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Ergebnis: Kontinuum zwischen freien und phraseologisch gebundenen Genitivobjekten

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 189-192)

als produktive Modellbildung

8.2 Diachrone Entwicklung: Der Rückgang genitivregierender Verben

8.3.2 Ergebnis: Kontinuum zwischen freien und phraseologisch gebundenen Genitivobjekten

Zur Identifizierung einer formelhaften Struktur wird – aufgrund nicht vorhan-dener Idiomatizität – primär auf das Festigkeitskriterium zurückgegriffen. Der Fokus liegt hierbei auf der Variabilität der in die Genitivleerstelle tretenden Er-gänzungen. Je höher diese Variabilität ist, desto geringer ist der phraseologische Verfestigungsgrad. Je eingeschränkter diese Ausfüllung ist, desto stärkere for-melhafte Züge weist die Wortverbindung auf. Die Tatsache, dass ein Verb ge-nitivregierend ist, bedeutet also nicht automatisch, dass es sich hierbei um eine formelhafte Wendung handelt.

Genitivregierende Verben werden als modellartige Konstruktionen be-trachtet, die aus ihrer Valenz heraus die Leerstelle des Genitivobjekts eröffnen.

Während bei einigen Verben mehr oder weniger beliebig viele Substantive die Leerstelle besetzen können, existieren auch Verben, bei denen die paradigmati-sche Austauschbarkeit der Genitivstelle stark eingeschränkt ist. Diese Restriktion und die damit verbundenen „Kombinations- und Selektionspräferenzen“ (Feil-ke 1998: 74) einer einzigen oder ein paar weniger Ergänzungen führen zu einem formelhaften Charakter der entsprechenden Konstruktion. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass eine dichotomische Einteilung in „nur noch in Phrasemen vorkommende Genitivverben“ und „außerhalb von Phrasemen vorkommende Genitivverben“ nicht möglich ist. Vielmehr bestehen Übergangsbereiche zwi-schen diesen beiden Erscheinungsformen. Es lassen sich grob drei Kategorien unterscheiden:

1) Verben, die nur noch innerhalb eines Phrasems den Genitiv regieren. Die Genitivrektion ist in der Wendung bewahrt, außerhalb regiert das Verb an-dere Ergänzungsklassen: jmd. stirbt eines gewaltsamen/(un-)natürlichen/etc.

EGen (Tod als einzig mögliche Ergänzung; keine Variabilität = formelhafte Wendung)

2) Verben, bei denen die Ausfüllung der Genitivleerstelle distributionell und paradigmatisch stark eingeschränkt ist. D. h. als Objekt kann nur eine mehr oder weniger geschlossene Liste an Substantiven fungieren. Ob es sich hier-bei um eine formelhafte Wendung oder um ein freies Verb handelt, kann nicht exakt beantwortet werden: jmd. wird EGen enthoben (Amt als dominie-rende Ergänzung; mittlere Variabilität = formelhafte Züge)

3) Verben, bei denen die Position des Genitivobjekts weitgehend frei mit belie-bigen Substantiven besetzt werden kann. Das Verb ist in diesen Fällen als ein freies, in keine formelhafte Wendung integriertes zu betrachten: jmd. wird EGen bezichtigt (keine dominierende Ergänzung; hohe Variabilität = freies Verb) Beispielsweise kann in die durch das Verb sterben eröffnete Genitivleerstelle nur das Substantiv Tod treten (eines gewaltsamen/(un-)natürlichen/etc. Todes sterben), weshalb auch nicht wirklich von einer „Leerstelle“ die Rede sein kann.

Einige Genitivverben erscheinen somit nur noch in bestimmten mehr oder we-niger festen Wortverbindungen (vgl. Konopka 2013: 3). Bei der Konstruktion jmd. wird EGen enthoben zeigt die Korpusanalyse, dass in den meisten Fällen Amtes/Ämter als Ergänzung fungiert, entheben somit bereits stark auf des Amtes eingeschränkt ist (vgl. Konopka 2013: 4). Es lassen sich jedoch auch noch wei-tere Varianten wie Professur, Tätigkeit, Aufgabe und Funktionen finden. Eine sehr hohe Variabilität weist die Leerstelle des Verbs bezichtigen auf. Während es bei entheben eine dominierende Ergänzung (Amtes/Ämter) gibt, kann bei bezichti-gen eine ganze Reihe gleichberechtigter Substantive die Genitivstelle einnehmen.

Diese stammen zwar alle aus dem semantischen Bereich ,Straftat, Vergehen‘, ein Substantiv, das prototypisch, d. h. in der Regel, die Genitivstelle besetzt, kann je-doch nicht festgestellt werden. Beispiele wären Lügen, Verrat, Hexerei, Ehebruch, Plagiat, Spionage, Diebstahl, Ketzerei und Rufmord.

Es kann demnach ein Kontinuum angesetzt werden (siehe Übersicht 8–2), dessen Endpunkte zum einen Verben einnehmen, deren Genitivrektion nicht an Formelhaftigkeit gebunden ist (1), und zum anderen Verben, die nur noch innerhalb von festen Wortverbindungen den Genitiv regieren (3). In einem Zwi-schenstadium sind Verben anzusiedeln, bei denen die Genitivbesetzung mehr oder weniger stark begrenzt ist (2), die sich also zwischen einer freien und einer formelhaften Verwendung befinden. Je weiter die in Übersicht 8–2 modellierte Entwicklung fortgeschritten ist, desto eher liegt eine formelhafte (Ir-)Regularität des Genitivobjekts vor:

Übersicht 8-2: Kontinuum zwischen freien und phraseologisch gebundenen Genitivverben 1) relativ freie Besetzung

der Genitivstelle (hohe Variabilität), z. B. bezichtigen, anklagen, verdächtigen

2) mehr oder weniger starke Begrenzung der Genitiv-stellenbesetzung (mittlere Variabilität), z. B. entheben, verweisen, harren

3) auf formelhafte Wendun-gen beschränkte Genitivrek-tion (keine Variabilität), z. B.

belehren, walten, sterben

freies Verb formelhafte Wendung

Auf eine skalare Einteilung macht auch Lenz (1996: 4) aufmerksam, wenn sie be-tont, dass sich einige der von ihr aufgelisteten genitivregierenden Verben „auf dem Weg der Idiomatisierung“ befinden. Die formelhafte (Ir-)Regularität des Genitiv-objekts gestaltet sich demnach nicht als eine dichotomische Kategorie, bei der die Grenze zwischen regulärem, außerphraseologischem und „irregulärem“, formel-haftem Sprachgebrauch klar gezogen werden kann. Vielmehr ist dieses Phänomen prototypischer Art: Die zentralen Vertreter stellen genitivregierende Verben dar, die nur noch in festen Wortverbindungen auftreten, im Übergangsbereich befin-den sich solche, die sich innerhalb eines Verfestigungsprozesses befinbefin-den, und am Randbereich bzw. außerhalb dieser Kategorie solche, die generell (noch) relativ kontextunabhängig aus ihrer Valenz heraus den Genitiv fordern und regieren.

Als Beispiel für den Übergangsbereich führen Lenz (1996) und Eichinger (2012) das Verb harren an. Lenz (1996: 4) betont, dass dieses auf der einen Seite in bestimmten Kontexten noch sehr geläufig ist, auf der anderen Seite in der übrigen Verwendung aber veraltet erscheint. Den prototypischen Gebrauch stellt die Wendung der Dinge harren, die da kommen werden dar. Verwendungsweisen wie in Sie harrt ihrer Schwester oder Sie harrt ihres neuen Autos sind dagegen ungewöhnlich bzw. veraltet. Die starke Einschränkung der zu besetzenden Geni-tivleerstelle hebt auch Eichinger (2012: 93) hervor, wenn er das Verb harren als stark konstruktionsgebunden interpretiert:

Ein ähnliches und vielleicht noch konstruktionsgebundeneres Bild zeigt harren: In der überwiegenden Anzahl der Belege harrt man der Dinge, die da kommen.

Dass das Verb harren jedoch nicht ausschließlich auf die formelhafte Wendung beschränkt ist, zeigen folgende Belege:

(59) Sie ergriffen Rechen und Spaten und harrten der Worte von Bürgermeister-Stellvertreter und Gärtnermeister Heinz Kimmel: „Ihr müsst tiefer graben, den Ballen fest andrücken“, lauteten seine Anweisungen, die von den Helfern ohne jede Widerworte befolgt wurden. (Mannheimer Morgen, 29.05.2012)

(60) Gut vorbereitet auf den bevorstehenden Winter glaubt sich die Stadtverwaltung auch heuer. Die in den vergangenen Jahren angekauften Klein-Lkw, Klein-Trak-toren und Unimogs harren des ersten Schnees. (Die Presse, 06.11.1992) (61) Nürnbergs Schauspielhaus harrt der Sanierung, die nach etlichen

Verschiebun-gen nun im Sommer 2007 starten soll. (Nürnberger Nachrichten, 17.05.2006)

Verben, die sich im Übergangsbereich zwischen freier und phraseologisch ge-bundener Genitivrektion befinden, ähneln dem Wortbildungsphänomen der sogenannten Affixoide. Bei Affixoiden handelt es sich um Morpheme, die sich in-nerhalb der „Entwicklung vom selbstständigen Wort (als freiem Lexem oder als

Kompositionsglied) zum nur gebunden vorkommenden Affix“ (Stein 2008: 181) befinden. Affixoide stehen auf einer Zwischenstufe zwischen Komposition und Affigierung, die hier in Kategorie 2) angeführten Verben auf einer Zwischenstufe zwischen „regulärer“, freier Genitivrektion und phraseologisch gebundener. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass die Beurteilung, ob es sich bei der ein oder anderen Genitivkonstruktion um eine formelhafte (Ir-)Regularität bzw.

überhaupt um eine verfestigte Wendung handelt, nicht immer eindeutig getroffen werden kann, da die Entwicklung – ebenso wie bei Affixoiden – unterschiedlich weit fortgeschritten sein kann (vgl. Stein 2008: 189) (siehe auch Kapitel 16.2.3).

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 189-192)

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