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Fragen nach dem Menschen als Kulturwesen

1 Vom Symbolischen als „Schlüssel“ des Verstehens

1927 schildert Cassirer den Anwesenden des „III. Kongresses für Ästhetik und all-gemeine Kunstwissenschaft“ in Halle in knapper Form die Grundzüge seines Sym-bolbegriffs1. Sie erfahren, daß der Begriff des Symbols in der Religion seine Wurzeln hat und daß das Symbol dort als das „Geheimnisvolle und Gottgewirkte“2, als My-sterium, dem Profanen gegenübersteht. Aber wenn Cassirer seiner Zuhörerschaft gewisse Vereinnahmungen des Symbolbegriffs durch die Ästhetik, die Logik und die Naturwissenschaften zu Gehör bringt, so mit der Absicht ihn vom Verdacht der Be-liebigkeit zu rehabilitieren und aufzuzeigen, daß der Symbolbegriff als vielseitiges Denk- und Erklärungsmodell auch für die Anliegen der theoretischen und prakti-schen Philosophie bestens geeignet ist.

Diese Anwendung des Symbolbegriffs in seiner Kulturphilosophie läßt ihn 1944 in seinem Buch „An Essay on Man“ resümieren: „Das Prinzip des Symbolischen mit seiner Universalität, seiner allgemeinen Gültigkeit und Anwendbarkeit ist das Zau-berwort, das ‚Sesam öffne dich!’, das den Zugang zur menschlichen Welt, zur Welt der menschlichen Kultur, gewährt. Sobald der Mensch diesen Zauberschlüssel be-sitzt, ist der weitere Fortschritt gesichert.“3 Er meint u.a. damit: Weil im Begriff des Symbolischen die „Regel“ festgehalten ist, nach der wir Menschen unsere Wirklich-keit konstruieren, können wir uns in unserem So-Sein auch endlich begreifen. Der Symbolbegriff bietet für Cassirer also für all unsere menschlichen Fragen das ange-messene Verstehensmodell. Und dieses besagt für die Wissenschaft, wie für die alltäg-lichen Kulturwelten ganz grundsätzlich: Was immer wir „verstehen“ wollen – nichts wird für uns eindeutig und in ewiger Gültigkeit erkennbar sein. Immer werden wir auf eine dem menschlichen Geist entsprungene symbolische Form treffen, die wir nur aus den verschiedensten Perspektiven betrachten können. Menschen leben in ei-nem von ihnen so gestalteten symbolischen Universum.

Nun ist ja ein Symbol nach unserem Alltagsverständnis ein Gegenstand, dem unter-schiedliche Bedeutungen anhaften. Das Kreuz und der Fisch sind beispielsweise Symbole der christlichen Religion, ein Rolls Royce eines für Reichtum. Jedoch:

1 STS S. 1 - 22

2 STS S. 2

3 VM S. 63

bole sind keine Zeichen. Auch wenn Cassirer die Begriffe Zeichen und Symbol nicht immer genau auseinanderhält, so verlangt er doch, zwischen beiden Begriffen sorg-fältig zu unterscheiden.4 Tiere können Zeichen verstehen. Der Schlag einer Glocke kann als Zeichen, daß das Fressen bereit steht, von Tieren bekanntlich interpretiert werden. Das Zeichen ist eher eindeutig auf eine bestimmte Sache bezogen. Es ist, wenn man so sagen will, die Referenz eines Objekts und insofern auch von Tieren zu erkennen. Aber: „Symbole – im strengen Sinne des Begriffs – lassen sich nicht auf bloße Signale reduzieren.“5 Denn Zeichen sind nach Cassirers Verständnis nicht Trä-ger von Bedeutung. Bedeutung, also eine vielschichtige und vielgestaltige „Wirklich-keit“ zu erkennen, ist nur dem Subjekt möglich. „Ein Symbol ist Teil der menschli-chen Bedeutungswelt“6, weil das „Denken“ des Menschen über die Fähigkeit der pluralen Deutung der Wirklichkeit verfügt. Daher ist „kennzeichnend für das menschliche Symbol ... nicht seine Einförmigkeit, sondern seine Vielseitigkeit und Wandelbarkeit.“7

„Was ist eine Frau?“, oder „was ist ein Mann?“ Diese Fragen wären auch für Cassirer selbstverständlich nur in Anwendung des Symbolbegriffs zu beantworten gewesen.

Mit dem heute bekannten Resultat, daß Geschlechterdifferenz ein Kulturkonstrukt ist. Und auch Familie ist natürlich ein Symbolbegriff, wie wir noch sehen werden.

Aber auch jede Familie ist in ihrer Erscheinung ein Symbol. Ein Symbol für das Fami-liäre schlechthin, so wie eine Kirche ein Symbol ist für Religion. Sie ist aber auch ein Symbol für ihre sie umgebende Kultur. Eine Familie aus dem heutigen Lappland verweist auf einen anderen Kulturraum als eine Familie aus dem Pariser Bürgertum des vergangenen Jahrhunderts. Familien sind Symbole für humanitäre Verhältnisse.

Symbole für die Schicksalhaftigkeit des Daseins, für die Bewältigung menschlicher Probleme oder auch eines für das Zerbrechen an ihnen. Familie kann das Symbol für Glück und Grausamkeit sein. Für Solidarität und Egoismus. Und jedes Mitglied einer Familie wird in seiner individuellen Existenz Symbole aus den Familien wiederer-kennen, denen es zugehört oder zugehört hat. Ganz einfach vielleicht an speziellen Vorlieben oder Abneigungen, oder auch an solchen die erklären, warum es sich dazu entschieden hat, selbst keine Familie zu gründen. In den Familienromanen des letz-ten Jahrhunderts, etwa von Thomas Mann, ist „die Familie“ Symbol für den Zerfall

4 VM S. 57

5 VM S. 58

6 VM S. 58

7 VM S. 65

des Bürgertums. Die Deutungskraft des Symbolischen ließe sich also allein an diesem Thema unendlich vielfältig veranschaulichen. Daß „das Prinzip des Symbolischen“

für Cassirer auch im Sinne einer conditio humana zu verstehen ist, könnte man an zwei Aspekten darstellen:

Das Symbolische als anthropologische Interpretation: Unter Berufung auf den Biologen Uexküll erleichtert sich Cassirer die Antwort auf die Frage, wie denn das Symboli-sche die Beziehung zwiSymboli-schen Ich und Welt konstituiert. Denn das ist es, was ihn als Kulturphilosophen am Symbolischen prinzipiell interessiert.8 Uexküll ist, wie er selbst auch, davon überzeugt, daß Lebewesen nur entsprechend ihrem Erfahrungs-vermögen in der Welt aktiv werden können. Organismen verfügen über ein „Merk-netz“, so nennt Uexküll die Fähigkeit, Eindrücke aufzunehmen, und sie verfügen über ein „Wirknetz“, das Reaktionen zeitigt. Das „Merknetz“ und das „Wirknetz“

der Spezies bilden aber nicht etwa getrennte Sphären, sondern einen für das Überle-ben notwendigen, aufeinander abgestimmten ganzheitlichen Bedingungszusammen-hang, den für jede Spezies eigentümlichen sogenannten „Funktionskreis“. Die Funk-tionskreise der Spezies sind inkommensurabel. In der Welt der Fliegen gibt es nur Fliegen-Dinge, in der Welt der Pferde nur Pferde-Dinge. Nach dieser Logik existieren Menschen in „Kulturdingen“ und können niemals wirklich wissen wie es ist, bei-spielsweise eine Fledermaus zu sein.

Cassirer sieht nun unter Berufung auf Uexküll das menschliche „Funktionsnetz“ in seiner Eigenart genetisch und qualitativ von dem der Tiere verschieden. Denn Men-schen reagieren nicht allein aufgrund unmittelbarer Wahrnehmung, und sie sind nicht an einfache Zeichen gebunden, wie etwa Tiere. Menschen ist eine andere Di-mension der Wirklichkeit möglich: das Symbolische. Menschen sind nämlich in der Lage, ihre Eindrücke ganz verschiedenartig zum Ausdruck zu bringen. Alle Menschen können beispielsweise Freude oder Wut mimisch, sprachlich, schriftlich, sie können sie auch durch ein Bild zum Ausdruck bringen. Die Formen ihrer Lebendigkeit kön-nen Menschen also, im Gegensatz zu Tieren, symbolisch zum Ausdruck bringen.

Aber zur Freude oder zur Wut können sich Menschen sowohl individuell wie kultu-rell durch völlig verschiedene Eindrücke veranlaßt sehen. Anlässe zur Freude oder Wut und auch ihre Ausdrucksformen sind also zwischen Menschen nicht

8 WWS S. 208

frei zu identifizieren, nachzuvollziehen oder gar teilbar. Denn Geist, Sinne und Kör-per eines jeden Individuums konstituieren eine einzigartige „symbolische Phantasie und eine symbolische Intelligenz“9.

D.h.: Jedes menschliche Individuum ist ein symbolisches Wesen. Es benötigt die Symbolwelt der Kultur, die der symbolischen Phantasie und der symbolischen Intel-ligenz Halt vorgibt in Gestalt recht eindrücklicher Deutungen. Cassirer bestreitet nun nicht, daß das Individuum immer in der Gefahr lebt, mit der ihm eigenen symboli-schen Deutungskraft einerseits und anderseits in der Pluralität, und damit meint er eine Indifferenz individueller und kultureller Interpretationen der „Wirklichkeit“, sich nicht selbst zu finden, sondern vielmehr sich selbst zu verlieren. Denn: „So sehr hat er (der Mensch S.W.) sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, my-thischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erken-nen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklich-keit schöbe. Dabei ist in der theoretischen Sphäre die Situation für ihn die gleiche wie in der praktischen. Auch hier lebt er nicht in einer Welt harter Tatsachen und verfolgt nicht unmittelbar seine Bedürfnisse oder Wünsche, sondern vielmehr inmitten ima-ginärer Emotionen, in Hoffnungen und Ängsten, in Täuschungen und Enttäuschun-gen, in seinen Phantasien und Träumen.“10 Und „der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen.

Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren.“11

Das Symbolische als Selbstdeutung: „Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt. Hier gibt es ursprüng-lich weder ein Innen und Außen, noch ein Vorher oder Nachher, ein Wirkendes oder ein Bewirktes; hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sondern die primär ein sinnerfülltes Ganzes ist, das sich selbst interpretiert.“12 Was heißt das? Oder anders gefragt: Was braucht ein leib-seelisches Ganzes, um primär ein „sinnerfülltes Ganzes“ zu sein, das sich selbst interpretiert? Wohl keinen vollkommenen Körper, keinen vollkommenen Geist,

9 VM S. 60, Hervorh. E.C.

10 VM S. 50

11 VM S. 50

12 PsF III S. 117, Hervorh. E.C.; S.W.

ne Erfolgsbiographie. Denn kein Mensch bleibt „beim Aufbau seiner Welt ... von der Beschaffenheit des Materials abhängig ..., das ihm seine Sinne liefern“13 wie Cassirer nicht müde wird, am Beispiel der blinden Helen Keller zu beweisen. Dafür aber ist er angewiesen auf das Du, auf die Einbindung in die sozial-kulturelle Welt.

Selbstinterpretation geschieht im „Symbolnetz“14 sozialer Erfahrungen. Selbstinterpre-tation besagt, daß der Mensch als „animal symbolicum“ eben nicht unbehelligt in der Fülle der äußeren Eindrücke als Individuum aufgehen kann, sondern daß er sich erst in der Sozialität leib-seelisch als ein solches erfährt und interpretiert15. Oder anders:

Daß er sein Denken, Fühlen und Handeln in der Komplementarität von Ich und Du erfährt und interpretiert. Selbstinterpretation als „Musterbild“ allen symbolischen Formens und mithin als Ursprung kulturellen Schaffens, wird nach diesem Ver-ständnis in keiner menschlichen Gemeinschaft allein dem Individuum überlassen.

Selbstinterpretation ist vielmehr Gegenstand von Erziehung, Bildung und auch Aus-bildung. Ein Selbst wäre nach Cassirer insofern ein leibhaftiges Symbol sowohl für individuelle „formgebende“ Kompetenzen, wie auch für die Eigenart einer zeitge-nössischen Kulturwelt, wie auch für das Schicksal seiner Herkunft, seiner Chancen usw. „Dem individuellen Sein und dem individuellen Tun ... eine selbständige Be-deutung und einen selbständigen Wert“16 zu vermitteln, ist daher nicht eine Frage, die sich in erster Linie der Kulturphilosophie stellt, wie Cassirer meint, sondern be-stenfalls deren Anspruch an die Pädagogik.

Fassen wir zusammen. Das Symbolische, als die Weise, wie das Kulturwesen Mensch sein Dasein erfährt und organisiert, ist nicht an Eindeutigkeit, sondern an Vieldeu-tigkeit orientiert. Es stellt Bezüglichkeit her. D.h., nichts ist in seiner Wirklichkeit so, daß es nicht auch irgendwie anders sein könnte. Es kann also immer Gründe zur Hoffnung und solche zur Resignation geben. Denn im symbolischen Universum gibt es nach Cassirer keine letztgültige Gewißheit.

13 VM S. 63

14 VM S. 50

15 EBK S. 247

16 EBK S. 245