• Keine Ergebnisse gefunden

Erinnern wir uns an einige oben ausgeführte grundlegende Merkmale (Kap. II, 4) des mythischen Denkens: Das mythische Denken hat sich aus der Bewußtseinsfunktion des Ausdrucks als prägnante Kulturgestalt objektiviert. Sie repräsentiert die ur-sprünglichste Form der Wirklichkeitserfahrung. Ihre Weise der symbolischen For-mung liegt allen symbolischen Formen, sei es die Religion, die Kunst, die Technik, die Rechtsgebilde oder auch die Politik, zugrunde. Auf sie müssen wir uns verlassen, wenn wir, aus welchen Gründen auch immer, in Situationen keine stabilen Deu-tungsmuster erkennen können, die unser Verstehen und unser Handeln anleiten. Auf mythisches Denken können wir uns verlassen im Sozialen, und im pluralen Erfah-rungsraum familialen Alltagslebens. Es ermöglicht uns nämlich einen privilegierten

7 VM S. 124

Zugang zu unserer Gefühls- und Empfindungswelt, denn: „Das wirkliche Substrat des Mythos ist kein Gedanken- sondern ein Gefühlssubstrat.“8

Nun transformiert das mythische Denken, genau wie alle Erfahrung, die „Wirklich-keit“ in symbolische Formen. In sinnlich/sinnhafte Phänomene. Was das mythische Denken aber gegenüber anderen Weisen der symbolischen Formung prägnantesten auszeichnet ist, daß es mit der bloßen unreflektierten und spontanen Eindrücklich-keit selbst, dem Wirken, wie es Cassirer nennt, umzugehen weiß. Das kann in den pluralen Verstehens- und Handlungswelten von Familien in durchaus undramati-scher Weise alltäglich der Fall sein. Auch die Kunst, zumindest denkt Cassirer so, ob-jektiviert gewissermaßen gezielt gerade diese Erfahrungsform in ihren Werken9. Aber daß das mythische Denken die Wirklichkeit ergreift, ist letztlich jederzeit und überall möglich10.

Aktualisieren wird es sich allerdings gewiß dann, wenn sich verläßliche Strukturen in großen oder kleinen sozialen Systemen auflösen, z.B. durch unvorhergesehene Er-eignisse. Sei es durch Naturkatastrophen, sei es, daß sich eine Firma plötzlich auflöst, sei es, daß eine Familie im Lotto einen Riesengewinn macht. In diesen und ähnlichen Fällen deutungsoffener Daseinszonen, fallen Menschen gewissermaßen auf ihre ur-sprüngliche Erfahrungstätigkeit zurück, denn „alle Wirklichkeit, die wir erfassen, ist in ihrer ursprünglichen Form nicht sowohl die einer bestimmten Dingwelt, die uns gegenüber- und entgegensteht, als vielmehr die Gewißheit einer lebendigen Wirk-samkeit, die wir erfahren.“11

Um ihr angemessen zu begegnen können Körper, Geist und Seele im mythischen Denken kaum geschiedene Größen sein. Sind wir etwa beunruhigenden Gefühlen ausgesetzt, Wut, Angst, Euphorie, bricht uns der Schweiß aus, eine Welle von Ge-danken und Vorstellungen überflutet uns, wir finden vielleicht Laute, aber keine Worte. „Es ist“ so Cassirer, in der unmittelbaren Erfahrungswelt „sozusagen das My-sterium des Wirkens schlechthin, das hier erfaßt und mythisch objektviert wird – oh-ne daß es inoh-nerhalb desselben zu eioh-ner Grenzscheide zwischen der besonderen Art des ‚seelischen’ und des ‚körperlichen’ Wirkens kommt.“12 Das mythische Denken

8 VM S. 129

9 VM S. 223 u.a.

10 VM S. 117

11 PsF III S. 86, Hervorh. E.C.

12 PsF III S. 119

versucht nun in diesen Verflechtungen Klarheit zu schaffen. Dabei will es aber intui-tiv wie auch rational agieren, will Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen gleichwer-tig behandeln und zu einem konkreten „Erkennen“ verknüpfen. Aus dieser Voraus-setzung, die sinnlichen und sinnhaften Elemente nicht zu differenzieren, ergibt sich das wichtigste „Gesetz“ des mythischen Denkens: Das der „Konkreszenz oder Koinzi-denz der Relationsglieder im mythischen Denken.“13

Dem mythischen Denken sind offenbar alle Eindrücke gleich-gültig. Wissen, Fühlen, Denken, Können, Intuition und Ratio in eine Hierarchie zu bringen, um die Eindrük-ke zu organisieren, ist im mythischen DenEindrük-ken nicht geplant. Es differenziert insofern auch nicht wirklich. Jedes „Element“ des Denkens oder Fühlens kann daher stellver-tretend für andere gelten; Jedes Teil, das prägnant aus den Eindrücken des Wirkens heraustritt, ist das Ganze selbst. Das Konterfei des Vaters, der die Familie verlassen hat, wird säuberlich aus Fotos herausgeschnitten – er darf nicht mehr da sein. Es darf auch nicht von ihm gesprochen werden. Denn: Im mythischen Denken ist der Name identisch mit der Person. Mythisches Denken differenziert die Fähigkeiten des Er-kennens und Wahrnehmens nicht und will auch Symbole als solche nicht erkennen:

Der unabgeräumte Tisch ist die materialisierte Rebellion der vierzehjährigen Tochter.

Und „in dieser Sammlung aller Kräfte auf einen Punkt liegt die Vorbedingung für al-les mythische Denken und alal-les mythische Gestalten.“14

Deswegen repräsentiert das mythisches Denken eine Weise der „Weltgestaltung, die allen sonstigen Weisen der bloßen Vergegenständlichung unabhängig und selbständig gegenübersteht. >Es< kennt noch nicht jenen Schnitt zwischen ‚Realem’ und ‚Irrea-lem’, zwischen ‚Wirklichkeit’ und ‚Schein’, wie ihn die theoretische Erkenntnis voll-zieht, und wie sie ihn notwendig vollziehen muß. Alle seine Gebilde bewegen sich vielmehr in einer einzigen Seins-Ebene, in der sie ihr völliges Genüge finden.“15 „My-thisch“ ist zumute wer sich in der Unmittelbarkeit orientieren muß. Wer etwas ver-stehen will oder muß, ohne daß „objektive Gewißheit“ und auch nicht ein Primat von Ratio, Vernunft oder von Gefühlen „objektiv“ behauptet werden kann. Wo ganz praktische Erwägungen und persönliche Ansprüche wahrgenommen werden müs-sen. An solchen Orten kann es nur um die möglichst vollständige Synthese von Ein-drücken gehen, nicht um die analytische Differenzierung derselben. Mythisches

13 PsF II S. 89, Hervorh. E.C.

14 WWS S. 103, Hervorh. E.C.

15 PsF III S. 79, Hervorh. E.C.

Denken kennt sich also aus, wenn uns die Vieldeutigkeit der Wirklichkeit selbst for-dert. Dann also wenn es gilt, die rationalen Kompetenzen mit Gefühlsimpulsen zu kombinieren, und nicht etwa, sie abzutrennen; dabei empathische Fähigkeiten, also die Wahrnehmung des Gegenüber, aktiv zu halten, und gleichzeitig sachkompetente Handlungen von entsprechendem Weitblick zu vollziehen.

Kurzum: Wenn eine hungrige Familie sich zu Tisch setzt, jeder redet, am Salat zu wenig Öl und ein beginnender Schnupfen bei Pia konstatiert wird und die Elternper-son dafür Sorge tragen muß, daß alle in gute Stimmung den Bus um 13.30 erreichen, weil ein Besuch bei den Großeltern vorgesehen ist. Oder wenn ein über die Treppe gestürztes Kind verarztet und getröstet werden muß, zehn Minuten bevor das gefor-derte Elternteil selbst aus dem Haus gehen wollte. Oder wenn der 12jährige Olaf beim Heimkommen von der Schule ein Elternteil alkoholisiert im chaotischen Wohn-zimmer vorfindet. Weil er das schon oft erlebt hat, aber gleichwohl nie weiß, wann es geschieht, steht er nun vor der Aufgabe, für sich und seinen Bruder eine schnelle Mahlzeit herzustellen und sich eine Ausrede einfallen zu lassen, warum Sandra von nebenan nicht zum Schulaufgaben machen zu ihm kommen kann. Das mythische Denken ist also durchaus die angemessene Verstehensweise für häusliches Familien-leben. Und es ist so lange erfolgreich, so lange es sinnvoll sich auf die Daseinsvorsor-ge zu beziehen weiß, d. h. so lanDaseinsvorsor-ge es die Ansprüche der pluralen Alltagswelt ver-ständlich machen und das Zusammenleben erhalten kann. Wobei sich die Menschen die dazu nötige Sachkompetenz in aller Regel in verdeckten und informellen Lern-räumen aneignen.

Nun mag sich die Kompetenz des mythischen Denkens dazu eignen, die vielschich-tige Handlungswelt der familialen Daseinsvorsorge zu durchdringen, hingegen ist es in anderen symbolischen Formen mitunter fehl am Platz, in der Politik beispielswei-se16. Aber das mythische Denken neigt aus einem bestimmten Grund dazu, sich auch anderswo Gestalt zu geben, denn: Auf mythisches Denken fallen wir nach Cassirer immer auch dann zurück, wenn wir uns nicht mehr auskennen. In Krisen. „In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer

16 Wie dargelegt in MdS

selbst nicht mehr sicher.“17 Es gelingt den rationalen Kräften dann nicht, für „ver-nünftige“ Orientierung zu sorgen und die Vormacht vor den Gefühlen zu behalten.

Denn es braucht möglicherweise schnelle und griffige Erklärungsmuster, will man handlungsfähig bleiben und nicht den Boden unter den Füßen verlieren.

Das gilt für den Raum des Familiären, für soziale Nahbeziehungen überhaupt, wie auch für andere Formen des kollektiven Miteinander. Angst, Ohnmacht, Wut, dies alles sind Gefühle, die, wenn sie eine Familie beherrschen, wenig gute Handlungsop-tionen eröffnen. Dann liegt es nahe, Gewalt anzuwenden – denn Gewalt18 ist eine Möglichkeit, etwas Ungeheuerliches auf den Punkt zu bringen. Dann liegt es nahe, ein spezielles Familienmitglied zum Sündenbock zu machen – eine sehr gängige my-thische Deutungspraxis. Dann liegt es nahe, nach „Krankheiten“ zu suchen, um das Mißlingen des Familienlebens zu erklären. Dann liegt es nahe, den Familienalltag nach außen abzuschotten – der Deutungsraum muß geschlossen werden. Was braucht es, um aus ineffizienten „Mythen“ eines Familienalltags aussteigen zu kön-nen? Das kommt im letzten Kapitel dann zur Sprache. Jedenfalls beruht das mythi-sche Denken „auf einer ganz bestimmten Wahrnehmungsweise“19, nach ihr beurtei-len und deuten wir die Wirklichkeit durchaus eigensinnig und eigenständig.

Das mythische Denken ist also kein Reaktionsschema, das in gewissen Zuständen oder Situationen unseres Lebens kurz auftritt. Mythisch können wir ganze Lebens-phasen zubringen, die Kindheit etwa. Mythisch können wir spezielle Erfahrungs-räume organisieren, den Familienalltag etwa. Mythisch werden wir in Zeiten von Desorientierung und Stress reagieren. Mythisch werden wir also die Wirklichkeit dann organisieren, wenn uns die Ordnungsmodi des Mythischen sinnvoll und geeig-net erscheinen – oder wenn uns keine anderen zur Verfügung stehen. Welche „Ord-nungen“ läßt das mythische Denken in der Wirklichkeit entstehen? Das ist die Frage.

Cassirer hebt immer wieder die Orientierungsfähigkeit des mythischen Denkens a) gegen die des wissenschaftlichen Denkens so ab, daß deutlich wird, daß beide Mög-lichkeiten, „die Welt“ zu erkennen, dies in einer sinnvollen Weise tun können.

17 MdS S. 66; Hervorh. S.W.

18 Cassirer hat nicht über Gewalt geschrieben. Doch die „Kritik der Gewalt“ von Walter Benjamin (1988) bestätigt die mythische Qualität der Gewalt in einer Weise, mit der Cassirer durchaus einig wäre.

19 VM S. 122

Dann zeigt er b), daß das mythische Denken seine eigene Sprachform konstruiert.

Auch bleibt c) das Ich im mythischen Denken nicht verborgen, sondern kommt durchaus zu Bewußtsein, wenngleich anders als im Sprachdenken. Und in der Versi-on des mythischen Denkens gibt d) das Bewußtsein die grundlegenden Ordnungs-modi von Raum, Zeit und Zahl gleichwohl nicht auf: „aller Zusammenhang, den die Inhalte des mythischen wie die des empirischen Bewußtseins allmählich gewinnen, ist nur in diesen Formen von Raum, Zeit und Zahl und vermöge des Durchgangs durch sie erreichbar.“20 Ihre Grundstrukturen beziehen sich auf den Raum als

„ideelle Bedingungen der ‚Ordnung im Beisammen’, die Zeit als die ideelle Bedingung der ‚Ordnung im Nacheinander’.“21 Die „Zahl“ ist die Bezeichnung dafür, daß wir in unserer Wirklichkeit Größenverhältnisse erkennen. Cassirer bezieht sich bei dieser Kategorisierung vor allem auf Kant und Leibniz.

All diese „Ordnungen“ bringt Cassirer also für ein „Denken“ in Anschlag, das er konstitutionell als „Abkömmling der Emotion“22 bezeichnet. Ein Widerspruch? Si-cher nicht. Vielmehr untermauert Cassirer anhand tradierter Ordnungskriterien sei-ne Überzeugung, daß alle unsere symbolische Wirklichkeit immer nur aus der Relati-on unserer Erfahrungsfähigkeit entspringen kann. Freilich ist es auch für Cassirer nicht immer leicht, entgegen den konträren und konkurrierenden wissenschaftlichen Strömungen gerade die Relation von Denken und Fühlen plausibel zu erklären: „My-thus entsteht nicht allein aus intellektuellen Prozessen; er sproßt hervor aus tiefen menschlichen Gefühlen. Dennoch gehen anderseits alle Theorien, die nur das emo-tionale Element betonen, an einem wesentlichen Punkt vorbei. Mythus kann nicht als bloßes Gefühl bezeichnet werden, weil er Ausdruck des Gefühls ist. Der Ausdruck ei-nes Fühlens ist nicht das Gefühl selbst.“23 Der Ausdruck eines Fühlens ist nämlich ein Akt des aktiven Bildens und Formens und insofern kann er nicht der mentalen und intellektuellen, der „geistigen Energie“ entbehren. Das wäre jedenfalls die Erklärung des Erkenntnistheoretikers Cassirer. Wenn wir nun versuchen, die Dimensionen des mythischen Denkens vorzustellen, die sich, folgen wir Cassirer, im häuslichen Fami-lienalltag aktualisieren, dann werden wir sicher auf viele seiner Gedanken und Schlußfolgerungen verzichten. Denn die Frage ist: Welche häusliche Erlebniswelt konstituiert das mythische Denken?

20 PsF II S. 101

21 PsF II S. 101

22 VM S. 131

23 MdS S.60, Hervorh. E.C.