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Psycholinguistischer Erklärungsansatz für die freie Verwendung von UnikaliaVerwendung von Unikalia

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 127-132)

Die Vielfalt formelhafter (Ir-)Regularitäten

3) Daumenschrauben (phraseologische Gebundenheit circa 72%) die Daumenschrauben anziehen

4.5.4 Psycholinguistischer Erklärungsansatz für die freie Verwendung von UnikaliaVerwendung von Unikalia

Die freie Verwendung von Unikalia kann auch vor dem Hintergrund psycholinguis-tischer Befunde erklärt werden. Dabei ist es insbesondere die Sprachverarbeitungs-forschung, die auf einen wichtigen Aspekt des Verhältnisses von Phrasemen zu Wort und freiem Syntagma aufmerksam macht: Zwar sind Phraseme ähnlich wie Wör-ter mental als Einheiten repräsentiert, werden vom Sprecher bzw. vom Hörer aber nicht zwangsläufig als zusammengehörige Einheiten behandelt (vgl. Burger u. a.

1982: 187), sondern unterliegen durchaus den Mechanismen des Gebrauchs freier Syntagmen (vgl. Barz 2007a: 9). Einen Anhaltspunkt für die Annahme, dass Phra-seme nicht immer als ganze Einheit gespeichert werden, liefern beispielsweise phra-seologische Varianten, die psycholinguistisch gesehen Hinweise darauf sind, dass Phraseme als kognitive Einheiten durch Produktionsprozesse zustande kommen (vgl. Häcki Buhofer 1999: 71). Durch die Variabilität wird die syntaktisch-seman-tische Einheit des Phrasems aufgespalten, wodurch es – zumindest teilweise – als aus selbstständigen Teilen zusammengesetzt und damit strukturiertes Ganzes erscheint (vgl. Sabban 1998: 108). Auch Unikalia-Phraseme werden im mentalen

112 http://www.duden.de/rechtschreibung/Schattendasein (Stand 03.03.2015).

113 http://www.duden.de/rechtschreibung/Luftschloss (Stand 03.03.2015).

Lexikon durchaus als semantisch (relativ) selbstständige Entitäten verarbeitet (vgl.

Dobrovol’skij 1995: 24). Der Sprecher speichert diese zwar als Ganzes, ist jedoch bereit, auch ihre einzelnen Konstituenten als selbstständige Wörter mit spezifischer Bedeutung aufzufassen. Gemäß dieser Annahme werden die entsprechenden Unikalia-Idiome vom Sprecher als nach den Regeln der semantischen Kompo-sition produzierte Lexikoneinheiten empfunden (vgl. Dobrovol’skij 1995: 25), wodurch ihre Autonomisierung und damit einhergehend ihr außerphraseologi-scher Gebrauch begünstigt wird.

Häufig ist Sprechern die phraseologische Gebundenheit einzelner Kompo-nenten überhaupt nicht bewusst. So verweist Burger (2010: 98) darauf, dass Versuchspersonen durchaus in der Lage sind, sich unter bestimmten Unikalia (z. B. Hungertuch, Kerbholz und Maulaffen) etwas vorzustellen, und sie gar in der Lage sind, mit diesen Wörtern assoziierte Merkmale anzugeben.114 Aus kogniti-vistischer Sicht muss also der „Nekrotismus“-Charakter unikaler Komponenten stark relativiert werden, der zum Teil sogar infrage stellt, ob es sich bei diesen Elementen aufgrund des Fehlens einer Inhaltsseite überhaupt noch um Wörter handelt (vgl. Dobrovol’skij/Piirainen 1994b: 449). Kognitive Tests zeigen, dass auch unikalen Komponenten trotz ihrer phraseologischen Isolation durch-aus eine Inhaltsseite zugesprochen werden kann:

Selbst wenn Muttersprachler bei einzelnen PGF [= phraseologisch gebundene Forma-tive, SöSt] nicht wissen, was sie bedeuten, betrachten sie PGF zwar als veraltete, archa-ische, unverständliche usw., aber doch als Wörter. Mehr noch: in bestimmten Fällen wird den PGF sogar eine selbstständige Bedeutung zugesprochen (die ihnen genetisch-etymologisch gar nicht zukommt), werden sie remotiviert, wie Kohldampf, mundtot.

(Dobrovol’skij/Piirainen 1994b: 449)

Mit Hallsteinsdóttir (2001: 278) kann daher festgehalten werden:

Eine unikale Komponente wird isoliert nicht als bedeutungslos angesehen, sondern ihr wird eine Bedeutung zugeordnet, die als die wörtliche Bedeutung aufgefasst wird. Auch wenn die etymologisch korrekte Bedeutung nicht bekannt ist, können Sprecher bei uni-kalen Komponenten – durch eine Quasimotivierung […] – eine wörtliche Bedeutung konstruieren.115

114 Siehe hierzu bereits Burger (1973: 27): „Für Idiome ist es charakteristisch, daß sie sprachliche Elemente in einem bestimmten Kontext tradieren, auch dann, wenn eines der Elemente oder eine bestimmte Bedeutung eines Elementes aus dem freien Gebrauch schwindet. Wenn irgend möglich, wird dann aber das nicht mehr Verständ-liche an VerständVerständ-liches angeknüpft, auch wenn die Assoziation noch so vage ist.“

115 In gewisser Weise handelt es sich hierbei also um eine (besondere) Art der Volksety-mologie.

In Bezug auf die freie Verwendung von Unikalia muss sich der Blick zwangsläu-fig auch auf den Prozess der Unikalisierung, d. h. auf das umgekehrte Phänomen richten. Der Unikalisierungsprozess stellt eine Art Endpunkt dar, durch den die phraseologisch gebundene Komponente ihre Berechtigung als eigenständiges Wortschatz element verliert (vgl. Fleischer 1997b: 12). Die Korpusanalyse zeigt jedoch auch den umgekehrten Fall: Phraseologisch gebundene Konstituenten können durch elliptische Bedeutungsbildung und durch „kognitive Prozesse der Remotivierung“ (Häcki Buhofer 2002a: 432) wieder zu festen Bedeutungsbe-standteilen des Lexikons werden. Der Endpunkt der Unikalisierung kann dem-zufolge überwunden werden und Unikalia können wieder eine – wenn auch etwas andere als ihre ursprüngliche – Bedeutung erlangen:

Durch kognitive Prozesse der Remotivierung von unikalen Elementen (deren Resultat nicht ihrer historischen Bedeutung entspricht), kann die scheinbar unidirektionale Ent-wicklung in Richtung von zunehmender lexikalischer Restriktion über den Status des Nekrotismus bis zum tatsächlichen Sprachtod eines Lexems aufgehalten, gestoppt oder umgedreht werden. (Häcki Buhofer 2002a: 432f.)

Häcki Buhofer (2002a: 432) sieht die besondere Leistung der kognitivistischen Perspektive vor allem darin, dass mit ihrer Hilfe die Möglichkeit beschrieben und erklärt werden kann, dass Unikalia aus ihrer phraseologischen Gebunden-heit herausgelöst und in (re-)motivierter Bedeutung (noch bzw. auch wieder) frei verwendet werden können. Sprachteilnehmer besitzen demzufolge eine starke kognitive Tendenz, den Komponenten eine Bedeutung zuzuschreiben, die aus sprach- oder sachgeschichtlich korrekten, ebenso wie unkorrekten Wis-sensbeständen oder aus synchronen aktuellen Motivierungsprozessen stammen können (vgl. Häcki Buhofer 2002b: 156). Aus rein psycholinguistischer Pers-pektive stellt das Konzept der Unikalität für Häcki Buhofer (2002b: 135) des-wegen einen Widerspruch an sich dar und würde aufgrund psycholinguistischer Erkenntnisse fast ausnahmslos seine Legitimation verlieren:

Das Konzept der Unikalität ist mit psycholinguistisch relevanten Prozessen schlecht vereinbar, und die Forderung nach psycholinguistischer Adäquatheit würde es bis auf ein paar Reste – von in engem Sinn unikalen Elementen – auflösen.

5. Dativ-e

5.1 Definition

Die formelhafte (Ir-)Regularität des Dativ-e spiegelt sich in der alten Dativ Sin-gular Kasusendung bei Maskulina und Neutra wider, die in der festen Struktur von formelhaften Wendungen bewahrt bleibt (z. B. jmdn./etw. zu Grabe tragen, zu Rate ziehen und die Unschuld vom Lande) (vgl. Grosse 2000: 1847f. sowie Hi-gi-Wydler 1989: 64). Während das Dativ-e als reguläres Flexionsallomorph im freien Sprachgebrauch fast vollkommen verschwunden ist, stellen feste Wortver-bindungen somit „die letzte Bastion“ (Rieger 2007: 1) dieser Kasusendung dar.

Die Bewahrung des Dativ-e ist eine besondere formelhafte (Ir-)Regularität.

Denn obwohl sich diese Endung spätestens seit dem Frühneuhochdeutschen auf dem Rückzug befindet und in der Gegenwartssprache keine grammatische Notwendigkeit mehr besitzt, findet man sie zum Teil auch heute noch bei freien Lexemen (vgl. Pfeffer/Janda 1979: 34 sowie Dobrovol’skij 1989b: 72).116 Die Setzung des Dativsuffix -e gilt im heutigen Deutsch demnach als fakultativ (vgl.

Darski 1979: 194) und ist keineswegs ungrammatisch:

In fact, however, although the e-dative is old-fashioned and dispreferred, it is nonethe-less fully grammatical. (Sternefeld 2004: 272)

Trotz alledem stellt das Dativ-e außerhalb formelhafter Wendungen sicherlich eine Randerscheinung dar (vgl. Konopka 2010: 27), „die Verwendung dieser Form [ist] in verschiedener Weise auffällig (geworden)“ (Eichinger 2013: 140).

Als wesentlichen Unterschied zwischen phraseologisch und außerphraseo-logisch gebrauchtem Dativ-e führt Dobrovol’skij (1978: 68) an, dass diese Ka-susendung in den entsprechenden Wendungen, in denen sie noch erhalten ist, obligatorisch ist, während der außerphraseologische, freie Gebrauch längst fakul-tativ geworden ist. Dieses Abgrenzungsargument hält einer empirischen Analyse jedoch nicht stand, da es auch innerhalb formelhafter Wendungen Schwankun-gen bezüglich der Realisierung bzw. Nicht-Realisierung des e-Dativs gibt (siehe Kapitel 5.3.2). Die Grenzziehung „Dativ-e in Phrasemen = obligatorisch“ versus

„Dativ-e außerhalb von Phrasemen = fakultativ“ ist somit eine unzutreffende Ver-kürzung der sprachlichen Wirklichkeit. Darüber hinaus kann das Dativ-e im frei-en Sprachgebrauch nicht an jedes beliebige Substantiv tretfrei-en; es gibt bestimmte

116 Erste linguistische Auseinandersetzungen mit dem Dativ-e finden sich in Behaghel (1900, 1909).

Gebrauchsbeschränkungen, die ein Konglomerat aus prosodischen, semantischen und syntaktischen Bedingungen darstellen (vgl. Konopka 2010: 27).117

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