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Ein besonderes Phänomen stellt die Wortbildung auf der Grundlage von Phrasemen dar. Feste Wortverbindungen verlieren im Zuge dieses Prozesses

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 48-54)

Irregularitäten“

5) Ein besonderes Phänomen stellt die Wortbildung auf der Grundlage von Phrasemen dar. Feste Wortverbindungen verlieren im Zuge dieses Prozesses

ihre Polylexikalität und werden sozusagen in monolexikalischen Wortbil-dungsprodukten kondensiert (z. B. Haarspalterei).34 Obwohl dieses Phänomen überwiegend unter der Bezeichnung „dephraseologische Derivation“ bekannt ist, fungieren als Wortbildungsarten bzw. -produkte neben der Derivation (z. B.

Schwarzseher) auch die Konversion (z. B. [das] Auf-die-Tube-Drücken) und die Komposition (z. B. Vieraugengespräch) (vgl. Stein 2012: 232). Erwähnenswert ist hierbei, dass auch Phraseme mit „Irregularitäten“ als Ausgangseinheiten für die dephraseologische Wortbildung fungieren können. Übersicht 2–4 zeigt eine Auswahl an authentischen Belegen für Wortbildungsprodukte, die sich aus Phrasemen mit unikaler Komponente zusammensetzen:

reglementiert erscheint (z. B. engl. wordformation, word-formation, word formation oder girlfriend, girl-friend, girl friend).

34 Für zahlreiche Beispiele siehe Fleischer (1997a: 185–189).

Übersicht 2-4: Dephraseologische Wortbildung auf Grundlage von Unikalia-Phrasemen35363738394041

Phrasem dephraseologisches Wortbildungsprodukt ins Fettnäpfchen

treten Sollte Steinbrück wieder ein Buch ablassen wollen: Der Verlag für Neu-Kapriolen stünde schon fest. Je tiefer der Fettnapftritt, je be-gehrter das Skript.35

im Rampenlicht

stehen […] was ich aber aus den letzten Jahren in Bezug auf kleinkarierte Kommunalpolitik weiß, oder glaube erfahren zu haben, ist, dass viele

„Möchtegern-im-Rampenlicht-Steher“ Meinungen verbreiten, oder sich zu eigen machen, die allein dem politischen Kalkül geschuldet sind […].36

das Tanzbein

schwingen Mit großem Saal im Erdgeschoss für das „normale Volk“ und Spiegel-saal im ersten Stock für die vornehmere Gesellschaft war reichlich Platz für tanzbeinschwingende Berliner.37

die Werbetrommel

rühren Die Werbetrommelrührerin muss ich enttäuschen: weder im Bekannten- noch Verwandtschaftskreis würde je einer solch eine Party besuchen und auch sicher keinen Verkaufs-Schwätzer ins Haus lassen.38

schimpfen wie ein

Rohrspatz Es sind nicht nur „Rohrspatzschimpfer“, die von allen Parteien die Nase voll haben.39

die Oberhand

gewinnen Im übrigen halte ich den Auslöser für die Oberhandgewinnung des

„bösen“ Gollum über den „guten“ Smeagol weniger die Schlag- und Trittszene vernatwortlich, sondern das Gefühl Gollums von seinem Herrn, dem einzigen dem er halbwechs zu trauen scheint, verraten worden zu sein.40

im Brustton der

Überzeugung Daraufhin der Gang zur Filialleiterin, die mir aus tiefster Brustton-überzeugung heraus mitteilt, dass es sehr wohl österr. Obst gäbe und sie würde es mir sofort zeigen.41

35 http://www.focus.de/politik/deutschland/tid-28785/wahlkampfgenie-tritt-ins-fett

37 http://blog.inberlin.de/2013/03/ab-zum-schwoofen-in-claerchens-ballhaus/ (Stand 27.02.2015).

38 http://www.focus.de/finanzen/videos/alle-ist-eine-reisserische-uebertreibung-neues-modell-zu-kaufen-kommentar_id_5964598.html (Stand 27.02.2015).

39 http://blog.wawzyniak.de/parteivorstandssitzung-nr-6/ (Stand 27.02.2015).

40 http://archiv.herr-der-ringe-film.de/showflat.php/Number/1317409 (Stand 27.02.2015).

41 http://guidoschwarz.at/blog/neues-vom-fressen/ (Stand 27.02.2015).

Phrasem dephraseologisches Wortbildungsprodukt Zeter und Mordio

schreien Irgendwie warte ich schon die ganze Zeit auf den ersten Zeter und Mordio Schrei zu diesem Thema…42

jmdm. Paroli

bieten Familie bleibt aber weiterhin ohne Perspektive, wenn Widerstand und das Parolibieten einziger Grund bleiben sollten, eine Familie zu gründen.43

ins Hintertreffen

geraten Ein Grund für das ins-Hintertreffen-geraten der ländlichen Re-gionen ist die gängige politische Fokussierung auf günstige Ver-sorgungsstrukturen in den Städten mithilfe von Produkten aus der Agrarindustrie.44

jmdn. ins

Bocks-horn jagen Rechts der CDU hat die Jahrzehntelange „Bockshornjagd“ durch unsere Dompteure eine „no-vote-area“ hinterlassen.45

in Windeseile Die Tiere mutieren nicht nur windeseilig zu Zombie-Kühen, nein, auch ihre Milch zeigt unangenehme Wirkungen beim Endverbrau-cher…46

Die Belege machen deutlich, dass es sich bei Phrasemen mit unikalen Kom-ponenten keineswegs um „tote“ bzw. völlig erstarrte Wendungen handelt, die zu keinem kreativen Sprachspiel mehr gebraucht werden können. Ganz im Gegenteil: Die zum Teil äußerst einfallsreichen dephraseologischen Wortbil-dungen zeigen, dass unikale Komponenten kein Hindernis für sprachlich-in-novative Modifizierungen darstellen. Die angeführten Wortbildungsprodukte lassen zudem darauf schließen, dass Sprecher mit Unikalia trotz ihrer phra-seologischen Gebundenheit Assoziationen bzw. Bedeutungsaspekte verbin-den, die ihnen bei dephraseologischen Produktionsprozessen zugutekommen und diese im Grunde erst ermöglichen. Aus der Perspektive der dephraseo-logischen Wortbildung besteht daher kein Unterschied zwischen Phrasemen, die sich aus freien Lexemen zusammensetzen, und Phrasemen mit Unikalia.

Grenzziehung „nach oben“:

• Burger (2010: 15) hält fest, dass eine obere Grenze der Wortmenge ei-nes Phrasems nicht angegeben werden kann, da diese nicht lexikalisch, sondern syntaktisch festgelegt ist. Der Satz gilt demnach als Obergrenze

42 http://www.parents.at/forum/showthread.php?t=641245&page=2 (Stand 27.02.2015).

43 http://www.carl-auer.de/blogs/kehrwoche/asthetik-der-geschlechter/ (Stand 27.02.2015).

44 http://www.alnatura.de/Panorama/anthroposophie/denken-wirkt/hunger-und-armut-warum (Stand 27.02.2015).

45 https://efeder.wordpress.com/2010/01/14/cdu-will-spd-wahler-kodern/ (Stand 27.02.2015).

46 http://www.moviepilot.de/movies/milchprodukte-des-grauens (Stand 27.02.2015).

phraseologischer Einheiten.47 Dabei ist es erstaunlich, dass trotz der langen Forschungstradition satzwertiger Phraseme in Form von Sprichwörtern bzw.

sprichwörtlichen Redensarten (Vorphase der phraseologischen Forschung) lange Zeit kein Konsens darüber herrscht, ob diese Einheiten zum phraseo-logischen Untersuchungsgegenstand gehören. Diese Skepsis ist auch heute noch daran zu erkennen, dass im traditionellen Zentrum-Peripherie-Modell satzwertige Verbindungen in der Peripherie angesiedelt und satzgliedwertige Einheiten immer noch als Prototypen dargestellt werden (vgl. u. a. Lüger 1999: 49 sowie Gläser 1988: 276).

• Burger (2010: 15) hebt gesondert hervor, dass es teilweise Texte gibt, die mehr als einen Satz umfassen (Sprüche, Gedichte, Gebete) und dennoch einen phraseologischen Status besitzen können. Burger (2010) meint mit diesen Ausnahmen jedoch nicht das inzwischen gut untersuchte Phänomen der formelhaften Texte.48 Die von ihm angeführten Sprüche, Gedichte und Gebete stellen keine (prototypischen) formelhaften Texte dar, da sie als Gan-zes (auswendig) gelernt werden und darüber hinaus nicht das Kriterium des Leerstellencharakters aufweisen. Formelhafte Texte wie Bahnansagen und Verkehrsmeldungen im Radio verfestigen sich nicht durch einen Prozess des Auswendiglernens, sondern durch häufigen Gebrauch. Dabei stellt sich jedoch die entscheidende Frage, ob es wirklich plausibel erscheint, Repro-duzierbarkeit auch für Einheiten auf Textebene anzunehmen, da es mehr als fraglich ist, ob die Speicherbarkeit fertiger Texte nicht an mentale Grenzen stößt (vgl. Stein 1995: 308).49

Betrachtet man den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit im Hin-blick auf das polylexikalische Kriterium, kann festgehalten werden, dass „phra-seologische Irregularitäten“ sowohl in Wendungen mit geringer als auch hoher

47 Zur Klassifikation satzwertiger Phraseme siehe u. a. Burger (2010: 36–42) sowie Lüger (1999: 125–136).

48 Zum Konzept der formelhaften Texte siehe Dausendschön-Gay u. a. (2007a, 2007b);

Gülich (1997); Gülich/Krafft (1998) sowie Stein (2001, 2011a).

49 Auch wenn die Speicherbarkeit komplexer Texte aus kognitiver Perspektive eher unwahr-scheinlich ist, deuten textlinguistische Studien dennoch darauf hin, dass Sprachteilhaber zumindest den Aufbau, d. h. die Makrostruktur, und zum Teil die Mesostruktur von häufig gebrauchten Texten erlernen bzw. kennen und sie demnach über ein nicht zu unterschätzendes Textsorten- bzw. Textmusterwissen verfügen (siehe u. a. Heinemann/

Viehweger 1991: 109–111 sowie Heinemann/Heinemann 2002: 135–140).

Polylexikalität auftreten; sie dehnen sich – wie Übersicht 2–5 zeigt – über die gesamte Bandbreite der Mehrgliedrigkeit aus:

Übersicht 2-5: Polylexikalität formelhafter (Ir-)Regularitäten formelhafte

Phraseme mit „Irregularitäten“ erstrecken sich von formelhaften Einwort-äußerungen (z. B. Menschenskind(er) und bitteschön) und autonomisierten Unikalia (z. B. Fettnäpfchen und Bärendienst) über zwei- und mehrgliedrige Phraseme mit Satzgliedfunktion (z. B. letzten Endes, Kölnisch Wasser und bis zum Gehtnichtmehr, in diesem Sinne) und satzförmige Wendungen mit Leerstellen für Satzglieder (z. B. jmd. rückt jmdm. zu Leibe und etw. ist nicht jedermanns Geschmack) bis hin zu zahlreichen satzwertigen Einheiten (z. B. Gut Ding will Weile haben, Viele Hunde sind des Hasen Tod und Der Mensch ist ein Gewohn-heitstier). Zudem können laut Gülich (1997: 149) auch formelhafte Texte zum Teil „archaische Elemente“ enthalten (z. B. an Eides Statt, beehrt sich oder gestattet sich). Für sie ist „die Bindung an einen formelhaften Text häufig gerade die Vor-aussetzung für die Tradierung der Formeln“ (ebd.).50

50 Vgl. hierzu auch Dausendschön-Gay u. a. (2007a: 474f.), die ebenfalls auf gewisse sprachliche „Irregularitäten“ formelhafter Texte hinweisen: „Dementsprechend be-trachtet man stark ,idiomatische‘ Texte als, wenn man so sagen darf, formelhafteste Texte. Es sind Texte, deren Realisierung syntaktische und semantische ,Defekte‘ zulässt oder erfordert und die man nicht nur zu verfassen, sondern manchmal auch zu lesen lernen muss. […] Es gibt Texte, die sehr engen Regelungen unterliegen […] oder sogar morphologische, syntaktische und lexikalische ,Defekte‘ zulassen […].“

2.4.3 Festigkeit

Das Merkmal der Festigkeit kann nach Burger (2002: 393–398) auf drei Ebenen unterschieden werden:

1) Psycholinguistisch fest sind Phraseme, da sie mental als Einheit „gespei-chert“ sind (vgl. Burger 2010: 16). Sie werden also im Unterschied zu freien Wortverbindungen, die mittels morphosyntaktischer Regeln gebildet wer-den, ganzheitlich aus unterschiedlichen Speichermedien abgerufen und so-zusagen reproduziert (vgl. Stein 1995: 35). Auch wenn sich Feilke (1996:

204, 2004: 52f.) gegen das Kriterium der Wiederholung (d. h. der Festigkeit als Folge häufiger Verwendung) ausspricht, kann nicht bestritten werden, dass die Verfestigung nicht-idiomatischer, formelhafter Wendungen vor allem durch ihren wiederholten Gebrauch entsteht (vgl. Lüger 1999: 26).

Stein (1995: 39) macht darauf aufmerksam, dass ein Bedingungsverhältnis zwischen Vorkommenshäufigkeit und psycholinguistischer Verfestigung vorliegt in dem Sinne, dass Wortverbindungen deswegen psycholinguistisch fest werden, weil sie sprachlich fest sind, und weil sie psycholinguistisch fest geworden sind, werden sie (sprachlich) in immer gleicher Form verwendet.

Für Phraseme, die „Irregularitäten“ enthalten, spielt das Frequenzkriterium scheinbar keine Rolle. Sie werden laut Stein (1995: 39) primär „aufgrund ih-res Irregulär-Seins als feste Verbindung gelernt und schließlich ganzheitlich reproduziert.“51 Der große Vorteil des psycholinguistischen Kriteriums ist darin zu sehen, dass es für alle Phraseme gilt. Neben der aufwendigen empi-rischen Vorgehensweise zum Nachweis der psycholinguistischen Festigkeit liegt der entscheidende Nachteil jedoch auf der Hand: Als ein aus den Kri-terien der Idiomatizität und Festigkeit lediglich abgeleitetes Merkmal ist es allein nicht operationalisierbar (vgl. Fleischer 1997a: 64) und eignet sich somit nicht für die Abgrenzung eines linguistischen Gebietes auf der Sys-tem-Ebene (vgl. Burger 2002: 394).

2) Ein auf der sprachlichen System-Ebene gut zu beschreibendes Merkmal ist die strukturelle Festigkeit. Strukturell fest heißt, dass bei phraseologischen Einheiten im Gegensatz zu freien Wortverbindungen entweder gar keine oder nur eine begrenzte Veränderbarkeit der Ausdrucksseite besteht (vgl.

51 Ignoriert werden sollte hierbei aber nicht die Tatsache, dass „irreguläre“ Formen auch in peripheren Klassen wie beispielsweise Routineformeln und Modellbildungen auf-treten (siehe Kapitel 18.5), bei denen sich die Festigkeit vor allem durch rekurrenten Gebrauch ergibt.

Lüger 1999: 8). Als besondere Erscheinungsformen struktureller Festig-keit werden in den meisten Werken die im vorliegenden Buch behandelten

„phraseologischen Irregularitäten“ sowie morphosyntaktische und lexika-lisch-semantische Restriktionen angeführt (z. B. in Burger 2010: 19–23).

In der heutigen Phraseologieforschung besteht jedoch Konsens darüber, dass absolute formale Unveränderlichkeit eher die Ausnahme als die Regel ist (vgl. u. a. Stein 1995: 33; Fellbaum/Stathi 2006: 128 sowie Ptashnyk 2009: 16f.). Zahlreiche Studien zeigen, dass das Variations- und Modifikati-onspotenzial phraseologischer Einheiten überaus hoch ist (siehe u. a. Barz 1992; Ptashnyk 2009 und Jaki 2014). Daher betonen bereits Burger u. a.

(1982: 68), dass es kaum eine Veränderung eines Phrasems gibt, die in ir-gendeinem Kontext nicht möglich und sinnvoll ist. Selbst „phraseologische Irregularitäten“ lassen Variationen zu (siehe Kapitel 15.3).

3) Unter pragmatischer Festigkeit versteht Filatkina (2007a: 143) Typen

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 48-54)

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