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Obwohl durchaus maßgebend auch von philosophischen Denkansätzen geprägt, findet sich Cassirer nirgendwo in den theoretischen Hintergründen der Lebenswelt-orientierung9, die Eingang fanden in die hermeneutisch-pragmatische Erziehungs-wissenschaft. Richtungsweisend sind ihr sozialwissenschaftliche Analysen und ihre Perspektive bestimmt denn auch den Begriff der Lebenswelt, der, wie oben erwähnt, theorietragend wurde für das, was Hans Thiersch in der Sozialpädagogik vermittels der Begriffe Alltag und Alltäglichkeit als Rahmenkonzept und Handlungsmuster so-zialpädagogischer Profession zu Rang und Namen gebracht hat.

In diesem Konzept wird Alltag von Thiersch – man könnte sagen, durchaus im Sinne der Kulturtheorie - einerseits als eine Strukturmaxime10 des Handelns in diversen Le-benswelten anerkannt, denn: Als eine Erscheinung sozial-kultureller Verhältnisse zielt „Alltäglichkeit ... zunächst auf Arrangements, auf Zustände“, in Familie, in Heimen, in Arbeitswelten, in Gemeinwesen u.a. Verantwortlich für diese Verhältnis-se ist aber ein Handeln in zeitlichen, räumlichen und sozialen Dimensionen, um Ord-nung und Organisation des Machbaren und Notwendigen in diesen Verhältnissen zu situieren. In der Betrachtung, Entdeckung und in der Analyse der Phänomene des All-täglichen – beispielsweise in gemeinsamen Mahlzeiten, dem Aufräumen, in Begrü-ßungs- und Abschiedsritualen, in Konflikt- und Zuwendungssituationen, usw. - er-kennt also Thiersch im Alltäglichen – entgegen der Kulturtheorie - sowohl eine ei-genständige Form des Handelns – neben anderen11 wie auch den normativen An-spruch dieses Handelns auf „Gelingen“12. Alltäglichkeit inszeniert sich, so gesehen, gleichsam in Gestalt gesellschaftlich vorgegebener, wie ökonomisch bedingter, wie auch individuell eingeübter Verhaltensmuster, die darauf zielen, „geordnete Verhält-nisse“ nicht nur überhaupt, sondern vielmehr als gelingenden Alltag erfahrbar zu ma-chen. Als „Bühne auf der agiert wird“13 offenbart die Alltäglichkeit, daß Menschen es mehr oder weniger glücklich bewältigen müssen, in sinnvollen und hinderlichen

9 Vgl. Thiersch et al. 2004, S. 17ff

10 Thiersch 1992, S. 46 u.a.

11 Thiersch 1992, S. 49

12 Thiersch 1992, S. 52f

13 Thiersch 1992, S. 47

ditionen gefangen zu sein, in chancenreiche oder ausgrenzende gesellschaftliche Verhältnissen hineingeboren worden zu sein, begünstigenden oder diskriminieren-den ökonomischen Bedingungen ausgeliefert zu sein, in förderlichen oder pathologi-schen Sozialbeziehungen bestehen zu müssen – daß sie die Pragmatik des Alltägli-chen mit stabiler und mit instabiler individueller Kraft durchdringen.

Als letztlich ein „Wertbegriff“ zeigt sich „Alltag“ daher in der sozialpädagogischen Analyse alltäglicher Ereignisse – gemeinsame Mahlzeiten, morgendlicher Streit ums Badezimmer, tägliches Einkaufen, und so vieles mehr dieser Art – als Ambivalenz und darin als ein Signum modernen Zeitgeistes: „Die Enge der Erfahrungen, die Pragma-tik eingespielter Verständnis- und Handlungsregeln, die Routinen mit ihrer Entla-stung können borniert, ruinös sein und mit Leerlauf, vorurteilsgeprägter Starre und mit Ausgrenzung einhergehen“14. Die Ambivalenz von Alltäglichkeit steht fast me-taphorisch für ein indifferentes Element kultureller Realität, das immer Widerspruch und Komplexität zugleich sein kann und insofern auch Unsägliches und Selbst-Verständliches zugleich hervorbringt. Erzwungene und gewollte Anpassung. Not-wendigen und bornierten Widerstand. Ressourcen und Defizite im Verstehen und Bewältigen alltäglicher Anforderungen.

Hinter dieser in Widersprüchen geordneten Komplexität des Alltäglichen vermag sich denn auch vieles zu verbergen und vermögen sich Vor-Urteile bequem zu lagern.

Doch der „Wertbegriff“ Alltag ist „auch Indiz seiner Bedrohung, seiner Krise“ und fordert uns daher geradezu heraus, Tabus zu benennen und merkwürdige Fragen zu stellen: Muß denn Routine, Berechenbarkeit und die Wiederholungsqualität des All-täglichen langweilig, ohne Reiz sein? Und muß, anders herum, Vertrautheit, Intimi-tät, im alltäglichen Erleben von Miteinander schön und erhebend sein? Wie kommt es, daß „geordnete Alltagsverhältnisse“ emotionalen und sexuellen Mißbrauch,15 psychische und physische Gewalt, über lange Zeiträume in ihrer „Ordnung“ (ver-) bergen?

Solch eine Perspektive auf die „Wirklichkeit“ von Alltagsphänomenen zeigt: Die Formen „geordneter Alltagsverhältnisse“ erzeugen Wohlbefinden, Entspannung und Schutz, wie auch können in ihnen Ungeheuerlichkeiten und Risiken routiniert und

14 Thiersch 1992, S. 52

15 Fossum et al 1992

berechenbar, sozusagen „geordnet“ verborgen sein. Letzteres um so eher, als keine Alltäglichkeit ungefragt in Erscheinung tritt und insofern meist der sozialen oder öf-fentlichen Kontrolle weitgehendst entzogen ist – sei sie funktional oder dysfunktio-nal. Das gilt insbesondere für familiäre Alltage, die ja der Privatheit zugeordnet sind;

aber auch in den Alltagsnischen öffentlicher Räume, in Schulen etwa oder an Ar-beitsorten, können sowohl heitere Alltagsgewohnheiten wie auch Unterdrückung und Grausamkeit, Spielarten des Mobbing beispielsweise, lange Zeit unaufgedeckt bleiben.

Alltag und Alltäglichkeit als verbliebene Refugien, in denen das Bedürfnis und das Recht auf „geordnete Verhältnisse“ auch in der Moderne nicht in Frage steht, müssen nach Thiersch im sozialpädagogischen Auftrag daher den „Alltag ... zunehmend

>als< Schauplatz von Desorientierung und Ratlosigkeit“16 in Augenschein, und damit zum Anlaß für sozialpädagogisches Handeln nehmen. „Den je konkreten Alltag in seiner Wirklichkeit aufspüren“, das ist programmatisch gemeint: Alle Sozialpädago-gik muß sich auf offene lebensweltliche Strukturen17 einlassen und in deren Orten professionell handeln können. „Den je konkreten Alltag in seiner Wirklichkeit auf-spüren“. Ist das überhaupt möglich und ist es überhaupt schicklich? Es ist schicklich, wenn sich Respekt als professionelle Haltung18 zu verstehen weiß und in den ver-schiedenen Praxisfeldern „geordnete Verhältnisse“ im Sinne eines „gelingenden All-tags“ helfend, restaurierend, unterstützend, vermittelnd, oder auch strukturierend herzustellen weiß. So will der der sozialpädagogischen Praxis aufgegebenen Blick auf entgrenzte und entstellte Alltagsverhältnisse – insbesondere in Familien – das Alltägliche notwendigerweise nicht allein als besondere Ordnungserfahrung von Raum, Zeit und sozialen Beziehungen, und insofern als Organisation subjektiver An-liegen und sachlicher Gegebenheiten restaurieren, sondern „orientiert am Kleinen, Unscheinbaren, an jenen immer wiederkehrenden Vollzügen“19 Hilfe und Unterstüt-zung „im Horizont der Frage nach einem gelingenderen, freien, produktiven, solida-rischen Leben“20 anbieten.

Und: Wie steht es nun mit ordentlichen Verhältnissen in Familien? „Die Ordnung der Familie war ... immer ein wichtiges Objekt für gesellschaftliche Leitbilder und

16 Thiersch 1992, S. 44

17 s. dazu auch Schründer, 1982

18 S. u.a. Grunwald et al. 2004, S. 32

19 Thiersch 1992, S. 49

20 Thiersch 1992, S. 52

schriften des Zusammenlebens und sozialen Verhaltens.“21 Doch, so mahnen auch die Historiker: „Diese Normen dürfen nicht mit der Realität des Familienlebens ver-wechselt werden.“22 Das heißt einerseits: Bestehen und der Geltung einer Norm muß nicht notwendig sinnvoll sein für Familienleben; und anderseits: Inwieweit Familien Normen beachten oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab, u.a. davon, wie restriktiv die Beachtung geahndet wird. Doch alle familiäre „Realität“, wie immer sie sich zeigt, ist jedenfalls zunächst auf die „Ordnungsfunktion“einer gelingenden Alltags-welt angewiesen, soll das Familienleben nicht beständig durch Orientierungs- und Bewältigungsleistungen gestreßt sein. Aber man muß zugestehen, daß gewisse sozi-al-kulturellen Normen bei der Situierung gedeihlicher Alltagsverhältnisse hilfreich sein können.

Natürlich ist ein Familienalltag auch ein Organisationsphänomen. Und er organisiert sich prinzipiell auch nicht anders als der Alltag in einer Raumkapsel, nämlich im Spannungsfeld zweckrationaler Entscheidungen und subjektiver Bedürfnisse. Aber die Familie gilt uns – zumindest aus sozialwissenschaftlicher Sicht - kaum als Zweckgemeinschaft, sondern als eine Gruppe. Und das heißt heute: In ihr haben die Beziehungen ein ungleich größeres Gewicht. Um sie zu erhalten kann sich die All-tagsorganisation in Familien – in ihrer Eigendynamik als Selbstorganisation – auch dann als beständig erweisen, wenn der Familienalltag unheilvoll geworden ist.

Alltag im Lebensraum Familie ist also nicht einfach ein Anhängsel, ein Hintergrund, wie beispielsweise der Alltag in den Ferien oder in einer Werkstatt. Der Alltag in Familien bedeutet: Alltägliche Gewohnheiten, Vertrautheit, Organisationsformen und Ordnungsmuster sorgen für kontinuierliche Handlungsabläufe und aus dieser Formkraft leitet sich Wohlbefinden, Wertschätzung, und Entfaltungsmöglichkeiten oder auch Ausgrenzung und Überforderung für die Individuen und das familiäre Zusammenleben ab. Insofern besitzt die Eigenschaft „Alltag“ in Familien eine für diese Sozialität konstitutive Funktion, und ist ein unbestechlicher Zeuge dafür, ob sich das ihm zugeordnete System „Familie“ im Gleichgewicht befindet oder nicht. Man könnte sagen: Die Instabilität familialer Gemeinschaften ist symbolisch präsent in der Instabilität ihrer Alltagskonstruktion.

21 Gestrich et al. 2003, S. 366

22 Gestrich et al. 2003, S. 366

Und die Krisenanfälligkeit familialer Alltäglichkeit symbolisiert daher die relative Abwesenheit von durch Traditionen, kulturelle Gepflogenheiten, u.ä. vorgegebenen Strukturen in Familien, so daß sie die notwendigen Strukturen ihrer Alltagswelt so gut wie alle aus ihren Tätigkeiten heraus selbst erzeugen muß. Was das genauer bese-hen bedeutet, ist Thema des nächsten Kapitels, wo es um die im Familienleben spezi-fische „Tätigkeit“ gehen wird. Doch festzustellen bleibt allemal: Mit diesem An-spruch, die Ordnung und Pragmatik ihres Alltagslebens als einen weitgehendst offe-nen Deutungs- und Handlungshorizont zu bewerkstelligen, sind viele Familien über-fordert. Die Haushaltswissenschaftlerin von Schweitzer hält moderne Familien oh-nehin nicht mehr für strukturfunktional, sondern systemfunktional. Das heißt, ein Fami-lienleben kann „eine Vielzahl von Strukturen haben, wenn nur die Funktion erfüllt wird.“23 Systemfunktionalität bedingt das Absehen von bestimmten, den Funktionen undienlichen Strukturen – etwa die Ungleichstellung zwischen Hausfrau und Haus-herrn, oder das warme Mittagessen um zwölf Uhr - und erfordert dafür eine (part-nerschaftliche) Einigung darüber, was für Gewohnheiten, Organisationsabläufe und Ordnungen gut und notwendig für das Alltagsleben einer Familie, und damit auch für jedes ihrer Individuen sind. Ob und wie beispielsweise die kleinen und großen Veränderungen, die durch die unvorhergesehene Arbeitslosigkeit eines Vaters, oder durch einen ebenso unvorhergesehenen Lottogewinn entstehen, in das Familienleben integriert werden, wird sich heute kaum erfolgreich aufgrund traditioneller elterli-cher Machtpositionen regeln lassen.

Auch wenn wir das an traditionellen Strukturen orientierte Familiengebilde durch-aus mit Erleichterung als überholt verabschieden, so läßt der Anspruch moderner Pädagogik, nach dem sich das Alltägliche per Aushandeln24 organisieren soll, viele Familien schnell an ihre Grenzen kommen, vor allem dort, wo Eltern bereits in eine hilflose Position gerutscht sind, und Kinder den dadurch entstandenen Freiraum ei-genständig füllen. Beispielsweise indem sie die Zeitpunkte ihres Kommens und Ge-hens selbst bestimmen, nur die ihnen passend und angenehm erscheinenden Nah-rungsmittel zu sich nehmen, oder Familienräume nach ihrer Zeitstruktur besetzen.

Auch „geordnete Verhältnisse“?

23 v. Schweitzer, 1991, S. 294

24 „Wenn aber im heutigen Alltag das Selbstverständliche nicht selbstverständlich ist, muß es immer auch ausgehandelt werden.“ Thiersch 1992, S. 45

Jedenfalls, es sind destrukturierte Alltagsräume, die das Arbeitsfeld der sozialpädago-gischen Familienhilfe,25 bilden, in der das professionell taktvoll strukturierende Han-deln die Funktionalität des Familienalltags z.B. modellhaft inszeniert und so das Vertrauen der Familien in ihre verloren geglaubten Fähigkeiten wieder herstellen hilft. Nun ist es natürlich zu früh für Erwägungen über professionell restaurierende Praxis von Familienalltagen. Denn vor dem Hintergrund der Kulturtheorie wissen wir noch viel zu wenig über den Alltag in Familien. Und wenn wir sie gleich beim Wort nehmen, so werden wir wohl keine Alternative zum Handlungsmodus des All-täglichen erwarten können, dafür wird sich im nächsten Kapitel in der „Funktions-analyse“ erschließen müssen, was überhaupt im Alltag von Familien mit Sinn für die Kultur geschieht. Es wird also um Sinn und Eigenart des Handelns gehen, aus dem das familiale Zusammenleben im gemeinsamen Haushalt als solches hervorgeht.

Wie wäre nun zu resümieren? Nun, die Alltäglichkeit als Strukturmaxime des Han-delns gilt wohl sowohl in der Kulturtheorie, wie auch im Konzept von Hans Thiersch. Doch die Lebenswelt- und Alltagstheorie läßt, trotz ihres normativen An-spruchs an alltägliches Handeln, einen relativ großen Spielraum bei der Frage, was denn genau es für ein Handeln ist, das die Alltäglichkeit, bzw. die Phänomene des Alltags an seinen Orten hervorbringt. Und so besteht etwa die Gefahr, daß die Hand-lungskompetenz familialer Daseinsvorsorge in der Phänomenologie der Alltäglich-keit aufgeht. Diese Phänomene aber gestatten gleichwohl, anders als die Kulturtheo-rie, den Schluß, daß die Desorientierung moderner Menschen bis in ihre Alltagswelten hineingreift, dort hochproblematische und schädigende Wirkungen erzeugt, die, entgegen den Paradigmen der Individualisierung eben doch nicht dem Versagen des Individuums, sondern ungerechten, desorientierenden und ausgrenzenden Sozial-verhältnissen angelastet werden müssen. So ist sozialpädagogischer Profession durch die zeitkritische Analyse in der Problematisierung der Alltäglichkeit ein ihren - auch sozialkritischen Aufgaben - angemessenes Verstehensmodell entstanden.

Aus Cassirers Kulturtheorie sind sozial- und zeitkritische Analysen nicht ohne weite-res zu gewinnen. Dafür erlaubt sein Verstehensmodell, wie wir hoffentlich im fol-genden zeigen können, aufklärende Analysen zu dem, was Menschen in ihrer kulturel-len Welt hervorbringen und insofern auch darauf, was vonnöten ist oder sein kann, damit die vielfältigen kulturellen Gestaltungskräfte, die u.a. auch das Familienleben

25 Woog, 1998, S. 177ff

konstituieren, sich auch im Fortschreiten der Zeit und in den darin gegebenen Ver-änderungen zu erhalten vermögen.

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