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Überlegungen zur freien Verwendung von Unikalia .1 Vorbemerkungen: Autonomisierung von Unikalia.1 Vorbemerkungen: Autonomisierung von Unikalia

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 120-125)

Die Vielfalt formelhafter (Ir-)Regularitäten

6) Die Grenzen zwischen einzelnen (prototypischen) Kategorien sind un- un-scharf: Die Unschärfe gegenüber anderen, angrenzenden Kategorien ist eines

4.5 Überlegungen zur freien Verwendung von Unikalia .1 Vorbemerkungen: Autonomisierung von Unikalia.1 Vorbemerkungen: Autonomisierung von Unikalia

Zweifelsohne existieren Unikalia, die innerhalb einer bestimmten Fachsprache als freie Lexeme verwendet werden (z. B. Grundeis, Abstellgleis und Abschussliste), was eine Art der außerphraseologischen Verwendung darstellt. Darüber hinaus gibt es Unikalia, die den von Fleischer (1989) charakterisierten Unikalisie-rungsprozess noch nicht komplett abgeschlossen haben und somit auch (noch) frei gebraucht werden (können). Diese beiden Arten der außerphraseologischen Verwendung stehen im folgenden Kapitel nicht primär im Mittelpunkt. Viel-mehr werden unikale Komponenten fokussiert, deren freie Verwendung darauf

101 Vgl. auch Holzinger (2013: 64), der von einem „Kontinuum“ spricht.

zurückzuführen ist, dass diese aus ihrem Ausgangsphrasem herausgelöst wer-den. So steht in folgendem Textauszug die unikale Komponente Werbetrommel außerhalb des Phrasems die Werbetrommel rühren/schwingen/schlagen:

(6) Mit großer Werbetrommel haben gestern Staatsminister Erwin Vetter und die beteiligten Rundfunksender das baden-württembergische DAB-Pilotprojekt er-öffnet. (Mannheimer Morgen, 26.08.1995)

Die nachfolgenden Überlegungen fußen darauf, dass zwischen dem lexikali-schen und phraseologilexikali-schen Bestand einer Sprache ein ständiger wechselseiti-ger Austausch von freien Wortgruppen zu Phrasemen und in entgegengesetzter Richtung von Phrasemen zu Wörtern abläuft (vgl. Földes 1988:  68). Bereits Häusermann (1977: 83) stellt fest, dass in der Sprache Tendenzen zur Auflösung von Phrasemen zu beobachten sind. Dem Prozess der Phraseologisierung, der die Bildung freier Wortverbindungen zu Phrasemen beschreibt, steht somit das Phänomen der Isolierung von Konstituenten aus festen Wortverbindungen, d. h.

deren Autonomisierung gegenüber (vgl. Häcki Buhofer 1999: 70).

Zunächst richtet sich der Blick auf die sogenannte semantische Teilbarkeit, die als entscheidender Faktor für den freien Gebrauch unikaler Komponenten angesehen werden kann. Im Anschluss wird gezeigt, dass frei verwendbare Uni-kalia zur Wortschatzerweiterung beitragen können. In einem letzten Punkt wird aus kognitiver Sicht der Frage nachgegangen, wie frei verwendbare Unikalia in unserem mentalen Lexikon abgespeichert sind.

4.5.2 Semantische Teilbarkeit als entscheidender Faktor für die freie Verwendung102

Angesichts der relativen Gebundenheit unikaler Komponenten drängt sich folgen-de Frage auf: Wie kommt es zur freien Verwendung von Unikalia? Eine entschei-dende Rolle spielt hierbei die semantische Teilbarkeit der Idiome, in denen unikale Komponenten realisiert sind. Ausgangspunkt der Theorie der semantischen Teil-barkeit ist das Kompositionalitätsprinzip (siehe Frege 1923),103 nach dem die Be-deutung eines komplexen Ausdrucks durch die BeBe-deutungen seiner Teile und die

102 Siehe hierzu auch Stumpf (im Druck2).

103 Klos (2011: 42) verweist jedoch darauf, „dass das Kompositionalitätsprinzip nicht ohne weiteres Frege zugewiesen werden kann.“ Ihrer Meinung nach verläuft die

„Spurensuche“ nach den Ursprüngen des Kompositionalitätsprinzips in den Wer-ken Freges wenig erfolgreich. Es muss daher „unterschieden werden zwischen dem, was explizit in seinen Schriften auftaucht, und dem, was andere in seine Aussagen hineininterpretiert haben“ (Klos 2011: 39).

Art der Zusammensetzung bestimmt ist (vgl. Rabanus u. a. 2008: 28). Bei phra-seologischen Wortverbindungen hängt die semantische Teilbarkeit mit der Paral-lelität in der Gliederung der lexikalischen und semantischen Struktur eines Idioms und demzufolge mit dem semantischen Status einzelner Konstituenten zusammen (vgl. Dobrovol’skij/Piirainen 2009: 46).104 Semantisch teilbar sind also Idiome, deren Konstituenten bzw. Konstituentengruppen als relativ selbstständige bedeu-tungstragende Einheit agieren wie beispielsweise das Idiom (leeres) Stroh dreschen, in dem der phraseologischen Komponente Stroh die Bedeutung ,dummes, inhalts-loses Zeug‘ zugeschrieben werden kann (vgl. Dobrovol’skij 1988: 131f.):

(leeres) Stroh dreschen

‚dummes, inhaltsloses Zeug reden‘

Die durch die semantische Teilbarkeit hervorgerufene Re-Unikalisierung wird auch innerhalb der Forschung hervorgehoben:

Da die Konstituenten der sekundär motivierten, semantisch teilbaren Phraseologismen eine selbstständige Bedeutung haben, tendieren sie besonders zur Autonomisierung […]. Die semantische Teilbarkeit der Phraseologismen ist demzufolge […] eine Vor-aussetzung für das Auftreten neuer Sememe bei einem Wort, die einem Phraseologis-mus entsprungen sind. (Földes/Györke 1988: 105; ähnlich auch Földes 1988: 71 und Ptashnyk 2005: 92f.)

Dieser bisher lediglich an einzelnen Beispielen illustrierten Vermutung bin ich empirisch nachgegangen. Es wurden 153 Wendungen, die der Liste der „lebendi-gen“ Unikalia-Idiome von Dobrovol’skij/Piirainen (1994a, 1994b) entnom-men sind, im Hinblick auf ihre semantische Teilbarkeit überprüft. Zentral ist dabei die Frage, in welchem Verhältnis die semantische Teilbarkeit einer unika-len Komponente mit ihrer phraseologischen Gebundenheit steht.105

104 Die Theorie der semantischen Teilbarkeit geht im Grunde auf die „Dekompositions-hypothese“ zurück, die vor allem von Raymond Gibbs und dessen Kollegen vertreten wird (siehe Gibbs 1990; Gibbs/Nayak 1989 sowie Gibbs u. a. 1989a, 1989b). Nach ihrer Hypothese besteht die Möglichkeit, viele Idiome in sinnvolle Bestandteile zu zerlegen, wogegen es andere Idiome gibt, deren Konstituenten nicht zur aktuellen Bedeutung des Gesamtausdrucks beitragen (vgl. Dobrovol’skij 1997a: 23). Die Idiome einer Sprache können nach dieser Auffassung in sogenannte „decomposab-le“ bzw. „analyzable phrases“ einerseits und „noncomposab„decomposab-le“ bzw. „nonanalyzable phrases“ andererseits unterschieden werden, wobei graduelle Abstufungen möglich sind (siehe hierzu auch Nunberg 1978).

105 Für die Analyse der semantischen Teilbarkeit bevorzugt die vorliegende Arbeit eine Kombination verschiedener Methoden (vgl. Dobrovol’skij 1988: 157). Neben

Insgesamt sind 59 (circa 39%) der 153 Unikalia-Idiome semantisch teilbar (z. B. jmdm. eine Standpauke halten). Die Beziehung zwischen der semantischen Teilbarkeit und dem Grad der phraseologischen Gebundenheit der Unikalia-Idiome verdeutlicht Übersicht 4–2:

Übersicht 4-2: Quantitative Verteilung der semantischen Teilbarkeit unikaler Komponenten

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

0–29% 30–59% 60–79% 80–95% 96–100%

Grad der phraseologischen Gebundenheit

Quantität in Prozent

semantisch teilbar

Wie anhand des Säulendiagramms erkennbar ist, steht die semantische Teilbar-keit mit der phraseologischen Gebundenheit in einem sichtbaren Verhältnis.

Die empirische Untersuchung zeigt, dass der Anteil an semantisch teilbaren Unikalia-Idiomen mit Zunahme des Grades der phraseologischen Gebunden-heit bedeutsam abnimmt. Semantisch teilbare Unikalia sind tendenziell weniger stark phraseologisch gebunden, da ihnen eine gewisse Eigenbedeutung zuge-sprochen werden kann, die es ermöglicht, diese auch außerhalb des Phrasems zu verwenden. Beispielsweise sind 90% aller Unikalia, die nur zwischen 0–29%

phraseologisch gebunden sind, semantisch teilbar. Umgekehrt weisen lediglich circa 6% derjenigen Unikalia, die fast nur noch in Phrasemen auftreten (sprich:

die in über 96% der Belege phraseologisch gebunden sind), das Merkmal der

einem Vergleich der Struktur des Idioms mit der Struktur seines semantischen Äquivalents stehen besonders syntaktische Modifikationsmöglichkeiten im Vor-dergrund (siehe Dobrovol’skij 2000a und 2004). Darüber hinaus wird versucht, für Unikalia-Idiome, die offensichtlich aufgrund syntaktischer Modifikationen semantisch teilbar sind, eine Beschreibung der Bedeutung der einzelnen Konsti-tuenten zu leisten.

semantischen Teilbarkeit auf. Die semantische Teilbarkeit nimmt somit ab, während die phraseologische Gebundenheit ansteigt.

Es kann konstatiert werden, dass die wichtigste Eigenschaft für den Auto-nomisierungsprozess die semantische Teilbarkeit darstellt. Durch sie lässt sich die phraseologische Bedeutung gewissermaßen auf die einzelnen Konstituenten aufteilen (vgl. Barz 2007a: 16). Auf diese Weise erlangen die unikalen Kompo-nenten eine morphosyntaktische Selbstständigkeit und entfalten semantisch-assoziative Potenzen (vgl. Fleischer 1997a: 240).106 Die semantische Teilbarkeit führt zur freien Verwendung der Unikalia in einer phraseologisch motivierten Bedeutung (vgl. Barz 2007b: 33).

4.5.3 Freie Verwendung von Unikalia als Beitrag zur Wortschatzerweiterung

Es stellt sich die Frage, welchen (lexikalischen) Status frei verwendete Unikalia besitzen: In erster Linie geht es hierbei um den Zusammenhang zwischen Phra-seologie und Wortbildung,107 der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sich sowohl die in der Wortbildung als auch in der Phraseologie angelegten Bildungs-möglichkeiten als Quelle lexikalisch-semantischer Innovationen erweisen (vgl.

Stein 2012: 230). Phraseme können als Ausgangseinheiten für sekundäre Wörter und Bedeutungen sowie für die entsprechenden Bildungsverfahren/-pro dukte fungieren (vgl. Barz 2007a: 8). Im Falle der Unikalia spielt die sogenannte de-phraseologische Derivation die wichtigste Rolle für deren Autonomisierung. Un-ter dephraseologischer Derivation versteht Földes (1988:  69) die Entstehung von Wortbildungskonstruktionen auf der Basis eines Phrasems. Dieser Prozess, der sich bei der Autonomisierung von Unikalia vollzieht, kann als „elliptische Bedeutungsbildung“ bezeichnet werden (vgl. Stein 2012: 235).

Wie Barz (2007a: 13) herausstellt, basiert jene phraseologische Bedeutungs-bildung auf dem Prinzip des elliptischen Sprachgebrauchs. Diesem Prinzip zu-folge können Teile eines komplexen Ausdrucks eingespart werden, sofern die

106 Diese morphosyntaktische Selbstständigkeit zeigt sich dabei u. a. in Verwendungs-weisen, die sonst nur „freien“ Wörtern vorbehalten sind. Beispielsweise wird die (uni-kale) substantivische Komponente des Phrasems Luftschlösser bauen in folgendem Textbeleg zum einen im Singular und zum anderen in der Funktion eines Genitiv-attributs gebraucht: Auch der Einsturz des Luftschlosses „Einkaufszentrum“ wird in Lampertheim kein großes Bedauern auslösen. (Mannheimer Morgen, 20.12.2000).

107 Zum Verhältnis zwischen Phraseologie und Wortbildung siehe Fleischer (1976, 1992a); Püschel (1978); Ohnheiser (1998); Schmidt (2000); Barz (2007b, 2010);

Schemann (2008) sowie Stein (2012).

Kommunikationspartner ausreichend gemeinsames (Vor-)Wissen besitzen (vgl.

Fritz 2006: 51). Die reduzierten Ausdrücke sind daher Inhalte, die im sprachli-chen Ausdruck unberücksichtigt sind, aber zu ihm hinzugedacht werden müssen (vgl. von Polenz 2008: 302).108 Frei verwendete Unikalia können somit zur Wort-schatzerweiterung beitragen, wobei sie die Bedeutung des Phrasems übernehmen, aus dem sie herausgelöst werden (vgl. Barz 2007a: 7). Auf diese besondere Art der Wortschatzerweiterung macht bereits Földes (1988: 71) aufmerksam, wenn er be-tont, dass sich das herausgelöste Element formal-syntaktisch verselbstständigt und

„die Semantik der gesamten Konstruktion absorbiert.“ Diese „Absorbierung“ der Phrasembedeutung zeigt sich deutlich in folgenden Beispielen:109

1) Sitzfleisch (phraseologische Gebundenheit circa 35%)

kein Sitzfleisch haben

,keine Ausdauer haben‘

Strapazierfähiges Sitzfleisch ist neben guter Kondition wichtig, wenn 35 Mitglieder des RV Wanderlust Beddingen am Montag, 17. Juli, sich auf den Weg zum Bundestreffen in Kiel machen. Vor den Radsportlern liegen 375 Kilometer, die an sechs Tagen auf den Zweirädern bewältigt werden müssen. (Braunschweiger Zeitung, 13.07.2006)

2) Kohldampf (phraseologische Gebundenheit circa 57%)

Im Dokument Formelhafte (Ir-)Regularitäten (Seite 120-125)

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