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Meine sozialpädagogische Kulturarbeit mit Familien ist im langjährigen Prozeß be-ruflicher und persönlicher Erfahrung entstanden und erst vor wenigen Jahren (2004) zu einem „Praxisprojekt“ selbständigen Arbeitens geworden, dessen Entwicklung keinesfalls als abgeschlossen gelten kann und will. Ganz überwiegend kommen Fa-milien nicht direkt auf mich zu,6 sondern es sind Behörden, die mich beauftragen, und von meiner Arbeit erwarten, daß dysfunktionale Familien – wir haben oben ver-sucht zu klären, was damit gemeint ist – zu Stabilität und Kulturkompetenz finden.

Insofern verbindet meine Arbeit i.d.R. die Zusammenarbeit mit Familien und Behör-den.

Meine interne Praxis versteht sich als ein Entwurf sozialpädagogischen Arbeitens mit Familien als Kulturphänomene. Hausbesuche bei Familien straffällig gewordener Men-schen als Bewährungs- und Erwachsenengerichtshelferin gaben erste entscheidende Anstöße; meine Elter- und Hausfrauenrolle gab entscheidende persönliche Eindrük-ke; meine Arbeit in der Eltern- und Erwachsenenbildung gab wichtige Wegweisun-gen; meine Suche nach philosophischen Denkmodellen für sozialpädagogische The-men gab aufregende Einsichten; die Arbeit als Familienhelferin in Deutschland und als „sozialpädagogische Familienbegleiterin“7 in der Schweiz, gab jedoch vermutlich den letztlich entscheidenden „Kick“, nun vielen dieser „Eindrücke“ Gestalt zu geben.

So in etwa kam das kulturtheoretische Modell „Familie“ wahrscheinlich zuwege, das für sozialpädagogische Praxis mit Familien fruchtbar sein soll. Warum?

Das Kulturmodell läßt mich das Familienleben als eine Kulturkompetenz wahrneh-men. Darüber haben wir bisher schon des öfteren gesprochen (etwa in Kapitel III B 10 und auch in diesem Kapitel unter dem Stichwort „Begegnung“). Um jetzt mein

„Projekt“ sozialpädagogischer Kulturarbeit zu präzisieren, möchte ich aber das Ge-sagte nicht lediglich wiederholen, sondern versuchen, es in wesentliche Punkte zu-sammenzufassen.

6 Auch wenn ca. 90% der Arbeit aufsuchend, also bei Familien zuhause, geleistet wird, ist ein Praxis-raum für manche Besprechung, sei es mit getrennt lebenden Elternpersonen, oder mit Mitarbeite-rInnen von Behördern, unverzichtbar.

7 Bei „pro juventute“

Familiale Kulturkompetenz kann man beim Eintreten in eine Familienwohnung er-kennen, ebenso wie man die Kulturkompetenz wirtschaftlichen Handelns beim Ein-tritt etwa in eine Bank oder in einen Supermarkt erkennen kann, die künstlerischen Wirkens in einer Gemäldegalerie, oder im Konzertsaal, usw. Kulturkompetenz ist symbolisch präsent. Sie ist im Familienleben präsent, insofern es da ist: Ein Zusam-menleben von zwei oder mehreren Menschen mit einem realen oder symbolischen Generationenverhältnis, die in privater Verantwortung dafür sorgen, daß für alle Familienmitglieder im Alltag möglichst dauerhaft und zuverlässig ausreichend Pfle-ge, Erziehung, Versorgung, verknüpft mit persönlicher Zuwendung, möglich ist.

Eine Symbolwelt des privaten Füreinandersorgens tut sich also denen auf, die in den Kulturraum „Familie“ eintreten. Und indem ich eintrete bin ich Teil dieses Kultur-raums und – das ist bedeutsam – ich bin ein Symbol dieser Kulturkompetenz, denn ich bin da, weil sich diese Familie entschlossen hat, Hilfe zu beanspruchen, in der Hoffnung, sie könne dadurch ihr Familienleben positiv verändern oder retten. Wenn mein Projekt seinen Fokus darin sieht, Familienleben als Figur des Lernens zu begrei-fen, dann heißt das zunächst einmal nicht, daß die Menschen, die mit mir arbeiten, dies nicht gelernt hätten. Wir haben (fast) alle Lernerfahrungen in familialen Gebil-den. Gemeint ist, das Gelernte gleichsam lernend zu überprüfen, da das Familienle-ben offensichtlich wenig erfreuliches zu bieten hat und auseinanderzubrechen droht.

Daß dies in keinerlei asymmetrischen Beziehung, auch nicht, wenn sie pädagogisch

„funktioniert“, geschehen kann, wurde schon oben betont. Aus meiner Erfahrung sind die folgenden Punkte für Ziel und Effizienz dieser Arbeit, nämlich – daß Familien eine lebbare Kultur erfahren können - von grundlegender Bedeutung:

1. Das Richtige tun, damit Familien ihre Kulturkompetenz selbst erkennen. Erst wenn Familien sehen, was sie diesbezüglich für ein Können bereits praktizieren, werden sie es a) in seiner Bedeutung für das Wohl im Familienleben entdek-ken und b) kreativ entwickeln können. Diese Kompetenz darf nicht als quasi

„Hintergrund“ des Familienlebens, etwa als eine Ressource, verstanden wer-den – sondern als das, was sie ist: als dessen Bedingung.

2. Das Richtige tun, damit Familien die Symbolik der Daseinsfürsorge in ihrer überindi-viduellen Geltung durchschauen. Dazu nur einige „Eckdaten“:

- Durchschauen, daß familiale Kulturkompetenz – wie alle Kulturkompetenz – eine subjektkonstitutive Funktion besitzt. Wer diese Kompetenz erlernt

oder erfolgreich praktiziert, oder sich in ihr weiterbilden will, kann erwar-ten, daß sich dadurch sein Selbstbewußtsein stärkt; darf erwarerwar-ten, daß er in-dividuelle Bedürfnisse persönlichen Wohlbefindens, gelegentlich sogar ta-buisierte Bedürfnisse, entdeckt und in konstruktiver Weise für ihre Erfül-lung Verantwortung übernimmt; kann üben, seine Mündigkeit zu fördern, indem er für familiale Anliegen und Bedürfnisse im Kulturraum einsteht.

- Durchschauen, daß familiale Kulturkompetenz eine bislang unverzichtbare Leistung im menschlichen Kulturraum darstellt. Dazu kann es hilfreich sein Familienmitglieder zu fragen, was geschähe, wenn die Arbeiten in der Fami-lie nicht mehr erledigt würde – oder was es kosten würde, wenn man sie als Dienstleistung kaufen müßte.

3. Das Richtige tun, damit Familien die Symbolik der Daseinsfürsorge für das Gelingen des Familienlebens durchschauen. Da familiale Kulturkompetenz prinzipiell ein Gemeinschaftsphänomen ist geht es um die Frage: Wie gestaltet sich im Fami-lienleben die Balance zwischen dem Sorgen für die anderen und für sich selbst? Wie ist es bestellt um die Balance allen im Familienleben denkbaren Tuns als Balance zwischen Ich und Wir? Wer leistet was?, wem kommt es zugu-te? und geht es gerecht dabei zu? Für sich selbst sorgen kann für jedes Famili-enmitglied, ob fünf oder fünfzig Jahre alt, bedeuten: Ich brauche Zeiten und einen Ort des Rückzugs. Wie kann ich dafür sorgen? Und was brauche ich da-zu von anderen Familienmitgliedern? Oder: Ich brauche Fertigkeiten und Dinge, um selbständig leibliche Bedürfnisse zu erfüllen. Wie kann ich dafür sorgen? Und was brauche ich dazu von anderen Familienmitgliedern?

Familien, mit denen ich arbeite, haben kaum das Bewußtsein ob der Bedeutung ihrer Leistung für sich und den sie umgebenden Kulturraum. In den Leiderfahrungen, die sie präsentieren, zeigt sich aber: Die „banalen“ Ereignisse, wie die Verweigerung des Tischabräumens, das Desinteresse an schulischen Erfahrungen, an Vorlieben, Unge-duld beim Gutenachtritual, sind zuallerletzt ein praktisches, gar ein technisches Pro-blem der baren Pragmatik. Vielmehr sind sie symbolisch wirksam als Mangelerfah-rungen an Zuwendung, Respekt, Anerkennung und Gerechtigkeit. Sozialpädagogi-sche Kulturarbeit bedeutet: Miterleben und Zuhören bei Geschichten solcher im Sin-ne der Daseinsfürsorge dysfunktionalen Ereignisse. „Sehen“, daß und wie Familien-mitglieder nicht ausreichend für sich sorgen. FamilienFamilien-mitglieder „sehen“, die sich selbst unterversorgen, andere hingegen überversorgen, d.h.: sich selbst auf diese

Weise abwerten und die anderen in gewisser Weise entmündigen. Familienmitglie-der „sehen“, die von anFamilienmitglie-deren forFamilienmitglie-dern, was sie selbst erfolgreich tun könnten. „Se-hen“ daß Über- und Unterversorgung symbolisch präsent ist als Mangel an Selbst-bewußtsein, an Anerkennung, an Selbstwahrnehmung. „Sehen“ bedeutet daher häu-fig auch: Eingebunden sein in die dysfunktionale Atmosphäre des Familienlebens, in Ärger, Frust, ja, Verzweiflung, Ohnmacht und Demütigung.

Der Anspruch an sozialpädagogische Kulturarbeit bezieht sich auf das Symbolische im Familienleben: Wie konnte etwa Frau Runte dazu motiviert werden, vor den Weihnachtsfeiertagen ihren Mann und ihre beiden Söhne zu einem Gespräch an den Tisch zu bekommen, in dem die Verteilung der Arbeit über die Feiertage vereinbart wurde und wie gelang es, daß der so gefaßte Plan auch stressfrei umgesetzt und die Feiertage dadurch als positive Erfahrung des Familienlebens von allen gewertet wer-den konnte? Positiv, weil kein Familienmitglied diese Arbeit, die ja eine Zusammenar-beit bedeutete, als Stress wahrnahm, die erkämpft werden mußte, wie etwas ganz be-sonderes, sondern positiv, weil sie sich schlicht als etwas selbstverständliches ereignet hat. Frau Runte hat mit mir nicht das Gespräch eingeübt – sie war vielmehr über-zeugt davon, etwas selbstverständliches von ihrer Familie zu verlangen, die diese Überzeugung teilte. Die Familie hat weit über ein Jahr an u.a. dieser „Selbst-Verständlichkeit“ gearbeitet: Die Weihnachtfeiertage wurden zum Symbol für die Kulturkompetenz, Familie leben zu können – und auch als solches erfahren.

Generell versuche ich die „Lebendigkeit“ eines Familienlebens für meine Arbeit zu nutzen, indem ich möglichst verschiedene „settings“ anstrebe. Also Einzelarbeit, so-wie andere mögliche Konstellationen der Zusammen-Arbeit mit den Mitgliedern der Familie. Methodisch unterstütze ich meine Arbeit mit der Beratungsmethode der Transaktionsanalyse, da sie ein begriffliches Instrumentarium und ein Persönlich-keitsmodell anbietet, was es ermöglicht, dem fürsorglichen Handeln besondere Prä-senz zu verleihen; daher paßt diese Methode aus meiner Sicht gut zum Kulturmodell Familie8. Sie hat – ganz verkürzt dargestellt – folgenden Hintergrund: Als Ge-sprächsmethode fußt die Transaktionsanalyse auf einer freudianisch inspirierten Phänomenologie der erwachsenen und, unter veränderten Vorzeichen, versteht sich,

8 Diese Methode ist in der Sozialpädagogik nicht unbekannt. Es handelt sich um eine ursprünglich psychotherapeutische Methode, erarbeitet vom amerikanischen Psychiater Eric Berne Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Zur Einführung in die Transaktionsanalyse empfiehlt sich u.a. Hennig/Pelz 1997 und Schlegel 1995

auch der kindlichen Persönlichkeit. Diese Phänomenologie beschreibt drei, man könnte sagen, universell zu beobachtende menschliche „Ich-Zustände“: Das a) soge-nannte „Eltern-Ich“. Es bezeichnet Einstellungen, Verhaltensweisen und Sprachfor-men, die geeignet sind, sich selbst und anderen schützend und fürsorglich, wie auch kritisch und grenzsetzend zu begegnen, wobei letzteres für die Persönlichkeit durch-aus positiv und nicht einschränkend gewertet sein kann. Im b) „Erwachsenen-Ich“

aktivieren wir Interesse, Urteilskraft, gegenwartsorientiertes Verstehen und rationale Einschätzen von Situationen. Im c) „Kind-Ich“ sind Menschen mit ihrer Gefühlswelt verbunden. Ihren Wünschen, ihrer Phantasie, ihren Ängsten und mythischen Kon-strukten, wobei der Verstand keineswegs auf der Strecke bleibt, sondern durchaus zu raffinierten Schlußfolgerungen in der Lage ist.

Das Kulturmodell Familie kann allerdings keinen therapeutischen Ansatz zufrieden stellen. Denn nach seinen Kriterien ist keine Familie krank, ebensowenig wie ein an-derer Kulturbetrieb krank sein kann. Ausgehend davon, daß Familienleben sich durch eine Kulturkompetenz konstituiert, möchte ich statt dessen weiterhin von Dys-funktionalität sprechen bei Familien, die die Möglichkeiten dieser Kulturkompetenz für ihr Zusammenleben nicht hinreichend nutzen können.

Ich möchte die Ausführungen zu meinem Projekt „Familienleben lernen“ mit einem Perspektivenwechsel abschließen: Im Grunde leitet die Überlegungen dieses letzten Kapitels IV, eine zentrale Perspektive: Cassirers Kulturtheorie in ein sozialpädagogi-sches Handeln zu integrieren. Wir haben zu diesem Zweck oben u.a. diverse Bezüge über Geschichte und Gegenwart hergestellt. Ich möchte diese Perspektive einmal umkehren mit einer fiktiven Frage an Cassirer: Was bewirkt sozialpädagogische Kul-turarbeit in Familien? Mit der Grundlage der PsF – so könnte die Antwort lauten - müßte derartige Praxis eigentlich dafür sorgen, daß sich Menschen in ihrem Familien-leben auskennen. Und das bedeutet, daß diese Arbeit Familien über ihr Leben aufklärt9. Im sozusagen „klassischen“ Sinne: Selbsterkenntnis durch Kulturerkenntnis. Selbst-Erfahrung durch Selbst-Erfahrung kulturellen Tuns. Denn die Einsichten, die diese Arbeit in einem kulturellen Symbolfeld hervorbringen soll, sind ja nicht auf die

9 Dieser Anspruch ist im Verlauf der Untersuchung verschiedentlich in den Blick gekommen (u.a. Ka-pitel III B 5) und, wie erwähnt, von Cassirer selbst vor allem in seinem Aufsatz über „Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie“ (EBK S. 231) dargestellt. Die Absicht, die seine PsF verfolgt, ist daher nicht, „eine bestimmte dogmatische Theorie vom Wesen der Objekte und ihren Grundeigenschaften aufstellen, sondern statt dessen, in geduldiger kritischer Arbeit, die Arten der Objektivierung erfassen und beschreiben, wie sie der Kunst, der Religion, der Wissen-schaft eigen und für diese charakteristisch sind.“ (WWS S. 209)