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B Eine Funktionsanalyse: Familienleben als Kulturleistung

5 Die Reproduktion der Lebensstile: Vom Geschehen

Es steht außer Zweifel, daß häusliches Alltagsleben eines der spannendsten Zeugnisse über kulturelle Gepflogenheiten abgibt. Wer könnte, in welchem Land auch immer, der Einladung einheimischer Menschen zu sich nach Haus widerstehen? Insofern gibt es gute Gründe dafür, die häuslichen Kulturmuster als den „harten Kern jeder Kultur“41 zu bezeichnen. Häuslicher Alltag wäre demnach der Ort, von dem aus die Kultur sozusagen am Leben gehalten wird. Häusliche Kulturmuster sind beliebte Forschungsobjekte, nicht nur für Ethnologen. Sogar der alltägliche Umgang mit „schmutziger Wäsche“, so der Soziologe Jean-Claude Kaufmann,42 kann gemäß seinen Untersuchungen durchaus für die Stabilität einer Paarbeziehung von Bedeutung sein. Einen wesentlich eindringlicheren Blick allerdings warf Pierre Bourdieu mit seinen soziologischen, bzw.

40 Gestrich et al. 2003, S. 4

41 v. Schweitzer 1991, S. 303

42 Kaufmann, 2005

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sozialphilosophischen Untersuchungen zur Genese und Tradierung sozialer Lebensstile auf familiale Alltagswelten.43 Was Menschen wie in Alltagskonstellationen konsumieren und goutieren, wie sie sich bewegen und ausdrücken, sagt recht eindeutig etwas darüber aus, welcher sozialen Schicht sie zugehören. An sich ist das eine banale Erkenntnis, doch Bourdieu geht es um den Aufweis eines „rationalen Fundaments“ für die Frage, warum wir (oder er, der sich als Intellektueller bezeichnet) so denken, fühlen urteilen und handeln, wie wir es tun.

Es sind die privaten Alltagswelten, die darüber zuerst und wohl am prägendsten bestimmen.

In familialen Alltagswelten bildet sich der Habitus eines Menschen aus. Um diese zentrale These Bourdieus rankt sich gewissermaßen seine empirische und argumentative Beweisführung. Sein tragender Begriff, der Habitus, soll die Gebilde sozialer Schichten und Klassen auftun als Gründe zur Konstitution ihrer selbst durch entsprechend sozialisierte Individuen. In Anerkenntnis der Tatsache, daß „die Alltagserfahrung von sozialer Welt durchaus Erkennen darstellt“44 ist es von erheblichem Belang, mit welchen Büchern, mit welchen Geräten, Möbeln, Bildern welche Häuser oder Wohnungen einerseits ausgestattet sind und anderseits, wie die Inwohner mit diesen Dingen umgehen und wirtschaften. Nicht nur welche, sondern wie sie ihre Getränke konsumieren, nicht nur welche, sondern wie sie ihre Kleider tragen, nicht nur welche, sondern wie sie ihre Speisen zu sich nehmen – dieser Einklang von Gegenständen und Umgangsformen wirkt „auf der Ebene des Symbolischen“45 auf die Akteure in ihren Alltagswelten ein. Der so im Wahrnehmen46 ausgebildete Habitus einer Person ermöglicht es ihr, „eine intelligible und notwendige Beziehung herzustellen zwischen Praktiken einer Situation, deren Sinn er nach Wahrnehmungs- und Wertungskategorien produziert, die selbst wieder Produkt objektiv beobachtbarer Verhältnisse sind.“47

Diese Zirkelhaftigkeit von Praxis und Produkt, die hier gemeint ist, ergibt sich für Bourdieu durch den Bedingungszusammenhang der in Alltagswelten vorhandenen

„strukturierten Produkte“, und der sie „strukturierenden Struktur“. Und sie besteht,

„weil sie in der ursprünglichen synthetischen Einheit des Habitus vorliegt, dem

43 Bourdieu 1982

44 Bourdieu 1982, S. 281

45 Bourdieu 1982, S. 281

46 Bourdieu 1982, S. 279 (Hervorh. P.B.)

47 Bourdieu 1982, S. 174

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einheitsstiftenden Erzeugungsprinzip aller Formen von Praxis.“48 Insofern symbolisieren Alltagsdinge kulturell längst vorinterpretierte Werte, und die inkorporierten Formen familiären Umgangs mit ihnen erwirken per habitueller Prägung die Eigenschaften und Werturteile von Professoren, wie von Kleinbürgern und sozialen Randgruppen, die sie zur Konstruktion der zu ihnen passenden Lebensstile veranlassen. Der jeweilige, derart im Symbolischen erzeugte Habitus, ist so gesehen „ein Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem dieser Formen.“49 Er bewirkt, daß „die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe...) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata ... systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils.“50

Oder schlicht gesagt: Der Habitus einer Person repräsentiert die Fähigkeit, denjenigen Lebensstil, der ihn hervorgebracht hat, zu reproduzieren und ihn von anderen Lebensstilen zu unterscheiden. Und die Rede vom Habitus zwingt uns insofern schon zur Einsicht, daß sich im Familienalltag Individualität nur relativ eigensinnig ausbilden kann, ganz zu schweigen vom Anspruch, es möge sich zur Autonomie heranbilden. Doch Bourdieu legt den habituierten Subjekten zur Last, daß sie, ganz gleich an welcher Schicht sie teilhaben, zum Erhalt sozialer und kultureller Ungleichheit beitragen. Denn über privilegierte Lebensstile wird auch tradiert, was in der Kunst, was in der Wissenschaft oder der Wirtschaft Geltung erlangt. Daß beispielsweise die Hausarbeit in der Wissenschaft nicht von Interesse ist und daher ein kümmerliches Schattendasein führt, entgeht notwendig genau dem Habitus, der im Kontext von Wissenschaft Zugang findet und der dort verstanden wird. Auch Cassirer, dem man gewiß keine Überheblichkeit nachsagen kann, der jedoch jenseits aller praktischen Alltagsarbeit in einem reichen Elternhaus aufwuchs, konnte habituell schon nie auf die Idee kommen, die Hausarbeit wäre von wissenschaftlicher Bedeutung, was auch zahlreiche Anekdoten seiner Frau belegen.

Ob und wie über Kunst, Politik, wie über die Nachbarn bei Tisch gesprochen wird, welche Mimik des Vaters die Schilderung der Tochter von den Ereignissen in der Schule begleiten, dies wird in einem Arbeiterhaushalt anders verlaufen als in einem Lehrerhaushalt oder in einem bäuerlichen Haushalt. Feinste Beiläufigkeiten, von

48 Bourdieu 1982, S. 282f

49 Bourdieu 1982, S. 277 (Hervorh. P.B.)

50 Bourdieu 1982, S. 278

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Systemfremden sozusagen nicht einmal wahrzunehmen, prägen das Selbstbild, reproduzieren Lebensstile in feinsten Nuancen und erlauben das Wiedererkennen für die, die dazugehören und auch für die, die nicht dazugehören. Das heißt:

Familienalltag reproduziert soziale Identität und soziale Differenz. Die Brüche im Habitus einer Person entstehen und werden markant, wenn sich Ereignisse häufen, die sich am „Ort“ der eigenen Alltäglichkeit nicht wiedererkennen lassen.

Wenn beispielsweise Kinder aus einer sozial problematischen Familie schulische Bestleistungen erbringen. Dieser Umstand kann ohne entsprechende Hilfe in solchen Familien bis heute kaum so integriert werden, daß den Kindern die richtigen Folgen aus ihrer Leistung zukommen, nämlich der Gang auf ein Gymnasium. Dieser „Fall“

ist nämlich in dieser Familie nicht vorgesehen. Und die Schule, eine bis heute als mittelschichtorientiert geltende Institution, ist für derartige Fälle nicht gut gerüstet.

Uwe und Jan, zwei in dieser Weise „auffällige“ Kinder einer Familie aus meiner Praxis, wurde von der Grundschule auffälliges Sozialverhalten nachgesagt. Es wundert wenig, daß sowohl für die Mutter, wie auch für die Lehrpersonen, sowie, was immerhin bemerkenswert ist, auch für die Kinder selbst, die schulischen Bestleistungen sich im Schulgespräch als praktisch irrelevant erwiesen, gegenüber dem angeblich auffälligen Sozialverhalten. Daß diese Kinder selbstverständlich an ein Gymnasium wechseln sollten, war für die Lehrer kein Thema der Elterngespräche, die ich begleitet habe. Die Buben wurden auch seitens der Lehrer nicht zur Teilnahme an den Förderstunden für Begabte vorgeschlagen, wofür sie, entsprechend ihren Schulleistungen, unbedingt berechtigt gewesen wären.

Wie drastisch, und mehr als noch vor zwei Jahrzehnten, die soziale Herkunft in Deutschland über den Schulerfolg und die Partizipation an weiterführender Bildung entscheidet, wird in der neuesten PISA-Studie bestätigt, denn ein bundesdeutscher Mittelwert ergab, daß ein 15 Jahre alter Schüler aus einer Oberschichtfamilie eine ca.

viermal so hohe Chance zum Besuch des Gymnasiums hat, wie ein gleichaltriger Schüler aus einer Facharbeiterfamilie51. Bourdieus Kritik der symbolisch geformten gesellschaftlichen Urteilskraft macht dieses Faktum erklärlich. Und sie ermöglicht einen grundlegenden Blick auf die doppelbödige Leistung familiärer Alltäglichkeit als Reproduktionsstätte nicht nur für Lebensstile, sondern für deren

51 www.paritaet-lsa.de 27.12.2005

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Voraussetzungen: Einer Statuskompetenz52, die es dem Individuum ermöglicht, überhaupt erst Bescheid zu wissen über Orte und Bedingungen, an denen es ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital zu erwerben und zu nutzen gibt.

Weil Bourdieus „Kritik der Kultur“53 durchaus mit Cassirers Kulturtheorie kompatibel ist, erlaubt sie uns diesen ergänzenden Blick auf Cassirers „Kritik der Kultur“. Beide arbeiten als Sozialphilosophen mit der Symbolbegrifflichkeit. Doch aus der gesellschaftskritischen Perspektive des Soziologen vermag Bourdieu den Herrschaftscharakter der Kultur darzustellen, den Cassirer als kulturtheoretischer Philosoph lediglich feststellt wenn er u.a. sagt, daß die „verschiedenen Tätigkeiten, die die Welt der Kultur konstituieren, nirgendwo in harmonischem Nebeneinander“54 vorkommen, sondern in ihrer „Vielfalt und Disparatheit“55 sich sowohl ergänzen, wie auch einander widerstreiten. Dies geschieht, so ergänzt Bourdieu, weil symbolische Formen, wie Kunst, Technik, Religion, Politik, das Familiäre, usw., einerseits zwar den menschlichen „Willen zur Form und das Vermögen zur Form“56, also die Kreativität menschlichen Schaffens repräsentieren, aber genauso auch den menschlichen Willen zur Macht.

52 Bourdieu 1982, S. 632f

53 Bourdieu 1982, S. 15

54 VM, S. 113

55 VM S. 346

56 EBK S. 247