Wendung etw. wie sauer Bier anbieten/anpreisen aufmerksam gemacht wird, ist dies bei jmds. eigen Fleisch und Blut nicht der Fall. Dies ist vor allem aus dem Grund verwunderlich, da eigen noch häufiger als sauer flektiert wird, insgesamt in 37% der Belege. Im DeReKo ist somit in über einem Drittel aller Verwendungsweisen die flektierte Form realisiert.

Auffällig ist darüber hinaus eine pragmatische Besonderheit: In vielen Bele-gen wird die Wendung in einem negativen Kontext gebraucht. Dort dient sie u. a. dazu, auf die Tragödie von Verbrechen, die im engsten Familienkreis ge-schehen, aufmerksam zu machen (z. B. Missbrauch von Kindern und Mord an Familienangehörigen). Dieser pragmatische Aspekt kommt auch in fol-gendem Beispiel zum Ausdruck:

(18) Die gesellschaftliche Empathie ins Kind erreicht seinen Tiefstpunkt, wenn ein Vater oder eine Mutter sich hilflos gegen das eigene Fleisch und Blut wendet. Es ist zum Heulen! (Braunschweiger Zeitung, 09.11.2010)

6.4 Unflektierte Adjektivattribute außerhalb

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