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A Eine Formanalyse: Familie als Kulturgestalt

3. Von der symbolischen Formkraft des Alltäglichen

Familie ist eine Lebensform. Nicht eine willkürlich entstandene und eine, die beliebig verlassen werden kann. Sondern eine, die dem Kulturwesen Mensch als solchem be-deutsam ist. Eine Lebensform also, die das geplante, gewollte und in Traditionen vielgestaltig geregelte Zusammenleben von Männern, Frauen und Kindern meint, charakterisiert durch Beziehungen, die auf längere Zeiträume hin geplant sind und die die Individuen existentiell betreffen. Familie kann man als symbolische Form be-greifen. Wir haben schon ein erstes Formelement des Familiären bedacht: Das Zu-sammenleben. Und wir denken dieses Zusammenleben einfach als eine alltägliche Erscheinung. Denn immer ist in den Gebilden von Familien – in Formen der Ver-wandtschafts- ganz ausdrücklich aber in denen der Haushaltsfamilie – eine familiäre Alltagswelt zu erkennen. Das familiäre Zusammenleben wird also im Alltag konkret.

Nun hat ja der Begriff „Alltag“ etwa seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhun-derts, vor allem in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften, große Bedeutung er-langt. Und wenn man in deren Kontext von „Familie“ sprechen will, kommt man um eine Diskussion dieses Begriffs nicht herum. In der Sozialpädagogik war es Hans Thiersch, der diesem Begriff in den Theoriegebilden der Soialpädagogik seinen Ort gegeben hat. In Anbindung an den von Husserl philosophisch begründeten Begriff der Lebenswelt, entwarf Thiersch im Symbolbegriff Alltag für die Praxis Sozialpäd-agogik ein sozialwissenschaftliches „Konzept zur Rekonstruktion von Lebensver-hältnissen und Handlungsmustern“1. Wie nah ist dieses Konzept an Cassirers Kul-turtheorie?, oder: In welcher Weise kennzeichnet sich aus der Kulturperspektive ein Familienleben durch „Alltäglichkeit“?

Nun, Cassirer hat keine Alltagstheorie erdacht. Um eine symbolische Form darzustel-len ist Alltag kein Kriterium. Ganz sicher ist er aber eine symbolische Formkompo-nente, denn das Alltägliche findet sich schließlich überall in der menschlichen Kultur als eine, wenn man so will, „Wirklichkeit“, in überschaubaren Sozialräumen2, bzw. in

„Lebenswelten“. Oder, mit Cassirers Kategorien betrachten: Eine „Wirklichkeit“ in den Binnenräumen kultureller Geschäftigkeit – in denen der religiösen, der künstle-rischen, der wissenschaftlichen, der technischen Geschäftigkeit, die je spezifische

1 Thiersch 2000, S. 43

2 Einem Staatsgebilde etwa läßt sich kaum eine Alltagswirklichkeit zuschreiben.

turelle Güter hervorzubringen vermag. Diese Geschäftigkeit kann nun zwar „alltäg-lich“, oder auch in anderer Weise – etwa auf Perfektion gerichtet – vor sich gehen.

Aber dennoch ist es allein das funktionale und sinnvolle Handeln (Thema Kapitel III B), das das eigentliche „Werk“ hervorbringt. So können beispielsweise ein Bild, ein Staatsvertrag, ein Elektronenmikroskop oder ein gedeckter Mittagstisch, - Symbole al-so der Kunst, der Religion, der Technik, der Familie - al-sowohl in Alltagsroutine, wie auch rein auf Perfektion gerichtet, oder unter höchst gefährlichen Bedingungen, oder auch ganz einmalig verfertigt werden. Und die Art und Weise des verfertigens ist den „Werken“ meistens auch anzusehen - als „Eigenschaft“ gewissermaßen; oder als

„Formkomponente“.

So gesehen können wir dann Luhmann, ohne in Widersprüche zu geraten, zustim-men, wenn er Alltag als eine Eigenschaft von sozialen Systemen3 bezeichnet. Alltag kann man insofern system- wie auch kulturtheoretisch nicht als ein „System“, resp.

nicht als ein eigenständiges, aus spezifischem Handeln hervorgegangenes Kulturge-bilde betrachten. Alltag, als Eigenschaft von sozialen Systemen, oder kulturellen Ge-bilden, inszeniert sich in ihnen, ohne mit ihren Inhalten identisch zu sein. Man könn-te nun durchaus im symbolischen Formenensemble Alltag als Strukturmaxime des Handelns beschreiben. Zuerst einmal, weil Alltag eine durchaus universelle Gestalt besitzt, denn wir können uns Alltagsmodi offenbar in vertrauten wie auch in frem-den Erfahrungskontexten zumindest vorstellen, bzw. wir können Alltagsverhältnisse in (fast) allen kulturellen Kontexten gleichsam „wiedererkennen“. Ob in einem Be-trieb, in einer Familie, oder auch in uns ganz fremden Verhältnissen, denen eines mittelalterlichen Ritters etwa, oder denen eines Astronauten in der Raumkapsel, All-tag auf einem Schiff, in einer Fabrikhalle, den AllAll-tag der Drogenabhängigkeit. Aber was bedeutet die Rede vom Alltag als eine „Strukturmaxime“ menschlichen Han-delns genauer? Vielleicht klären wir diese Frage, bevor wir den starken Ansatz der Lebenswelt- und Alltagsthoerie beleuchten, nach dem sich das Alltägliche als spezifi-sches Handeln qualifizieren läßt.

Nun, ob man sich aus wissenschaftlichem Interesse oder aus der gewöhnlichen All-tagsperspektive mit Bestimmungen des Alltäglichen befaßt, ob man sich ihm kritisch, oder besser affirmativ nähert, immer drängt sich dabei die Vorstellung von

3 Von einem sozialen System sprechen wir hier im Sinne von Luhmann, zitiert nach Probst S 50: So-ziale Systeme sind Sinnsysteme, „die durch sinnhaft aufeinander bezogene Handlungen, durch Ko-gnitionen, Werte und Normen zusammengehalten werden.“

tigkeit, von Vertrautheit, von Berechenbarkeit in irgendeiner Weise auf. Ein Um-stand, der nicht hin und wieder, sondern der „alle Tage“ wiederkehrt gerät, ganz unabhängig von seiner sonstigen Beschaffenheit, in den Rang des Alltäglichen. Die-ser Rang tendiert zu Wertungen aller Art4, tatsächlich aber sagt er über die Wertig-keit des je Alltäglichen, ob es nützlich, schädlich, gewollt oder erzwungen, ob es skandalös oder akzeptabel ist, gar nichts aus. Das Töten im Krieg, das stündliche Ge-bet im Kloster, generiert Alltäglichkeit allein aus der Wiederholung von Geschehnis-sen. Diese aber sagt überhaupt nichts aus über Legalität, Moralität oder sonstwelcher Wertigkeit, bzw. „Gelingen“ des Alltagsgeschehens.

Der durch das Wiederholen von Ereignissen entstehenden Gleichförmigkeit des All-täglichen widerspricht es aber gleichwohl nicht, daß es in ihm Unstetigkeit geben kann. Die aber sollen, so sie das Gleichförmige des Alltäglichen tangieren, bewältigt werden. Heißt das: Je besser die Glättung des Alltags von Unstetigkeiten gelingt, de-sto stabiler ist der Alltag? Gewiß, der Alltag will geradezu der Gegenpart des Unste-tigen, des Abenteuerlichen sein. Wir wollen und brauchen ganz offensichtlich Orte des Alltäglichen, an denen Ruhe und Fraglosigkeit vorherrscht, um vorwärtsbringen zu können, was uns tangiert und was notwendig ist. Sei es im Beruf, in der Familie, in der Forschung, oder in ganz anderen, vielleicht ganz außergewöhnlichen Kontex-ten.

Insofern ist Alltag immer das Zurück-Haltende. Er ist, wenn man so will, Hinter-grund. Alltag geschieht. Und er geschieht zweckdienlich. Er geschieht, weil gesche-hen muß, was gewisse Vorgänge und Handlungen ermöglicht, die uns notwendig erscheinen. Dennoch kann man dieses Geschehen nicht auf „banale“, oder auf rein lebenserhaltende Umstände reduzieren: Daß Essen, Unterkunft und Sozialstruktur sein muß. Im Alltag einer flüchtenden Familie beispielsweise ist nämlich Nahrung und Schlafplatz genau nicht Alltäglichkeit, dafür aber vielleicht die Übernahme von Nachtwachen, von geschwisterlichen Schutzhandlungen, von Nahrungsaufteilungen o.ä.

Überall, wo in einem gewissen Zeitraum an eingegrenzter Örtlichkeit von einem oder mehreren Individuen konkrete Interessen verwirklicht werden, dort entstehen notwendig Alltagsstrukturen. Der Alltag, beispielsweise einer wissenschaftlichen

4 Thurn, Stuttgart 1980, S. 4 ff

Expedition in den Amazonas, besitzt seine ganz speziellen Notwendigkeiten, ebenso wie der pädagogische Alltag in einem Kinderhort, wie der in einer klösterlichen Ge-meinschaft, oder der einer Rockgruppe auf Tournee und auch der einer ganz norma-len Familie. Und gemeinhin denkt man, daß Expedition, Kinderhort, Kloster und Rockgruppe und Familie um so besser funktionieren, je stabiler ihre Alltagsstruktur ist. Will sagen: je funktionaler sie für die spezifische Handlungswelt der Akteure ist.

Doch allein als mögliche Strukturmaxime des Handelns betrachtet, kann es eben sehr gut sein, daß auch eine im Tourneealltag zerstrittene Rockgruppe fulminante Kon-zerte gibt, daß desaströse Alltagsverhältnisse im Innenraum des Kloster dessen Funktionalität nach außen über sehr lange Zeit weder Abbruch tun, noch ersichtlich sind. Daß Familienalltage heiter verlaufen, auch wenn es überwiegend Fastfood gibt und Karlchen kürzlich den zweiten streunenden Hund angeschleppt hat.

Das heißt grundsätzlich: Die Praxis des Alltags muß sich in kontingenten Räumen beweisen. Und – im Gegensatz zu Formen der kulturellen Praxis - muß sie es tun, ohne eigentlich hervorzutreten. Denn das Alltägliche tritt aus seinen Dienlichkeiten heraus, wenn es in den Vordergrund tritt, zumindest dann, wenn dies über längere Zeit der Fall ist. Dann stimmt etwas nicht mit dem Alltäglichen. Alltagspraxis muß also banal sein, will sie ihren Sinn und ihre Funktion erfüllen, nämlich die Entlastung vor beständigen Neuorientierungen und Neuinterpretationen in wiederkehrenden Situationen. Was aber banal daherkommt, im Wortsinne als „nicht der Rede wert“, als „nichtssagend“, nämlich das Alltagsdenken, das Alltagshandeln, das Alltagswis-sen, ist unbestritten das Resultat eines komplizierten Interaktionsprozesses zwischen Ich, Du und Welt und gleichwohl leuchtet das Machbare und Zweckmäßige des All-täglichen offenbar uns Menschen in einer unmittelbaren Art und Weise ein. Wir

„wissen“ im Einzelfall wozu das Alltägliche gut ist, und haben daher immer auch Vorstellungen darüber, wie es zu bewerkstelligen sein könnte. Aber was für eine Form der Wirklichkeit suchen wir denn im Alltäglichen?

Wir suchen geordnete Verhältnisse. Denn zweifellos bedeutet und kennzeichnet jede Form von Alltäglichkeit die Erfahrung von Routine, von selbstverständlichen Abläu-fen, von Berechenbarkeit, von Wiederholung. Alltag ist eine Manifestation von Ord-nung. Und in dieser Eigenschaft stellt sie Menschen möglicherweise vor große Schwierigkeiten, denn: Im Alltäglichen soll Ordnung erfahrbar werden. Alltag soll für uns – ausdrücklich - geordnete Verhältnisse herstellen, sie hervorbringen. Das

Alltäg-liche als Strukturmaxime menschAlltäg-lichen Handelns symbolisiert das menschAlltäg-liche Be-dürfnis, in seiner unmittelbaren Lebenswirklichkeit Ordnung schaffen zu wollen.

Insbesondere gilt das für das Handlungsmodell im familiären Alltag, das wir im nächsten Abschnitt genau in Augenschein nehmen werden.

Aber: Was ist eigentlich Ordnung? Bringen wir diesen schwierigen Begriff auf seinen einfachsten Nenner, dann heißt Ordnen ganz grundsätzlich nur: Verhältnisse bestimmen5. Aber das Prinzip des Ordnens ist zunächst einmal eine wertfreie Größe6 und es wankt auch nicht, wenn es um die Ordnung des Alltäglichen geht. Dort aller-dings geht es darum, eine Erfahrung von Ordnung zu konstituieren und das bedeu-tet: Wenn Alltag ein Symbol für Ordnung ist, dann verwirklicht sich das Alltägliche als ein Organisationsphänomen7 und zwar eines mit der Dynamik einer Selbst-Organisation8. Das Ziel aller Selbstorganisation, so auch der des Alltäglichen, ist es:

Orientierbarkeit, die Etablierung von Konsistenz und Kontinuität, Unsicherheiten verhindern, Verhaltensabstimmungen vornehmen oder erleichtern. Und da sie kein technisches oder mechanisches Phänomen ist, strebt sie immer auch nach Erneue-rung, nach Vielfalt, nach Wandel und Interaktion.

Die Ordnung einer individuellen Alltagspraxis, die im Fabrikgebäude, die im wis-senschaftlichen Labor, im Kloster, die des Drogenabhängigen, der hungernden Fami-lie oder des Pharaos, ist theoretisch nicht fixierbar. Deswegen fallen die Konzerte ei-nes Orchesters auf Tournee auch nicht mit dem Alltag des Orchesters zusammen, die religiöse Praxis nicht mit dem Alltag im Kloster, usw. Die Ordnung der Alltagspraxis markiert bestenfalls eine Schnittstelle von Öffentlichkeit und Privatheit; oder qualifi-ziert eine relativ eindeutige Szenerie kulturellen Lebens. Mit diesem Entwurf des All-tagshandelns als eine Strukturmaxime menschlichen Handelns, das in den unter-schiedlichsten Kontexten der Kultur individuelle Verhältnisse an Ordnung und rei-bungsloser Organisaton anstrebt, muß man sich wohl innerhalb der Kulturtheorie zufriedengeben. „Ordentliche Verhältnisse“ in diesem Sinne können sinnvoll und skandalös sein. Doch die Frage der Bewertung von „Ordnung“ im Alltag und im All-tagshandeln, ist im Kulturhorizont offensichtlich schwierig, vielleicht nicht einmal stichhaltig zu begründen. Zu einem derartigen Anspruch bekennt sich jedoch Hans

5 Die Vieldeutigkeit des Ordnungsbegriffs beschreibt Probst 1987

6 Hörning, 2001; S. 33

7 “Als Organisation definiere ich hier alles, was für eine Ordnung verantwortlich zeichnet.” Probst, 1987; S. 9

8 Probst, 1987; S. 11

Thiersch und so fundiert er sein Konzept vor dem Hintergrund sozialwissenschaft-lich geprägter Lebenswelttheorien mit anderen Voraussetzungen.