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„Was zunächst den mythischen Raum angeht, so entspringt er einerseits der charak-teristischen mythischen Denkform, anderseits dem spezifischen Lebensgefühl, das allen Gebilden des Mythos innewohnt und ihnen ihre eigentümliche Tönung verleiht.

Wenn der Mythos das Rechts und Links, das Oben und Unten, wenn er die verschie-denen Gegenden des Himmels, Osten und Westen, Nord und Süd voneinander scheidet – so hat er es hier nicht mit Orten und Stellen im Sinne unseres empirisch-physikalischen Raumes, noch mit Punkten und Richtungen im Sinne unseres geome-trischen Raumes zu tun. Jeder Ort und jede Richtung ist vielmehr mit eine bestimm-ten mythischen Qualität behaftet und mit ihr gewissermaßen geladen.“32

„Heiligkeit oder Unheiligkeit, Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit, Segen oder Fluch, Vertrautheit oder Fremdheit, Glücksverheißung oder drohende Gefahr – das sind die Merkmale, nach denen der Mythos die Orte im Raume unterscheidet. Jeder Ort steht hier in einer eigentümlichen Atmosphäre und bildet gewissermaßen einen eigenen magisch-mythischen Dunstkreis um sich her: denn er ist nur dadurch, daß an ihm bestimmte Wirkungen haften.“33. Oder anders: Im mythischen Raum besitzt

„jeder Punkt, jedes Element ... gleichsam eine eigene ‚Tönung’“.34 Cassirer meint da-mit, daß wir unser alltägliches Zuhause quasi in „Bezirke“ einteilen – Keller etwa können, neben ihrer Zweckbestimmung z.B. recht gruselig sein, Wohnzimmer haben, neben ihrer repräsentativen Funktion, meist Kuschelecken; Küchen sind, neben ihrer

„Werkstattfunktion“, meist begehrt für gemütliche Stunden und daher tauglich für die „Kultur des Zusammenlebens“; hingegen fand ich an so mancher Kinderzimmtür schon Schilder, die – je nach präsentierter Seite – den Eintritt verboten oder er-laubten: Symbole für den Wunsch einer Persönlichkeit nach Respekt. „Im Gegensatz

32 STS S. 103, Hervorh. E.C.

33 STS S. 103

34 PsF II S. 105f

zu der Homogenität, die im geometrischen Begriffsraum waltet, ist somit im mythi-schen Anschauungsraum jeder Ort und jede Richtung gleichsam mit einem besonde-ren Akzent versehen,“35 der symbolisch präsent ist und oftmals nur den Mitgliedern der Familie verständlich, da er sich aus ihrem Zusammenleben heraus konstituiert hat.

Dasselbe gilt auch für die Dinge, die im Haus sich aus verschiedenen Gründen an-sammeln. Weil sie gebraucht werden, um in ihnen zu sitzen, es bequem zu haben, oder weil sie in anderer Weise zweckdienlich sind, wie etwa technische Geräte. Mit ihnen allerdings verfährt das mythische Denken in merkwürdiger Weise, da es sich ausdrücklich an den Gegebenheiten des Leibes orientiert. Ein Gerät ist praktikabel, wenn es sich als Erweiterung der leiblichen Fähigkeiten erfahren läßt. Und das heißt, daß etwa moderne technische Geräte im Haushalt derart zu Werkzeugen36 „mutie-ren“. So wäre in der mythischen Aneignung beispielsweise ein PC auch für den mo-dernen Menschen „kein bloßes Produkt, ... kein(en) bloßes(n) Artefakt, sondern es wird ihm zu einem Selbständigseienden, zu etwas, das mit eigenen Kräften begabt ist.“37 Eine merkwürdige Vorstellung? Eher nicht. Jedenfalls kann man mit Cassirer nicht ohne weiteres von einem Entfremden der Lebenswelt durch Artefakte der mo-dernen Technik sprechen. Er behauptet, daß sich erwachsene Menschen die Dinge ihrer Alltagswelt in gewisser Weise animistisch aneignen, ähnlich wie Turkle38 es bei Kindern bestätigt fand, die sich Computer als beseelte Wesen verständlich machen.

Nach Cassirer kommt daher die Bewußtseinsfunktion des mythischen Denkens bei Kindern und Erwachsenen nicht generell, sondern nur graduell in anderer Weise zum Ausdruck.

Das mythische Denken „belebt“ also die Dinge. Die Dinge – für Cassirer das „aliud“, das schlechthin andere - sprechen das mythische Denken aller Hausbewohner an. Ja, das mythische Denken verleitet gleichsam dazu, von den „Dingen“ des häuslichen Alltags „nicht wie von einem toten, gleichgültigen Stoff >zu< sprechen. Die Gegen-stände sind entweder wohlwollend oder böswillig, freundlich oder feindlich geson-nen, vertraut oder unheimlich, verlockend und faszinierend oder abstoßend und be-drohlich.“39 Insofern zeigen sich Gegenstände in der mythischen Wahrnehmung, un-abhängig von ihrer Zweckmäßigkeit, mit emotional gefärbten Bedeutungen aller Art

35 PsF II S. 106, Hervorh. E.C.

36 PsF II S. 257-261

37 WWS S. 124

38 Turkle 1984

39 VM S. 123

besetzt, vor allem „sobald wir von einer heftigen Gefühlsregung heimgesucht wer-den“ 40, so Cassirer. Dann „stellt sich auch bei uns diese dramatische Auffassung der Dinge ein. Die Dinge zeigen nun nicht mehr ihr gewöhnliches Antlitz; plötzlich ver-ändern sie ihre Physiognomie; sie nehmen die besondere Tönung unserer Leiden-schaften, von Liebe, oder Haß, Angst oder Hoffnung an.“41 Ihre Symbolik bezeugt sogar (durchaus unvernünftige) Vorschriften, Regeln,42 Hierarchien und Sympathien – was gehört wem, was ist für alle verfüglich und was ist tabu – ein Tabu zu brechen ist gefährlich. Eine profane Sache hingegen wegzuschenken, ist belanglos. Das Profane gilt dem mythischen Bewußtsein als das Bedeutungslose schlechthin. Im mythischen Denken markiert es – anders als in der Umgangssprache - die völlig unspektakulär und reibungslos funktionierenden Dinge und Handlungen des Alltags. Weil etwa der mütterliche Schreibtisch und ihr Parfüm für alle tabu ist – der Vorgarten und die Gartengeräte hingegen profan, so ist dies unhintergehbar prägend für die Bezugs-ebene, die ihr Partner oder die Kinder zu diesen Dingen haben.

Mögen also Räume, Dinge und Inwohner im „Haus“ gleichwohl nach rationalen Kri-terien, objektiven Bestimmungen und sozialkulturellen Regeln geordnet sein, veror-tet sein und in Beziehung stehen – das mythische Denken überlagert diese Kriterien mit einer Symbolik, die noch eine ganz andere Ordnung zutage treten läßt. Eine le-bendige Ordnung, wie es scheint, eine Ordnung, die die menschlichen Beziehungen in ihren Gezeiten, in Räumlichkeit und in den Dingen symbolisch fixiert. Und diese le-bendige Ordnung erzeugt einen „Strukturraum. Hier entsteht, hier ‚wird’ das Ganze nicht aus den Elementen, indem es aus ihnen genetisch, nach einer bestimmten Regel erwächst, sondern es besteht ein rein statisches Verhältnis des Inneseins und Inne-wohnens.“43 Oder anders: das „statische Verhältnis des Inneseins und Innewohnens“

bedingt, daß mythische Räume wie „das Haus“ als kosmische Gebilde funktionieren.

Alles steht in ihnen mit allem in einer flexiblen Verbindung.

Dazu ein Beispiel: Frau Anger hatte ihre Mutterrolle praktisch verloren, ihre beiden dreizehn und fünfzehn Jahre alten Söhne behandelten sie bestenfalls wie eine kleine Schwester. Die „Rückkehr“ – um es einmal so zu nennen, in ihre Mutterrolle, insze-nierte nun Frau A symbolisch u.a. dadurch, daß sie ihre persönlichen Aktenordner,

40 VM S. 123

41 VM S. 123

42 MdS S. 54, u.a.

43 PsF II S. 110, Hervorh. S.W.

die in einem Waschkorb in einer Ecke lagerten, gut sichtbar in das Bücherregal im Wohnzimmer räumte, das bis anhin ihre Söhne mit einem bunten Durcheinander an Dingen belegt hatten. Und: Der Fernseher, der das Wohnzimmer dominierte, weil Nicki und Beat an ihm, wann immer sie wollten, ihre Spiele spielten, wurde von ihr eines Tages in den kleinen Hausflur gestellt. Außerdem fanden Nicki und Beat re-gelmäßig auf dem Eßtisch ein Heft, in dem sie schriftlich über die Finanzlage des Haushalts und über die Tätigkeiten, die zur Erledigung anstanden, informiert wur-den. Sie wurden zunehmend gesprächsbereit. Nach entsprechenden Vereinbarungen kam der Fernseher wieder auf seinen alten Platz, aber er diente nun der ganzen Fa-milie.

Fassen wir zusammen: Wenn das mythische Denken diesen Erfahrungsholismus ge-radezu anstrebt, dann nehmen wir jetzt einmal an, daß es den Anforderungen der pluralen Wirklichkeit häuslichen Familienalltags völlig gewachsen ist. Dafür spricht auch die wissenschaftliche Betrachtung des häuslichen Familienalltags, wie wir oben sahen, denn sie kommt zu dem Schluß, daß sich die Sach- und Persönlichkeitssyste-me eines familialen Gebildes zwar im Erkennen, nicht aber im Handlungsmodus des Familiären differenzieren lassen. Vielmehr fallen alle Systeme in jeder einzelnen Handlung der Daseinsvorsorge funktional zusammen. Für deren Gelingen kann das mythische Erfahren nicht sorgen. Aber es kann die Voraussetzungen dafür anbieten, sie gelingend zu verwirklichen. Denn das mythische Denken wird jedenfalls dafür sorgen, daß die Handlungswelt der Daseinsvorsorge „synthetisch, nicht analytisch“44 begreiflich wird. Daß man sie als „ungebrochenes, kontinuierliches Ganzes empfin-det, das eindeutige, präzise Unterscheidungen nicht zuläßt.“45 Und daß der Familien-raum ein Ort des sozialen und weniger des individuellen Erlebens ist46.

Aber was heißt dann „Ordnung“? Chaotische Schreibtische, oder Kinderzimmer, oder Badezimmer? Gestylte Küchen, großzügige Pflanzenarrangements, Schuhberge vor der Wohnungstür? Sind das Symbole für gelingendes, oder für dysfunktionales Familienleben? Beides wird sich von einzelnen Familienmitgliedern möglicherweise sehr konträr, aber nichtsdestoweniger höchst plausibel begründen lassen. Denn sie sind ja keine fremden, anonymen, plastischen Präsentationen, sondern es sind

44 VM S. 130

45 VM S. 130

46 MdS S. 66

sche Bilder,47 lebendige, bewegte Erscheinungen, deren „Sein und Werden“ aufs eng-ste im eigenen Handeln, im gemeinsamen Handeln verwurzelt ist. Was wird denn aber genau erzählt in Familien über Schuhberge vor der Wohnungstür, über Pflan-zenarrangements und über chaotische Schreibtische?